Gericht | VG Cottbus 3. Kammer | Entscheidungsdatum | 23.04.2021 | |
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Aktenzeichen | 3 K 2514/17.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2021:0423.3K2514.17.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Der 1987 geborene Kläger, nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger, dem Volk der Paschtunen und der sunnitischen Religion zugehörig, reiste im Januar 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte 12. März 2015 einen Asylantrag.
In seiner Anhörung vor dem Bundesamt gab er an, er stamme aus der Provinz Laghman, habe die Schule bis zur 3. Klasse besucht und acht Jahre als Fahrer bei einer privaten Transportfirma gearbeitet. Zuvor habe er „bis zur Karzai-Zeit“ Waren für die Amerikaner transportiert. Damit seien die Taliban nicht einverstanden gewesen, weshalb sie ihn aufgefordert hätten, damit aufzuhören. Das habe er nicht getan. Eines nachts seien zwölf Taliban zu ihm nach Hause gekommen, hätten das Haus durchsucht und nach ihm gefragt. Sie hätten seiner Familie gesagt, er solle sich zu ihnen begeben, sonst würden sie das Haus anzünden. Er sei daraufhin zusammen mit seiner Familie nach Kabul gegangen, wo er die letzten drei Jahre vor Ausreise gelebt habe. Er habe aber weiterhin in Laghman gearbeitet. In dieser Zeit sei ihm nichts zugestoßen. Nach seiner Ausreise habe er in der Türkei Brot gebacken. Seine Eltern sowie seine Frau und Kinder lebten in Kabul, zudem verfüge er in Afghanistan noch über zwei Onkel, eine Tante und einen Bruder.
Mit Bescheid vom 11. September 2017 lehnte das Bundesamt die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten (Ziffer 2), die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1) und auf subsidiären Schutz (Ziffer 3) ab und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vorliegen (Ziffer 4). Es forderte den Kläger auf, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen und drohte ihm bei nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung nach Afghanistan an (Ziffer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe keinen zusammenhängenden, in sich stimmigen Sachverhalt mit Angaben genauer Einzelheiten geschildert. Er habe vor seiner Ausreise drei Jahre in Kabul leben können, ohne dass ihm etwas zugestoßen sei. Es drohe ihm daher keine landesweite Verfolgung durch die Taliban, zumal sich ohnehin nicht erschließe, warum die Taliban ihn etwa neun Jahre nach Beendigung der Tätigkeit für die Amerikaner aufsuchen sollten. Ein ernsthafter Schaden drohe ihm nicht. Auch ein Abschiebungsverbot bestünde nicht, weil davon auszugehen sei, dass der Kläger als gesunder Mann auch ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt sein Existenzminimum finanzieren könne.
Mit seiner am 25. September 2017 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er trägt vor, zunächst als Bus- und Taxifahrer gearbeitet und ab etwa 2010 als Lastwarenfahrer für die Amerikaner Waren transportiert zu haben. Seine Familie habe weiter in Laghman gelebt, während er zwischen Laghman und Kabul gependelt sei. 2010 seien die Taliban zum Haus der Mutter gekommen und hätten ihr gesagt, er solle aufhören, für die Amerikaner zu arbeiten. Beim zweiten Erscheinen hätten sie gedroht, die gesamte Familie umzubringen und ein weiteres Mal sei das Haus nachts nach ihm durchsucht und weitere Drohungen ausgesprochen worden. Während einer Fahrt sei sein Wagen von Raketenbeschuss der Taliban getroffen und völlig zerstört worden; ihm sei es gelungen, aus dem Wagen zu springen. Sein Vater sei von den Taliban erschossen worden.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. September 2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen,
hilfsweise, ihm subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen,
hilfsweise, ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans festzustellen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich auf die angefochtene Entscheidung.
In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht den Kläger informatorisch angehört. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift in der Gerichtsakte verwiesen.
Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Das Gericht konnte trotz des Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, da diese zum Termin ordnungsgemäß und unter Hinweis auf § 102 Abs. 2 VwGO geladen worden ist.
Die zulässige Klage hat keinen Erfolg. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nach § 3 AsylG noch des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG. Es liegen auch keine Gründe vor, die die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistans rechtfertigen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 11. September 2017 ist auch hinsichtlich der Ausreiseaufforderung, der Abschiebungsandrohung und der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird hierfür in vollem Umfang auf die Gründe des angefochtenen Bescheids Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend gilt Folgendes:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, 4 AsylG.
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in § 3c Nr. 1 und 2 AsylG genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
Es ist Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich eine Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form vorzutragen (§ 25 Abs. 1 Satz 1 AsylG), wobei von ihm grundsätzlich zu erwarten ist, dass er die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und der Furcht vor einer Rückkehr ausreichend substantiiert, detailreich und widerspruchsfrei vorträgt. Er muss unter Angabe von Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus welchem sich – als wahr unterstellt – ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. März 1987 – 9 C 321/85 – juris). Hierzu gehört eine Schilderung der in seine Sphäre fallenden Ereignisse, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober 1989 – 9 B 405/89 – juris).
Das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit – des behaupteten individuellen Schicksals des Asylsuchenden und von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung gewinnen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Juli 1989 – 9 B 239/89 – juris). Hierbei ist allerdings der sachtypische Beweisnotstand hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerstaat angemessen zu berücksichtigen und deshalb den glaubhaften Erklärungen des Asylsuchenden größere Bedeutung beizumessen, als dies sonst in der Prozesspraxis bei Parteibekundungen der Fall ist (BVerwG, Beschluss vom 29. November 1996 – 9 B 293/96 – juris Rn. 2). Das Gericht darf dabei berücksichtigen, dass die Befragung von Asylbewerbern aus anderen Kulturkreisen mit erheblichen Problemen verbunden ist (ebd., Rn. 4). An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert (vgl. VG Kassel, Urteil vom 8. August 2019 – 7 K 1442/17.KS.A – juris Rn. 42).
