Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 21. Senat | Entscheidungsdatum | 06.05.2021 | |
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Aktenzeichen | L 21 U 100/19 | ECLI | ECLI:DE:LSGBEBB:2021:0506.L21U100.19.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 45 SGB 1, § 44 SGB 7 |
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Streitig ist, ob die Klägerin Pflegegeld auch für die Zeit vor dem 1. Januar 2012 beanspruchen kann.
Die 1961 geborene Klägerin arbeitete seit 1992 als Kraftfahrerin im nationalen und internationalen Fernverkehr. Sie verunfallte am 5. Juni 2005, als ihr PkW, in welchem sie sich auf dem Rückweg von einer Pause befand, von einem anderen Pkw gerammt wurde.
Nach stationärer Behandlung der Klägerin in I vom 5. bis 10. Juni 2005, wurde sie nach ihrem Rücktransport noch bis 6. Juli 2005 im U B (U) und anschließend bis 30. August 2005 in der M Klinik H wegen der beim Unfall erlittenen vorderen Beckenringfraktur beidseits mit geringer Dislokation linksseitig, nicht dislozierter Os-sacrum-Fraktur links, multiplen Schnittwunden des rechten Ober- und Unterarms, einer Schnittwunde des rechten Fußes, einer Prellung des linken Oberschenkels sowie eines Schädel-Hirn-Traumas (SHT) mit retrograder Amnesie stationär behandelt. Sie wurde „nach Erreichen eines ausreichenden Mobilisierungsgrades“ arbeitsunfähig in die weitere ambulante durchgangsärztliche Behandlung entlassen.
Nachdem der Klägerin auf eigenen Wunsch zum 01. November 2005 Arbeitsfähigkeit bescheinigt worden war, kam es nach Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit als Kraftfahrerin zu einer massiven Verschlimmerung der Beschwerden, sodass der Arbeitsversuch nach kurzer Zeit abgebrochen werden musste. Der D-Arzt Dr. S attestierte erneute Arbeitsunfähigkeit ab dem 11. November 2005 und hielt im Zwischenbericht vom 14. November 2005 als klinischen Aufnahmebefund fest: „Gangbild humpelnd mit Hinterherziehen des linken Beines. Deutliche Zeichen der Instabilität mit positivem Verlaufsphänomen links… Deutliche Beeinträchtigung der axialen Leistung im Bereich des gesamten Beckenringes. Behinderung bei langem Stehen, langem Sitzen, langem Laufen. Durchblutung, Motorik und Sensibilität peripher intakt.“
Wegen deutlicher Beeinträchtigung der axialen Leistung im Bereich des gesamten Beckenringes wurde die Klägerin vom 2. bis zum 23. Dezember 2005 erneut im U aufgrund der Diagnosen „chronisches Schmerzsyndrom Beckenbereich bei vorderer Beckenringfraktur beidseits, in geringer Dislokation knöchern konsolidiert, nicht dislozierte OS-sacrum-Fraktur links“ physiotherapeutisch, krankengymnastisch und schmerztherapeutisch stationär behandelt (Zwischenberichte U vom 22. und 29. Dezember 2005). Anlässlich der Wiedervorstellung am 29. Dezember 2005 im U klagte die Klägerin unverändert über Schmerzen im Bereich des Sacrums, vor allem bei längerem Sitzen sowie nach längerem Laufen, sie betrat den Untersuchungsraum mit vorsichtigem, kleinschrittigem Gangbild.
Im Verlauf dieses Klinikaufenthaltes bat die Klägerin im Rahmen des Besuchsdienstes der Beklagten am Krankenbett um ein persönliches Beratungsgespräch mit dem zuständigen Berufshelfer, da sie nach Abschluss der Behandlung voraussichtlich nicht in der Lage sein werde, ihre bisherige Beschäftigung vollschichtig und wettbewerbsfähig auszuüben. Mit Schreiben vom 12. Januar 2006 nahm die Beklagte auf dieses Gespräch nochmals Bezug und kündigte gegenüber der Klägerin an, dass sich der zuständige Kollege mit ihr in Verbindung setzen und alle anstehenden Fragen erörtern werde; die Krankenkasse sei zur Auszahlung von Verletztengeld angewiesen worden.