Hiervon ausgehend hat der Kläger ein individuelles Schicksal, das seine Vorverfolgung belegt, nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Das Gericht ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung nicht davon überzeugt, dass er in seinem Heimatland bereits Verfolgungsmaßnahmen erlitten hat und mit dem Tod bedroht wurde sowie im Falle seiner Rückkehr hiervon erneut bedroht wäre. Seine Schilderungen weisen erhebliche Widersprüche, insbesondere hinsichtlich der zeitlichen Abfolge der Geschehnisse auf. Schon seine Angaben gegenüber dem Bundesamt gaben Anlass zu Nachfragen, die er nicht sinnergebend zu beantworten vermochte. So schilderte er zu den Gründen seiner Ausreise aus Afghanistan, er habe Waren für die Amerikaner transportiert, womit die Taliban nicht einverstanden gewesen seien, weshalb sie zu ihm nach Hause gekommen seien. Dies müsse gewesen sein, als der Präsident an die Macht kam. Daraufhin sei er mit seiner Familie nach Kabul gegangen. Dort habe er bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan drei Jahre gelebt. Ausgehend davon, dass der Kläger 2014 Afghanistan verlassen hat und drei Jahre zuvor in Kabul gelebt hat, müsste die Taliban ihn im Jahr 2011 aufgesucht haben. Diese Angabe ist indes mit den allgemein verfügbaren Informationen nicht in Einklang zu bringen, weil im Jahr 2011 kein „Machtwechsel“ stattfand. Der ehemalige Präsident Afghanistans, Hamid Karzai, bekleidete von 2001 bis 2014 das Amt. Auch soweit der Kläger in seiner Anhörung sodann angab, er sei „bis zur Karzai-Zeit“ für die Amerikaner tätig gewesen und habe, „als der neue Präsident an die Macht kam“, zwar weiter als Fahrer, aber nicht mehr für die Amerikaner gearbeitet, lässt sich die Unstimmigkeit nicht auflösen. Zwar spricht viel dafür, der Kläger habe nicht bis zum Jahr 2011, sondern bis 2001 Waren für die Amerikaner transportiert. Ein solches Verständnis stünde zwar im Einklang mit der Schilderung, die Taliban hätten ihn aufgesucht, „als der Präsident an die Macht kam“. Es ergibt dann aber wiederum keinen Sinn, warum die Taliban den Kläger erst mehr als zehn Jahre, nachdem er die Tätigkeit für die Amerikaner aufgab, aufgesucht haben sollen. Zudem trug der Kläger mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 12. März 2018 vor, zunächst als Bus- und Taxifahrer gearbeitet und ab 2010 als Lastwarenfahrer Waren für die Amerikaner transportiert zu haben. Diese Tätigkeit habe er erst im Jahr 2012 aufgegeben, nachdem der Wagen des Klägers während einer Fahrt für diese durch eine Rakete der Taliban getroffen und völlig zerstört worden sei.
Dies zugrunde gelegt, ergibt sich ein weiterer Widerspruch auch daraus, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung schilderte, erst im Anschluss an den Vorfall für etwa drei Jahre als Kleinbus- und sodann etwa zwei Jahre als Taxifahrer tätig gewesen zu sein. In diesem Fall müsste sich der Beschuss des Fahrzeuges bzw. Konvois – da der Kläger 2014 aus Afghanistan ausgereist ist, er aber nach dem Beschuss des Fahrzeugs noch weitere fünf Jahre in Afghanistan gearbeitet haben will – ca. 2009 und nicht 2012 ereignet haben.
Der Kläger hat sich in zahlreiche Widersprüche verwickelt, die er nicht aufzulösen vermochte und die seine Glaubwürdigkeit nachhaltig erschüttern. Soweit die Prozessbevollmächtigte die Unstimmigkeiten seiner Angaben auf seine geringe Schuldbildung zurückführt, kann dem nicht gefolgt werden. Zwar stimmt das Gericht darin überein, dass der Kläger deshalb womöglich nicht in der Lage ist, Zeitpunkte und -räume auf den Monat genau zutreffend einzuschätzen und korrekt anzugeben. Allerdings ist davon auszugehen, dass ein erwachsener Mensch – der Kläger wurde 1987 geboren – fähig ist, berufliche Tätigkeiten zumindest chronologisch richtig zu ordnen, zumal der Kläger diese nach eigenen Angaben jeweils mehrere Jahre ausübte. Auch besuchte er die Schule für drei Jahre und verfügt damit über eine rudimentäre Bildung, die ihn in die Lage versetzen sollte, Ziffern zu unterscheiden und ins Verhältnis setzen zu können.
Die durchgreifenden Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Klägers werden auch dadurch bestärkt, dass er unterschiedliche Ereignisse als fluchtauslösend bezeichnete. Während er in der mündlichen Verhandlung angab, der Raketenbeschuss des Konvois bzw. Fahrzeugs habe ihn zur Ausreise bewegt, schilderte er hiervon gegenüber dem Bundesamt nichts. Er erwähnte nur – und dies auch nur auf die Frage, ob er Nachweise zu seiner Tätigkeit für die Amerikaner vorlegen könne – die Taliban hätten sein Auto verbrannt.
Demgegenüber gab er in seiner Anhörung vor dem Bundesamt als fluchtauslösenden Grund an, die Taliban hätten ihn aufgefordert, mit der Tätigkeit für die Amerikaner aufzuhören. Er führte aus, eines nachts seien zwölf Taliban zu ihm nach Hause gekommen. Sie hätten nach ihm gefragt und der Familie ausgerichtet, er solle sich zu den Taliban begeben, sonst würden sie das Haus anzünden. In der mündlichen Verhandlung äußerte er auf die Frage, warum er Afghanistan verließ, hierzu nichts. Erst als seine Prozessbevollmächtigte zum Schluss der informatorischen Anhörung nach dem Vater fragte, der durch die Taliban getötet worden sei, schilderte der Kläger, dass die Taliban den Vater nachts aufgesucht, mitgenommen und getötet hätten. In diesem Zusammenhang fiel ihm quasi ein, dass die Taliban auch nach ihm gefragt hätten. Sie seien zweimal gekommen. Er glaube, sie seien wegen ihm dort gewesen. Auf die Frage, woraus er dies schließe, konnte er keine plausible Antwort geben. Er vergaß damit zu erwähnen, seiner Familie sei gesagt worden, er solle zu den Taliban kommen, sonst würde das Haus angezündet.
Neben dem Umstand, dass er unterschiedliche Ereignisse als fluchtauslösende Ursache benannte, stehen die Angaben darüber hinaus auch im Widerspruch zu seinen Ausführungen mit Schriftsatz vom 12. März 2018. Darin führte er konkret und detailliert aus, die Taliban seien dreimal gekommen. Beim ersten Mal hätten sie seiner Mutter gesagt, er solle aufhören, für die Amerikaner zu arbeiten. Beim zweiten Erscheinen hätten sie gedroht, die gesamte Familie umzubringen und ein weiteres Mal sei das Haus nachts nach dem Kläger durchsucht und weitere Drohungen ausgesprochen worden. All diese Einzelheiten schilderte er in der mündlichen Verhandlung – auch auf Nachfrage – nicht.
Nach alledem drängt sich der Eindruck auf, dass der Kläger kein von ihm selbst erlebtes, sondern ein frei erfundenes Geschehen schilderte.
Unabhängig vom Wahrheitsgehalt seiner Angaben ist eine zielgerichtete individuelle Verfolgung des Klägers auf Grundlage seiner Ausführungen in der mündlichen Verhandlung nicht beachtlich wahrscheinlich. Der Kläger antwortete auf die Frage des Gerichts, ob der Konvoi auch beschossen worden wäre, wenn er an dem Tag nicht mitgefahren wäre, es habe viele solcher Angriffe gegeben. Er sei an dem Tag im Dienst gewesen, dann sei geschossen worden. Damit hat er einen ihn betreffenden Angriff nicht vorgetragen. Zwar mögen die Amerikaner oder das Unternehmen, in dem der Kläger beschäftigt gewesen sei, im Visier der Taliban gestanden haben. Es ist aber nichts dafür ersichtlich, dass sie ein besonderes Interesse am Kläger gehabt hätten, zumal dieser angab, nicht zu wissen, welche Waren er für die Amerikaner transportierte.
Fehlt es danach an einer einschlägigen Vorverfolgung, kann auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung durch die Taliban für den Fall der Rückkehr des Klägers nach Afghanistan nicht bejaht werden.
2. Auch der Hilfsantrag bleibt ohne Erfolg. Dem Kläger kommt ein Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG nicht zu. Er hat nicht glaubhaft machen können, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 AsylG droht.
a) Dass dem Kläger die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsylG droht, macht er selbst nicht geltend.
b) Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger Folter oder Bestrafung oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht. Eine Schlechtbehandlung oder Bestrafung im Sinne dieser Vorschrift kann vorliegen bei Maßnahmen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychologische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (vgl. VG München, Urteil vom 20. April 2017 – M 17 K 16.35674 – juris m.w.N.). Hinsichtlich der geltend gemachten Bedrohung durch die Taliban wird auf obige Ausführungen verwiesen.
Soweit er sich auf die Gefährdungen beruft, die sich aus den allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan ergeben, fehlt es für die Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus bereits an einem Verfolgungsakteur im Sinne des § 3c AsylG und des Art. 6 RL 2011/95/EU (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 11/19 – juris Rn. 11 ff.; Bayerischer VGH, Urteil vom 17. Juli 2018 – 20 B 17.31659 – juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11. April 2018 – A 11 S 924/17 – juris Rn. 69-75).
c) Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes auf der Grundlage des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG, wonach von einer Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen ist, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Beim Fehlen individueller gefahrerhöhender Umstände – wie hier – kann eine Individualisierung der Gefahr nur ausnahmsweise bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, was ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt voraussetzt (BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 19).
Rechtlich abzustellen ist auf Kabul, weil der Kläger sich drei Jahre vor seiner Ausreise dort mit dem Ziel niedergelassen hatte, dort auf unabsehbare Zeit zu leben (vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 11/19 – juris Rn. 16 ff., m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 13 f). Im Jahr 2019 dokumentierte UNAMA 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in Kabul-Stadt. Dies entspricht einem Rückgang von 16 % gegenüber 2018. Die Einwohnerzahl der Provinz wird auf 5.029.850 geschätzt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13. November 2019, letzte Information eingefügt am 29. Juni 2020, S. 40 ff.). Hiervon ausgehend errechnet sich ein Gefahrengrad von 0,031 % (1:3.218). Das Niveau willkürlicher Gewalt rechtfertigt nicht die Annahme, dass ein Rückkehrer dem tatsächlichen Risiko eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist. Auch unter Berücksichtigung einer hohen Dunkelziffer würde die vom Bundesverwaltungsgericht als bei weitem nicht ausreichend erachtete Schwelle von 1:800 (0,125 %) nicht erreicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 – 10 C 13/10 – juris Rn. 22-23). Bei einer Verdreifachung der Opferzahlen auf 4.689 errechnet sich etwa ein Gefahrengrad von 1:1.073 (0,09 %).