Am 17. Januar 2006 erfolgte seitens des Berufshelfers der Beklagten ein Hausbesuch bei der Klägerin. Gesprächsinhalt waren die verbliebenen Unfallfolgen, die derzeitigen Behandlungen sowie berufsfördernde Leistungen. Hierbei zeigte sich die Klägerin damit einverstanden, für alle für sie infrage kommenden Tätigkeiten offen zu sein, auch wenn diese schlechter bezahlt würden. Angesichts der noch nicht verheilten Bruchspalten schätzte der Besuchsdienst ein, dass die Klägerin zur Zeit überhaupt nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe.
Mit Bescheid vom 3. Februar 2006 bestätigte die Beklagte der Klägerin unter Bezugnahme auf das Beratungsgespräch vom 17. Januar 2006, dass sie grundsätzlich bereit sei, nach Abschluss des medizinischen Heilverfahrens Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zur beruflichen Wiedereingliederung zu gewähren.
Die Computertomografie (CT) des Beckens vom 14. März 2006 zeigte eine vollständig konsolidierte Fraktur im Bereich des Os-sacrums links bei symmetrischer Weite der ISG beidseits, Ausbildung einer Pseudoarthrose im Bereich der ehemaligen Fraktur des oberen und unteren Schambeinastes rechts (Zwischenbericht Uvom 14. März 2006). Da durch die Behandlung keine Schmerzlinderung erreicht werden konnte, erfolgte während der stationären Behandlung der Klägerin im U vom 17. März bis zum 20. April 2006 nach anfänglich konservativer Therapie sodann eine Verschraubung des linken Iliosakralgelenkes (ISG-Arthrodese links, Zwischenberichte vom 14. März und 20. April 2006).
Die Beklagte sprach in einem Telefonat mit der Klägerin am 18. Mai 2006 über den Fortgang der Behandlung. Die Klägerin berichtete, dass sie ihre privaten Ansprüche gegen den Schädiger durchzusetzen möchte und ihr Anwalt beabsichtige, den Unfallbericht aus Italien beiziehen.
Am 8. Juni 2006 teilte die Klägerin der Beklagten telefonisch erneute Probleme mit der Verletztengeldzahlung mit.
Zu dem Telefonat mit der Klägerin am 16. Juni 2006 wurde folgender Aktenvermerk aufgenommen: „Die Angelegenheit wurde ausführlich mit Frau W. erörtert.“ Die Klägerin habe geäußert, schnellstmöglich eine „leistungsgerechte Beschäftigung aufnehmen“ zu wollen und zur Unterstützung um Einschaltung eines Vermittlungsdienstes gebeten. „Es wird daher telefonisch ein Überblick über das weitere Verfahren und Leistungsrecht (VG, Rente) gegeben. Eine ausführliche schriftliche Mitteilung folgt.“
Die Beklagte beauftragte daraufhin im Juni 2006 die p GmbH - „A für A“, B, mit der Einleitung von Vermittlungsbemühungen. Diese berichtete unter dem 28. Juni 2006, dass die Klägerin über ihre körperlichen Einschränkungen und Verletzungen berichtet und hinsichtlich einer beruflichen Tätigkeit einen außerordentlich motivierten Eindruck beim Beratungsgespräch gemacht habe. Im „Monatsbericht Juni 2006“ bezüglich der Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung der Klägerin wird angegeben, dass die Klägerin nach wie vor unter einem erheblichen Permanentschmerz im Beckenbereich leide, nicht schwer heben und tragen könne und daher auf jeden Fall eine Wechseltätigkeit zwischen Gehen und Sitzen benötige. Dennoch sei sie sehr interessiert an einer beruflichen Tätigkeit.
Die Beklagte gewährte der Klägerin zunächst bis zum 31. Juli 2006 Verletztengeld.