Auch soweit man die Lage in ganz Afghanistan in den Blick nimmt, ergibt sich nichts Gegenteiliges. Im Jahr 2019 wurden insgesamt 10.392 zivile Opfer erfasst (3.403 Tote und 6.989 Verletzte). In der Zeit zwischen dem 1. Januar und dem 30. September 2020 waren es insgesamt 5.939 zivile Opfer (2.117 Tote und 3.822 Verletzte; UNAMA, Afghanistan, Protection of Civilians in armed Conflict, Jahresbericht 2019, Februar 2020, S. 5; UNAMA, Protection of Civilians in armed Conflict, Third Quarter Report: 1 January – 30 September 2020, released October 2020, S. 1). Bei einer konservativ geschätzten Einwohnerzahl Afghanistans von 27 Millionen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 16. Juli 2020, Stand: Juni 2020, S. 17) ergibt sich lediglich ein Opferrisiko von 1:2.598 für das Jahr 2019 und von 1:3.410 für das Jahr 2020, welches jeweils weit von der Schwelle zur beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines drohenden Schadens entfernt ist.
Neben der rein quantitativen Ermittlung des Risikos, in der Rückkehrprovinz verletzt oder getötet zu werden, ist grundsätzlich auch eine wertende Gesamtbetrachtung des statistischen Materials mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen bei der Zivilbevölkerung erforderlich. Kommen die angestellten Berechnungen aber zu dem Ergebnis, dass das ermittelte Risiko weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt ist, kann sich das Unterbleiben einer wertenden Gesamtbetrachtung im Ergebnis nicht auswirken. Zudem ist die wertende Gesamtbetrachtung erst auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung der Gefahrendichte möglich (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Februar 2014 – 10 C 6.13 – juris Rn. 24; Urteil vom 17. November 2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 24; VG Kassel, Urteil vom 8. August 2019 – 7 K 1442/17.KS.A – juris Rn. 64). Der Kläger befindet sich individuell nicht in einer erhöhten Gefährdungslage.
3. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots. Es sind weder die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG noch die des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt.
a) In Bezug auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK kommt insoweit nur eine allgemeine Gefahr aufgrund der schlechten Versorgungslage in Afghanistan in Betracht.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wegen der Unvereinbarkeit mit Art. 3 EMRK insbesondere dann der Fall, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung der ernsthaften Gefahr der Todesstrafe, der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre (vgl. EGMR, Urteil vom 23. März 2016, F.G. gegen Schweden, Nr. 43611/11, Rn. 10; Urteil vom 28. Juni 2011, Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 u.a., Rn. 212).
Für die Beantwortung der Frage, ob dem Asylbewerber im Falle einer Abschiebung tatsächlich die Gefahr droht, einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden, sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen, wobei in erster Linie die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen sind (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – BVerwG 10 C 15/12 – juris Rn. 26, 38).
Die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kann sich zum einen wiederum aus individuellen Umständen in einer Person des Ausländers ergeben. Zum anderen kann sie aber auch in besonderen Ausnahmefällen aus der allgemeinen Sicherheits- und humanitären Lage im Abschiebezielstaat resultieren, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung zwingend sind. Für die Annahme einer solchen extremen Gefahrenlage ist erforderlich, dass die drohenden Gefahren nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sind, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen (st. Rspr., vgl. nur BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 23 ff. m.w.N.).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das Gericht davon überzeugt, dass dem Kläger in seinem besonderen Einzelfall nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund einer außergewöhnlichen Sicherheits- und humanitären Lage die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Afghanistan sowie insbesondere in der Stadt Kabul als Ankunftsort (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 16. Juli 2020 in der Fassung vom 14. Januar 2021, Stand: Juni 2020, S. 25) droht.
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Im Jahr 2019 belegte Afghanistan lediglich Platz 170 von 189 des Human Development Indexes (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 16. Juli 2020, Stand: Juni 2020, S. 26). Die Rahmenbedingungen sind insbesondere für Rückkehrer in Bezug auf den Zugang zu Arbeit, Wasser und einer Gesundheitsversorgung extrem schlecht (vgl. hierzu im Einzelnen: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 205 ff. [Lebensverhältnisse landesweit]), 211 ff. [wirtschaftliche Lage], 261 ff. [Versorgungslage], 287 ff. [Migrationsbewegungen], 302 ff. [Sicherheitslage], 321 ff. [spezifische Gefahrenlage für Rückkehrer], 347 ff. [Unterstützung für Rückkehrer] und 361 ff. [Lebensverhältnisse in Kabul]).
Im Hinblick auf die weltweite Covid-19-Pandemie haben sich die Bedingungen in Afghanistan nochmals verschlechtert.
Zu Beginn der Pandemie wurde in Afghanistan ein Lockdown verhängt, mit dem die Mobilität, soziale und geschäftliche Aktivitäten sowie Regierungsdienste erheblich eingeschränkt worden sind (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13. November 2019, letzte Information eingefügt am 29. Juni 2020, S. 7). Unter anderem wurden alle Hotels, Parks, Sportstätten und andere öffentliche Plätze geschlossen (vgl. UNOCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, vom 24. Juni 2020, S. 1). Die Maßnahmen variierten dabei teilweise von Provinz zu Provinz (UNOCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report vom 22. Juli 2020, S. 1) und wurden teilweise missachtet bzw. nicht durchgesetzt (vgl. UNOCHA, Afghanistan C-19 Access Impediment Report 8.-30. Juni 2020 vom 01. Juli 2020, S. 1 und Afghanistan: Strategic Situation Report: COVID-19, No. 72 vom 31. August 2020, S. 3). Es gelten derzeit keine Ausgangssperren oder Reisebeschränkungen und der nationale und internationale Verkehr hat sich normalisiert (vgl. https://af.usembassy.gov/covid-19-information/, abgerufen am 21. Mai 2021; UNOCHA, Afghanistan: Strategic Situation Report: COVID-19, No. 89 vom 21. Januar 2021, S. 2 f.).