Nach ambulanter Untersuchung der Klägerin vom 01. August 2006 stellte Dr. S im Ersten Rentengutachten vom 25. August 2006 als verbliebene Unfallfolgen fest:
- knöchern konsolidierte vordere Beckenringfraktur beidseits mit geringer Asymmetrie des vorderen Beckenringes
- knöchern konsolidierte Fraktur des linken Kreuzbeines mit zwei Zugschrauben operativ versorgt
- schmerzhafte Bewegungsstörung, vorwiegend des linken Beckenringes/linke untere Extremität ohne sichere Instabilitätszeichen
- folgenlos ausgeheiltes Schädelhirntrauma 1. Grades
- folgenlos ausgeheilte Prellungen und Wunden an allen Extremitäten.
Unfallunabhängig bestehe eine geringe Spondylolisthesis L5/S1. Behandlungsabschluss sei am 31. Juli 2006. Die Klägerin erschien ohne Gehhilfen. Das Entkleiden der unteren Extremitäten sei durch die eingeschränkte Beweglichkeit und die Schmerzen im Becken-/Hüftgelenksbereich etwas schwierig gewesen. Relativ sicherer Einbeinstand beidseits, Hocke konnte zu etwa 50 % eingenommen werden mit Schmerzen im Beckenbereich, weiterhin deutlich eingeschränkte Beweglichkeit der LWS am Übergang zum Becken, Finger-Boden-Abstand 37 cm, eingeschränkte Beugung im linken Hüftgelenk. Ab dem 01. August 2006 bestehe eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 10 von Hundert (v. H.). Körperlich leichte und mittelschwere Tätigkeiten seien der Klägerin am besten in wechselnder Körperhaltung noch zumutbar.
Mit Bescheid vom 21. September 2006 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 05. Juni 2005 ab, da nach dem eingeholten Gutachten von Dr. S keine rentenberechtigende MdE in Höhe von wenigstens 20 v.H. vorliege. Hiergegen erhob die Klägerin keinen Widerspruch.
Mit Schreiben vorn 14. Dezember 2006 – und zuvor bereits telefonisch am 11. Dezember 2006 - bat die Klägerin um „Wiederaufnahme ihres Krankheitsverlaufs“, da sie noch immer unter starken Schmerzen leide und auch körperliche Defizite habe. Sie bat um eine neue Begutachtung, da das U ihre Beschwerden anders bewerte als Dr. S. Sie wolle mit Herrn Dr. S auch einen anderen Durchgangsarzt.
Vom 15. bis zum 19. Januar 2007 stellte sich die Klägerin zur stationären Heilverfahrenskontrolle in der Schmerzambulanz des Klinikums B in H vor. Die Ärzte (Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin Dr. S sowie der Psychologe Dr. U) stellten im Befundbericht vom 19. Januar 2007 eine beginnende Schmerzchronifizierung aufgrund der Unfallfolgen mit aktueller Verschlechterungstendenz fest und empfahlen eine interdisziplinäre stationäre Schmerztherapie. Die Klägerin gab - bezogen auf eine numerische Ratingskala von 0 = keine Beeinträchtigung bis 10 = maximale Beeinträchtigung - an, in der Selbstversorgung (waschen, anziehen, Autofahren ohne fremde Hilfe) im Bereich 8 und bei den lebensnotwendigen Tätigkeiten (Essen, Schlafen) im Bereich 6-7 beeinträchtigt zu sein. Sie lebe mit Ehepartner in häuslicher Gemeinschaft. Im psychischen Befundbericht vom 22. Januar 2007 gab Dr. U an, dass die Klägerin in ihrer Freizeit 2 Papageien versorge und sich mit Hausarbeit beschäftige. An diesen Tätigkeiten habe Sie weiterhin Interesse, es gehe jedoch aufgrund der Schmerzen alles langsamer. Zweimal wöchentlich gehe sie schwimmen.
Die stationäre schmerztherapeutische Behandlung wurde im Zeitraum vom 12. Februar 2007 bis zum 09. März 2007 im Klinikum B H durchgeführt. Im Befundbericht vom 13. März 2007 wurden zusätzlich zu den bekannten Unfallfolgen auch chronische Schlafstörungen (zum Teil schmerzbedingt) sowie ein muskuloskelettaler und neuropathischer Schmerz im lumbosacralen Übergang sowie Iliosakralgelenk links bis in das linke Bein ziehend sowie eine chronische Schmerzerkrankung im Stadium 2 nach Gerbershagen festgestellt und im späteren schmerztherapeutischen Zusatzgutachten vom 02. Mai 2007 auf dieser Grundlage eine MdE aus schmerztherapeutischer Sicht von 30 v.H. empfohlen. In den Gesprächen mit der Klägerin habe der Wunsch im Vordergrund gestanden, wieder arbeitsfähig zu werden, sie gehe regelmäßig einmal wöchentlich schwimmen… Ihre Stimmung habe sich im letzten Jahr wegen fehlender Besserung trotz andauernder Behandlung verschlechtert, sie sei reizbar, isoliere sich sozial.
Eine EFL-Testung (Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit) am Berufsförderungswerk L am 24. und 25. April 2007 ergab ein vollschichtiges Leistungsvermögen der Klägerin für leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten (Lasten bis max. 17,5 kg) des allgemeinen Arbeitsmarktes mit überwiegend sitzender Körperhaltung und der Möglichkeit des Haltungswechsels. Es zeigte sich ein durchgängig links hinkendes Gangbild und Entlastung der linken Bein-/Beckenseite, ansonsten waren die großen Gelenke frei beweglich.
Im schmerztherapeutische Zusatzgutachten vom 2. Mai 2007 berichtete Dr. S, dass die Klägerin besonders Schwierigkeiten beim Aufstehen habe, beim längeren Sitzen, beim Bewältigen von jeglichen Gehstrecken, beim Treppensteigen (fast unmöglich). Sie könne kaum noch schlafen, fühle sich wie erschlagen, könne sich zu nichts aufraffen, habe extreme Mühe bei jeglichen Haushaltstätigkeiten und müsse oftmals die Hilfe ihres Ehemannes in Anspruch nehmen. Der Sachverständige stellte fest, dass durch den Schmerz stark eingeschränkt seien: anstrengende Tätigkeiten, wie schnell laufen, schwere Gegenstände heben, anstrengenden Sport treiben, mehrere Treppenabsätze steigen, sich beugen, knien, bücken, mehr als 1 km zu Fuß gehen, mehrere Straßenkreuzungen weiter zu Fuß gehen, sich baden, alle Alltagsaktivitäten. Die Klägerin wirke entmutigt, traurig, erschöpft, antriebslos. Es liege eine Schmerzerkrankung im Grad 2 nach Gerbershagen vor.
Am 24. Mai 2007 erstellten der Direktor der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie des Klinikums B Prof. Dr. Dr. H u.a. ein Zweites Rentengutachten. Auf der Grundlage der am 14. Mai 2007 durchgeführten ambulanten Untersuchung der Klägerin stellten sie bei ihr folgende Unfallfolgen auf unfallchirurgischem Fachgebiet fest:
- knöchern konsolidierte, vordere Beckenringfraktur beidseits mit geringer Asymmetrie
- knöchern konsolidierte Os-sacrum-Fraktur links
- Zustand nach transiliosacraler Zugschraubenostesynthese links
- Dauerschmerzen im Lumbosacralbereich links mit pseudoradikulärer Ausstrahlung in das linke Bein und dadurch stark eingeschränkte Belastungsfähigkeit.
Sie stellten seitengleich Bewegungs- und Umfangsmaße der Hüftgelenke fest. Die MdE auf ihrem Fachgebiet betrage 10 v.H..
Am 19. Juli 2007 erstellte Dr. U nach ambulanter Vorstellung der Klägerin vom 06. Juni 2007 ein fachpsychotherapeutisches Gutachten. Er stellte auf seinem Fachgebiet keine Diagnose. Zwar finde sich durch die deutliche Schmerzwahrnehmung bei der Klägerin eine leichtgradige Beeinträchtigung der Stimmung im Sinne von dysphorisch sowie latent gereizt, jedoch gehe er nicht von einer klinisch relevanten Ausprägung aus, so der Gutachter, weshalb er auch keine MdE auf psychologischem Fachgebiet annehme. Im Rahmen der biografischen Anamnese gab die Klägerin an, dass sie sich überwiegend mit ihrem Haushalt, und der Versorgung ihrer beiden Papageien beschäftige und viel Zeit im Garten ihrer Eltern verbringe. Sie könne die meisten Arbeiten im Haushalt verrichten, brauche aber aufgrund der Schmerzen und Bewegungseinschränkungen insgesamt für viele Tätigkeiten seit dem Unfall länger, sei zum Teil wenig motiviert und müsse viele Pausen einlegen.