Die im Rahmen des Lockdowns verhängten Beschränkungen haben viele Afghanen in extreme wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht (vgl. UNOCHA, Afghanistan C-19 Access Impediment Report 8.-30. Juni 2020 vom 1. Juli 2020, S. 1). Die Arbeitsmöglichkeiten in städtischen Gebieten sind trotz des Wiederhochfahrens der Wirtschaft erheblich unter dem Niveau vor der Pandemie (vgl. Famine Early Warning Systems Network [FEWS], Afghanistan Food Security Outlook Update August 2020 vom 01. September 2020, S. 1; FEWS-Network, Afghanistan, Key Message Update, Purchasing power improves for pastoralists at the national level vom 01. Oktober 2020, S. 1 f.).
Die afghanische Wirtschaft ist um 5,5 % bis 7,5 % geschrumpft, was zu einer steigenden Arbeitslosigkeit geführt hat (vgl. Schwörer, Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Lage in Afghanistan, Gutachten vom 30. November 2020, S. 18). Laut Arbeitsministerium sollen aufgrund der Pandemie 2 Millionen Menschen arbeitslos geworden sein (BAMF, Briefing Notes vom 27. April 2020, S. 2). Die Lockerungen der Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Erkrankung im Mai 2020 haben zu einer Zunahme von Arbeitsmöglichkeiten geführt, dennoch bleiben die Möglichkeiten zur Aufnahme von Gelegenheitsarbeiten deutlich unterdurchschnittlich, in erster Linie aufgrund fehlender Nachfrage im Bau- und Produktionssektor (FEWS NET, Afghanistan: Food Security Outlook, June 2020 to January 2021, S. 1, 3). Die Erwerbsmöglichkeiten von Gelegenheitsarbeitern sind um 20 bis 21 % niedriger als im letzten Jahr und im Fünfjahresdurchschnitt. Obwohl die Verfügbarkeit höher ist als während des Höhepunkts der Covid-19-Beschränkungen im Mai 2020 (als nur durchschnittlich 1,4 Tage Arbeit pro Woche verfügbar waren), ist das aktuelle Niveau von etwa 1,7 Tagen pro Woche (bei einem Durchschnittsverdienst von 301 Afghani, ca. 3,89 USD/Tag) das zweitniedrigste seit Januar 2014. Zugleich sind die Löhne für Gelegenheitsarbeiter auf dem niedrigsten Stand der letzten vier Jahre. Im Januar 2021 waren die Löhne auf nationaler Ebene vier bis fünf Prozent niedriger als im Vierjahresdurchschnitt. Das Durchschnittsgehalt eines Gelegenheitsarbeiters im Januar 2021 würde gerade einmal dafür ausreichen, sich ein Drittel eines Monatspakets an Grundnahrungsmitteln zu Januarpreisen zu kaufen (vgl. FEWS NET, Afghanistan: Food Security Outlook, February to September 2021, S. 3). Bis September 2021 wird jedoch erwartet, dass eine steigende Wirtschaftsaktivität die Erwerbsmöglichkeiten für arme Haushalte verbessern wird (ebd., S. 1, 9).
Insgesamt stellt sich die Situation – gerade bezogen auf die Grundbedürfnisse (Unterkunft, Nahrung, Arbeit) – weiterhin als in gravierender Weise schlecht dar. Daran ändert auch das in der Zwischenzeit gestartete Covid-19-Hilfsprogramm der afghanischen Regierung nichts. Es richtet sich an Haushalte mit einem Einkommen von 2 USD pro Tag oder weniger und soll insgesamt 5.063.721 Haushalte – und damit etwa 90 % aller Haushalte – erreichen (vgl. FEWS, a.a.O., S. 6). Haushalte in ländlichen Gebieten erhalten in zwei Tranchen den Gegenwert von 50 USD an Grundnahrungsmitteln und Hygieneartikeln, während Haushalte in städtischen Gebieten eine Kombination aus Bargeld und Sachleistungen im Gegenwert von 100 USD erhalten.
Die auch schon vor der Covid-19-Pandemie angespannte medizinische Versorgungslage hat sich durch diese weiterhin verschärft. Es wird nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität von Kliniken und Krankenhäusern zur Behandlung von Patienten mit Covid-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichtet. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von Covid-19 (UNOCHA, Afghanistan, Strategic Situation Report: Covid-19, 21. Januar 2021, S. 1 f.)
Die Covid-19-Krise führte in der ersten Hälfte des Jahres 2020 zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise. Die Preise scheinen seit April 2020, nach Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, Durchsetzung von Anti-Preismanipulations-Regelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Lebensmittelimporte zwar wieder gesunken zu sein (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, Country of Origin Information, Stand: 16. Dezember 2020, S. 304), sie liegen aber für Grundnahrungsmittel wie Weizen, Weizenmehl, Bohnen, Zucker, Pflanzenöl weiterhin deutlich über dem Vorjahresniveau. Der durchschnittliche Weizenpreis und der Preis für Weizenmehl auf den afghanischen Märkten ist im Vergleich zum 14. März 2020 um 26 % bzw. 16 % gestiegen (vgl. hierzu und zum Folgenden World Food Programme, Afghanistan Countrywide Weekly Market Price Bulletin vom 03. März 2021). Die durchschnittlichen Preise für Pflanzenöl stiegen allein zwischen Dezember 2020 und Januar 2021 um 8 % und liegen insgesamt 34 % über dem Vierjahresdurchschnitt. Die Preise für gemischte Bohnen liegen etwa 17 bis 19 % höher als vor einem Jahr und im Vierjahresdurchschnitt. Im Gegensatz dazu blieben die Preise für Reis, das zweitwichtigste Grundnahrungsmittel, im Jahr 2020 größtenteils stabil, vor allem aufgrund der überdurchschnittlichen inländischen Produktion und der relativen stabilen Importe aus Pakistan (vgl. FEWS, Afghanistan Food Security Outlook February to September 2021, S. 3). Insgesamt lagen die Kosten für einen minimalen Nahrungsmittelkorb (bestehend aus importiertem Weizenmehl, lokalem Reis, Pflanzenöl, gemischten Bohnen und Zucker) im Januar 2021 um 17 % über dem Vierjahresdurchschnitt (ebd.).
Auch die Nahrungsmittelsicherheit hat sich nicht gebessert. Laut einem Bericht des FEWS-Network befindet sich im Februar 2021 der größte Teil Afghanistans in Stufe zwei „Stressed“ der Skala gemäß der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) (in Stufe Drei „Crisis“ befinden sich die Provinzen Badakhshan, Nuristan, Samangan, Ghor, Daikundi, Bamiyan, Ghazni, Wardak und Uruzgan sowie kleine Teile anderer Provinzen). Die IPC-Skala reicht von „Minimal“ über „Stressed“, „Crisis“ und „Emergency“ bis hin zu „Famine“. Die kumulierte Niederschlagsmenge der letzten Regenzeit (Oktober 2020 bis Februar 2021) sei deutlich unterdurchschnittlich gewesen, was zu Ernteausfällen führen könnte. In der Vorhersage für Februar bis September 2021 wird deswegen in fast ganz Afghanistan die Stufe drei erwartet, mit Ausnahme der Provinzen im Osten und Teilen der Mitte des Landes (Nangarhar, Kunar, Ghazni, Bamiyan, Wardak, Logar, Parwan, Kabul, Kapisa, Laghman und Panjshir). Hinzu kommt eine sinkende Kaufkraft von Gelegenheitsarbeitern und Viehhaltern. Viele Haushalte haben Kredite aufgenommen, um Nahrungsmittel kaufen zu können (vgl. zu den vorstehenden Angaben Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 15. März 2021; vgl. zu den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2020 – A 11 S 2042/20 – juris Rn. 41 ff.).
Für Rückkehrer ist die ohnehin bereits angespannte Lage nochmals schwieriger zu bewältigen, da ihnen häufig mit Misstrauen begegnet wird und ihnen gegebenenfalls eine notwendige Unterstützung durch ein soziales Netzwerk fehlt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13. November 2019, letzte Information eingefügt am 29. Juni 2020, S. 343 f.). Jedoch können Rückkehrer aus dem Westen – anders als die übrige Bevölkerung – von zusätzlichen Unterstützungsmaßnahmen profitieren. Im Rahmen des REAG/GARP-Programms, welches vom Bund und den Ländern finanziert wird, erhalten freiwillig nach Afghanistan zurückkehrende eine Starthilfe i.H.v. 1.000 Euro pro Erwachsenen. Hinzu kommen die Übernahme von Reisekosten und eine einmalige Reisebeihilfe i.H.v. 200 Euro (vgl. dazu Informationsblatt für die freiwillige Rückkehr mit REAG/GARP, abrufbar unter https://www.returningfromger-many.de/de/programmes/reag-garp). Nach sechs bis acht Monaten kann von der IOM ein weiterer Betrag i.H.v. 1.000 Euro nach dem Programm Starthilfe Plus ausgezahlt werden (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan). Angesichts der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie ist die finanzielle Unterstützung für alle Starthilfe Plus-Rückkehrer erhöht worden. Nunmehr kommen ergänzend eine Zusatzzahlung von 1.000 Euro innerhalb von acht Wochen nach der Ausreise (sog. Corona-Zusatzzahlung I) und eine weitere Corona-Zusatzzahlung von 500 Euro zu der zweiten Starthilfe Zahlung nach sechs bis acht Monate nach der Ausreise hinzu (StarthilfePlus). Neben den regulären Ausreiseleistungen der Programme REAG/GARP und Starthilfe Plus können rückkehrende Personen nach Afghanistan auch individuelle Reintegrationshilfen erhalten (ERRIN). Diese dient vorrangig dem Existenzaufbau und der Sicherung des Familieneinkommens. Die Hilfen umfassen einen Zeitraum von bis zu zwölf Monaten nach der Ankunft. Inbegriffen ist z.B. Service bei der Ankunft, Beratung und Begleitung zu behördlichen, medizinischen und karitativen Einrichtungen, berufliche Qualifizierungsmaßnahmen und Arbeitsplatzsuche sowie Unterstützung bei einer Geschäftsgründung. Die Unterstützung wird über eine vor Ort tätige Partnerorganisation weitgehend als Sachleistung gewährt (vgl. zu den ERRIN-Programmen die Informationen auf www.returningfromgermany.de).
Die Situation vor Beginn der Covid-19-Pandemie zugrunde gelegt, wurde in der Rechtsprechung angenommen, dass im Falle leistungsfähiger erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtung für diese auch ohne bestehendes familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK nicht erfüllt sind, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden können (vgl. zur oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juni 2019 – A 11 S 2108/18 – juris Rn. 108; Urteil vom 12. Dezember 2018 – A 11 S 1923/17 – juris Rn. 191 ff.; OVG Bremen, Urteil vom 12. Februar 2020 – 1 LB 276/19 – juris Rn. 55 ff.; Bayerischer VGH, Urteil vom 06. Februar 2020 – 13a B 19.33510 – juris Rn. 17 ff. und Urteil vom 28. November 2019 – 13a B 19.33361 – juris Rn. 17 ff.; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22. Januar 2020 – 13 A 11356/19 – juris Rn. 68; Hessischer VGH, Urteil vom 23. August 2019 – 7 A 2750/15.A – juris Rn. 149 f.; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. Juni 2019 – 13 A 3930/18.A – juris Rn. 198 ff.; Sächsisches OVG, Urteil vom 18. März 2019 – 1 A 348/18.A – juris Rn. 68 ff.; OVG Niedersachsen, Urteil vom 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 55 f.).