Prof. Dr. Dr. H schätzte daraufhin am 30. Juli 2007 die Gesamt-MdE der Klägerin mit 30 v.H. ein (unfallchirurgisch 10 v.H., schmerztherapeutisch 30 v.H., fachpsychotherapeutisch 0 v.H.).
Mit Bescheid vom 24. August 2007 nahm die Beklagte den Bescheid vom 21. September 2006 über die Ablehnung einer Rente gemäß § 44 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zurück. Sie gewährte der Klägerin, die bis dahin Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bezogen hatte, Verletztenrente als vorläufige Entschädigung beginnend ab dem 01. August 2006 nach einer MdE von 30 v.H. Der Arbeitsunfall vom 05. Juni 2005 habe zu folgenden Beeinträchtigungen geführt, die bei der Bewertung der MdE berücksichtigt worden seien:
- Schmerzsyndrom nach knöchern vollständig durchbautem Bruch des vorderen Beckenrings
- noch einliegendes Operationsmaterial im Kreuzbein.
Unabhängig vom Arbeitsunfall leide die Klägerin an einer Fehlstellung der Wirbelsäule im Lendenwirbelbereich sowie verschleißbedingten Veränderungen der Wirbelsäule.
Nach erfolgslosem Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 2008) erhob die Klägerin am 07. Februar 2008 Klage zum Sozialgericht (SG) Frankfurt (Oder) unter dem Aktenzeichen S 18 U 10/08.
Im weiteren unfallchirurgischen Gutachter vom 11. März 2008 schätzten Prof. Dr. Dr. H u.a. die MdE auf unfallchirurgischem Fachgebiet unverändert zum Vorgutachten mit 10 v.H. ein.
Im schmerztherapeutischen Zusatzgutachten von Dr. S vom 12. März 2008 aufgrund einer ambulanten Untersuchung vom 10. März 2008 wurde die MdE auf schmerztherapeutischem Gebiet mit 40 vH eingeschätzt. Die Klägerin berichtete über massive Schmerzen mit durchschnittlicher Schmerzstärke zwischen 8 und 9, Schwierigkeiten beim Aufstehen, beim längeren Sitzen, beim Bewältigen von jeglichen Gehstrecken, höchstens eine Viertelstunde, beim Treppensteigen, kaum Schlaf, fühle sich wie erschlagen, habe extreme Mühe bei jeglichen Haushaltstätigkeiten, müsse oftmals die Hilfe ihres Ehemannes in Anspruch nehmen, fahre nur noch kurze Strecken mit dem eigenen Auto, lasse unter Opioidtherapie Gegenstände fallen. Auf der numerischen Ratingscala der spezifischen Lebensbereiche gab die Klägerin Einschränkungen der Selbstversorgung im Bereich 7 - 8 und bei lebensnotwendigen Tätigkeiten mit 3 - 4 an. Der Gutachter schätzte ein, dass sich im Vergleich zur Begutachtung vor einem Jahr die Schmerzen verschlimmert hätten mit deutlichem Einfluss auf die Bewältigung familiärer und häuslicher Verpflichtungen. Sie diagnostizierten eine chronische Schmerzerkrankung im Stadium 2 nach Gerbershagen mit depressiver Episode und erheblicher Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit.
Mit Bescheid vom 25. April 2008 gewährte die Beklagte der Klägerin an Stelle der bisherigen Verletztenrente als vorläufige Entschädigung ab dem 01. April 2008 eine Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 40 v.H. Die MdE berücksichtige (unverändert) ein Schmerzsyndrom nach knöchern vollständig durchbautem Bruch des vorderen Beckenrings sowie das noch einliegende Operationsmaterial im Kreuzbein. Unabhängig vom Arbeitsunfall leide die Klägerin an einer Fehlstellung der Wirbelsäule im Lendenwirbelbereich sowie verschleißbedingten Veränderungen der Wirbelsäule.