Bei Gesamtwürdigung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel stellt sich zur Überzeugung des Gerichts die Lage derzeit für aus dem westlichen Ausland zurückkehrende Personen so dar, dass die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auch derzeit nicht für jeden jungen, gesunden und erwerbsfähigen Mann erfüllt sind. Angesichts der durch die Covid-19-Pandemie verursachten Verschlechterung der Umstände bedarf es aber einer besonders sorgfältigen Prüfung im Einzelfall, ob der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan ausreichend leistungsstark, belastbar und durchsetzungsfähig wäre, um seine Existenz zu sichern oder ob aus anderen Gründen sein Überleben hinreichend wahrscheinlich ist, z.B. da er Aufnahme und Versorgung in einem familiären Netzwerk verfügt oder über hinreichende finanzielle Mittel verfügt (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 24. November 2020 – 1 LB 351/20 - juris Rn. 28 ff. und Urteil vom 22. September 2020 – 1 LB 258/20 – juris Rn. 41 ff.; Urteil vom 30. November 2020 – 13 A 11421/19 – juris Rn. 136; jüngst auch VG Bremen, Urteil vom 12. März 2021 – 3 K 341/17 – juris Rn. 31; VG Dresden, Urteil vom 03. März 2021 – 11 K 5756/17.A – juris Rn. 45; VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 26. Februar 2021 – 1 A 53/19 – juris Rn. 34; anders: Bayerischer VGH, Urteil vom 01. Oktober 2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 43 ff.; Urteil vom 26. Oktober 2020 – 13a B 20.31087 – juris Rn. 42 ff.; der weiterhin daran festhält, dass für alleinstehende männliche, arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige im Allgemeinen nicht die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben sind; ähnlich VG Düsseldorf, Urteil vom 09. März 2021 – 25 K 1234/19.A – juris Rn. 256 unter Verweis auf EASO, Country Guidance: Afghanistan, Dezember 2020, S. 41 ff.).
Ausgehend von der geschilderten Situation in Afghanistan ist bei dem Kläger bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände, insbesondere auch der durch die Covid-19-Pandemie verursachten Verschlechterungen der Lebensbedingungen, nach Überzeugung des Gerichts nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer Situation ausgesetzt wäre, bei denen zwingende humanitäre Gründe gegen eine solche Abschiebung sprechen würden.
Diese Einschätzung beruht auf folgende Erwägungen: Bei dem Kläger handelt es sich um einen gesunden, jungen Mann im erwerbsfähigen Alter. Nach seinen Angaben hat er in Afghanistan drei Jahre die Schule besucht, spricht beide Landessprachen und ist mit dem afghanischen Arbeitsmarkt sowie den dortigen Sitten vertraut; er verfügt über mehrjährige Berufserfahrungen als (Taxi- und Klein-) Busfahrer. Er hat Afghanistan erst als junger Erwachsener im Alter von 27 Jahren verlassen. In der Türkei hat er Brot gebacken. Im Bundesgebiet hat er sich integriert, spricht nach eigenen Angaben etwas Deutsch und hat weitere praktische Erfahrungen, u.a. in einer Pizzeria, auf dem Bau und in einem Fahrradgeschäft gesammelt. Seit zwei Jahren ist er in der Gemeinschaftsunterkunft, in der er lebt, beschäftigt und verrichtet dort unterschiedliche Tätigkeiten. Seine vielseitigen Erfahrungen verdeutlichen, dass der Kläger anpassungsfähig, flexibel und über ein besonderes Geschick darin verfügt, eine Arbeitsstelle zu finden. Das Gericht hat den Eindruck gewonnen, dass es dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gelingen wird, sein Leben in Afghanistan derart zu organisieren und sich durchzusetzen, dass er seinen Unterhalt bestreiten kann.
Ob über das Kriterium der Durchsetzungsstärke hinaus davon auszugehen ist, dass die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG derzeit regelmäßig erfüllt sind, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan kein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2020 – A 11 S 2042/20 – juris Leitsatz 1 und Rn. 104 ff.), kann vorliegend dahinstehen. Auch danach kann die auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG gerichtete Klage eines leistungsfähigen, erwachsenen, afghanischen Mannes nur dann Erfolg haben, wenn zur Überzeugung des Gerichts feststeht, dass in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. So liegt der Fall hier aber nicht, weil der Kläger vorliegend über ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres Netzwerk verfügt. Er hat ausgeführt, dass neben seiner Mutter, seiner Frau und Kindern (siehe hierzu unten) zumindest zwei als Maler tätige Onkel in Kabul lebten; ein weiterer Onkel lebe in Jalalabad. Zudem verfügt er über zwei Cousins, die in der Provinz Kabul als Bauarbeiter beschäftigt seien. Es ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen seine Verwandten (und deren weiteres soziales und familiäres Netzwerk) ihm bei bzw. nach der Rückkehr nicht – insbesondere bei der Arbeitssuche – behilflich sein könnten.
Aber auch dann, wenn der Kläger vorliegend nicht als alleinstehend zu betrachten ist, sondern seine in Afghanistan lebende Frau und seine Kinder zu berücksichtigen wären, führt dies zu keiner anderen Prognose. Einerseits lässt sich dem Wortlaut des § 60 Abs. 5 AufenthG („darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich… ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist“) unmittelbar entnehmen, dass Anknüpfungspunkt die Abschiebung des jeweiligen Ausländers ist, damit lediglich auf die abzuschiebende Person abzustellen ist und im Heimatland verbliebene Familienmitglieder insoweit grundsätzlich außer Betracht bleiben (so OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Februar 2021 – OVG 12 N 209/20 – S. 4 d. Entscheidungsabdrucks, n.v., unter Verweis auf den Beschluss vom 23. Januar 2020 – OVG 12 N 233.18 –; Bayerischer VGH, Beschluss vom 11. Februar 2019 – 13a ZB 17.31160 – juris Rn. 8; vgl. auch VG Augsburg, Urteil vom 12. März 2018 – Au 5 K 17.31752 – juris Rn. 40 und Urteil vom 21. August 2018 – Au 5 K 17.32123 – juris Rn. 34; VG Leipzig, Urteil vom 23. März 2018 – 1 K 1148/16.A – juris Rn. 43). Dementsprechend wären im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG bei der Rückkehrprognose etwaige Unterhaltspflichten grundsätzlich nur berücksichtigungsfähig, soweit es mit dem Unterhaltspflichtigen eingereiste Familienmitglieder betrifft (vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 11. Februar 2019 – 13a ZB 17.31160 – juris Rn. 9 m.w.N.).