In einem persönlichen Gespräch des Berufshelfers der Beklagten mit der Klägerin am 14. Juli 2008 in einem Café beschwerte sich die Klägerin, sie sei von der Beklagten im Stich gelassen worden. Es wurde über die weitere schmerztherapeutische Behandlung gesprochen, da die Anreise über zwei Stunden zum derzeitigen Schmerztherapeuten für die Klägerin unerträglich sei. Der Berufshelfer empfahl einen Schmerztherapeuten in B und sagte zu, die Behandlung der Klägerin dort einleiten zu wollen. Die Klägerin sei durch den Berufshelfer über eine Vielzahl von UV-Leistungen informiert worden, weitere Gesprächsthemen waren: Überzahlung der Hartz IV Leistungen, Erstattungsanspruch der Arge, Einbehaltung der Nachzahlung der Verletztenrente, Weiterbehandlung in H, Fahrtkosten. Die Klägerin äußerte, unbedingt wieder als Kraftfahrerin arbeiten zu wollen. Sie wolle nur besser von der Beklagten informiert werden, um Unstimmigkeiten zu vermeiden, die bisher immer wieder zu Problemen mit anderen Personen oder Leistungsträgern geführt hätten.
Nach einem Wechsel des Schmerztherapeuten (nunmehr Praxis Dr. H in B) teilten diese mit ärztlichem Brief der Ärztin C vom 28. November 2008 mit, dass die Klägerin aufgrund der Schmerzen nur 5-10 Minuten stehen oder gehen könne, keine 10 Minuten stillsitzen könne, der Schlaf sei aufgrund der Schmerzen deutlich beeinträchtigt, massivster Schmerzen im gesamten Beckenbereich, keinerlei Belastung möglich, sie könne kaum Gegenstände tragen. Die Hausarbeit werde mit vielen Pausen erledigt (Bügeln ziehe sich über den ganzen Tag hin), zum Staubsaugen habe die Klägerin einen Staubsauger mit Rollen angeschafft, es seien nur kurze Autofahrten in Begleitung möglich sowie Arbeiten am PC im Sitzen und Stehen für höchstens eine halbe Stunde. Einmal in der Woche gehe sie zum Schwimmen, baden sei zu Hause nicht möglich, da sie nicht mehr aus der Wanne komme.
Im Behandlungsbericht des MVZ Schmerzzentrum B vom 10. Februar 2009 wird berichtet, dass durch die neue Schmerz-Medikation eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität und eine Schmerzverringerung bei der Klägerin eingetreten sei.
Im Gespräch mit dem Berufshelfer der Beklagten am 22. April 2009 in der Wohnung der Klägerin wurde über den Fortschritt der medizinischen Behandlung, die Frage der Materialentfernung, die Dosierung im Rahmen der schmerztherapeutischen Behandlung, die Unzufriedenheit der Klägerin über die psychologische Mitbetreuung, die erfolglose Arbeitsplatzsuche trotz einer Vielzahl von Vorstellungsgesprächen gesprochen. Die Klägerin berichtete über eine mögliche berufliche Wiedereingliederung bei einem örtlichen Taxiunternehmen, es fehle jedoch der erforderliche Personenbeförderungsschein, worauf der Berufshelfer eine Kostenübernahme zum Erwerb des Personenbeförderungsscheins zusagte. Eine Rückkehr in den Gütertransport sei aufgrund der Morphineinnahme nicht möglich. Die Klägerin lebe von Verletztenrente und einem Mietzuschuss nach dem SGB II.
Die Beklagte holte im Rahmen der Rentennachprüfung das Gutachten von Prof. Dr. E/Dr. Z vom 22. März 2011 ein. Die Gutachter stellten bei der Klägerin aufgrund ambulanter Untersuchung vom 10. März 2011 folgende Unfallfolgen fest:
- hinkendes Gangbild mit links nachziehendem Bein
- verminderte Kraft bei der Kniehebung und Senkung im Bein
- 3 cm lange Narbe links gluteal
- Schmerzen Im Becken mit punktum maximum im Iliosakralgelenk links
- ischialge Schmerzen im Bereich des linken Oberschenkels/Unterschenkels
- in korrekter Lage liegende Spongiosaschrauben links in Höhe SWK 1
- konsolidierte Beckenringfraktur beidseits
- geringe Sklerosezone am Iliosakralgelenk links
- Arthrosis deformans am Iliosakralgelenk und Hüftgelenk rechts
- geringe Instabilität zwischen LWK 5 und SWK 1.