Andererseits ist im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG eine zwar notwendig hypothetische, aber doch realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen (BVerwG, Urteil vom 04. Juli 2019 – 1 C 45/18 – juris Rn. 16 m.w.N.). Unterliegt der betreffende Asylbewerber Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Angehörigen der Kernfamilie, spricht daher Einiges dafür, dies bei der Prognose, ob eine tatsächliche Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenthG besteht, zu berücksichtigen (so VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07. Mai 2020 – A 11 S 2277/19 – juris Rn. 11; Urteil vom 16. Oktober 2017 – A 11 S 512/17 – juris Rn. 301; Urteil der Kammer vom 22. September 2020 – 3 K 1489/16.A – S. 21 ff. d. Entscheidungsabdrucks). Hiernach spielen bei der vorzunehmenden Gefahrenprognose der tatsächliche Unterhaltsbedarf der Familienangehörigen, das Vorhandensein von Vermögen, die bisherige Form der Bedarfsdeckung sowie die Bereitschaft Dritter (insbesondere naher Familienangehöriger), erforderlichenfalls zur Bedarfsdeckung beizutragen, eine wichtige Rolle (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07. Mai 2020, a.a.O., Rn. 12). Hiervon ausgehend ist anzunehmen, dass bei einer Rückkehr des Klägers der nötigste Lebensunterhalt für ihn und seine Familie gesichert werden kann, sodass die hier aufgeworfene Frage der Berücksichtigung der in Afghanistan lebenden Kernfamilie nicht entschieden werden muss.
In der mündlichen Verhandlung hat er berichtet, in Afghanistan lebten seine Mutter, Frau und Kinder gemeinsam in einem Haus in Kabul. Er unterstütze sie finanziell. Er habe sechs Kinder. Von den drei Töchtern seien zwei bereits verheiratet und ausgezogen. Im Haus wohnten daher nur noch eine Tochter sowie seine drei Söhne, die 20, 14 und 15 Jahre alt sind. Ausgehend davon, dass die Unterhaltslasten im Rahmen der Gesamtabwägung bei der Rückkehrprognose zu berücksichtigen sind, wären ohnehin nur die minderjährigen Kinder und die Ehefrau des Klägers als Kernfamilie einzustellen. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger sich auch nach seiner Rückkehr auf dem afghanischen Tagelöhnermarkt derart durchsetzen können wird, um für sich und seine Familie Unterkunft, Ernährung, Kleidung, Hygiene und medizinische Versorgung auf bescheidendem Niveau zu gewährleisten. Zu beachten ist insoweit vor allem, dass im Heimatland eine familiäre Versorgungsstruktur nebst Unterkunft und damit eine Lebensgrundlage bereits besteht, in die der Kläger zurückkehren kann, ohne sich und seiner Familie unter besonderen Schwierigkeiten eine wirtschaftliche Existenz gänzlich neu schaffen zu müssen.
Es ist daher anzunehmen, dass der Kläger in das Haus der Familie ziehen kann, sodass ihm unmittelbar bei Rückkehr eine Unterkunft zur Verfügung steht. Ferner ist davon auszugehen, dass der ebenso im Haus lebende Bruder des Klägers – wie auch derzeit – die Familie weiterhin unterstützen wird. Zudem können die drei 20, 15 und 14 Jahre alten Söhne des Klägers zum Unterhalt der Familie beitragen. Der Kläger berichtete in der mündlichen Verhandlung, der älteste Sohn arbeite in einer Schneiderei, seine beiden jüngeren Söhne besuchten die Schule, einer von ihnen arbeite zudem.
b) Ein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG scheidet für den Kläger ebenfalls aus.
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG sind die Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde anordnen, dass die Abschiebung für längstens sechs Monate ausgesetzt wird. Eine Abschiebestopp-Anordnung besteht jedoch für die hier in Rede stehende Personengruppe nicht.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dies kann aus individuellen Gründen der Fall sein, kommt aber ausnahmsweise auch infolge einer allgemein unsicheren oder wirtschaftlich schlechten Lage im Zielstaat in Betracht. Eine solche Ausnahme können die im Zielstaat herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage darstellen, wenn bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage vorläge. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahr ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengeren Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit in dem Sinn drohen, dass er im Fall der Abschiebung sozusagen sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wäre. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren, wenn also z.B. der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert wäre. Von diesem Maßstab ausgehend bietet § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz als § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK. Liegen also die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante extreme Gefahrenlage aus (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 453). Die fraglos schlechten Lebensverhältnisse in Afghanistan begründen wie oben dargestellt bereits keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK und erfüllen damit erst recht nicht die höheren Voraussetzungen der extremen Gefahrenlage gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
4. Die Abschiebungsandrohung (Ziffer 5 des Bescheids) findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 34 Abs. 1, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG.
5. Gegen die Befristung des Einreise-und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG (Ziffer 6 des Bescheids) sind Einwände weder seitens des Klägers vorgetragen, noch sind für das Gericht nach eigener Prüfung Gründe dafür ersichtlich, dass die Befristung auf 30 Monate ermessensfehlerhaft sein könnte.
6. Die Kostenentscheidung ergeht nach § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.