Die Umfangsmaße im Bereich des rechten Oberschenkels waren mit 3-5 cm deutlich geringer als links. Die Klägerin berichtete, dass sie normalerweise immer eine Gehstütze benutze, nur für kurze Strecken, z.B. in der Wohnung, benötige sie keine.
Die Gutachter stellten im Vergleich zur Voruntersuchung vom 10. März 2008 eine Verschlechterung der ischialgen Schmerzen sowie eine Verschlechterung der Beweglichkeit bei der Seitneigung der HWS und LWS, im Bereich der Hüften beim Abspreizen sowie Auswärtsdrehen sowie bei der Beugung in beiden Kniegelenken fest. Zudem habe die Oberschenkelmuskulatur rechts abgenommen. Daher sei die MdE nunmehr mit 40 v.H. einzuschätzen.
Das SG veranlasste das neurologisch-psychiatrische Fachgutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. T. Der Sachverständige stellte nach ambulanter Untersuchung der Klägerin vom 22. Januar 2013 in seinem Gutachten vom 28. Januar 2013 einen regelrechten neurologischen Status fest. Jedoch bestünden auf orthopädischem Fachgebiet schmerzinduzierte erhebliche Funktionsstörungen der linken unteren Extremität ohne neurologischen Sachverhalt, damit einhergehende starke Muskelverkürzungen in der ischiokruralen Muskulatur beiderseits und eine Fehlhaltung der Wirbelsäule durch den unfallphysiologischen Gang. Die Klägerin habe insgesamt das Bild einer unter anhaltend starken Schmerzen leidenden Unfallverletzten geboten, wobei trotz regelmäßiger Einnahme von Opioidanalgetika ein subjektiv als sehr stark empfundenes Schmerzerleben auf das Vorliegen einer Schmerzkrankheit hinweise. Mit Rücksicht darauf, dass bei der Klägerin eine unfallbedingte chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren bestehe, die mit schwerwiegenden körperlich-funktionellen Einschränkungen und erheblicher psychisch-emotionaler Beeinträchtigung im Sinne einer Schmerzkrankheit einhergehe, betrage die MdE 40 v.H. seit dem 05. Dezember 2005.
Sodann veranlasste das SG das Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. H vom 04. August 2014. Der Sachverständige stellte nach ambulanter Untersuchung der Klägerin vom 04. April 2014 folgende Gesundheitsstörungen fest:
- knöchern vollständig konsolidierte Beckenringfraktur links und vordere Beckenringfraktur rechts
- Varusgonarthrose linkes Kniegelenk
- Wirbelgleiten L5 /S1
- Osteochondrose der Wirbelsäule
- Degeneratives LWS-Syndrom.
Die Umfangsmaße, insbesondere die der Oberschenkel, waren nahezu seitengleich. Bei der klinischen Untersuchung habe sich ein deutlich reduziertes kleinschrittiges Gangbild unter Zuhilfenahme von zwei Gehstützen gefunden. Ein Gang ohne Gehstützen sei der Klägerin wegen der Schmerzen nur kurzzeitig möglich gewesen. Die Beweglichkeit im linken Hüftgelenk sei im Vergleich zur Gegenseite endgradig leicht eingeschränkt gewesen, wobei dies keine organische Folge der erlittenen Frakturen, sondern vollständig durch die Schmerzerkrankung bedingt sei. Die Veränderungen der LWS seien nicht auf das Unfallereignis zurückzuführen. Auch die Varusgonarthrose des linken Kniegelenks mit ausgedehnten Knorpel- und Meniskusschäden sei ein anlagebedingtes Verschleißleiden. Er stimme in seiner Einschätzung mit den beiden Rentengutachten aus dem Klinikum B überein. Auf unfallchirurgischem Fachgebiet liege die MdE daher unter 10 v.H., unter Berücksichtigung der schmerztherapeutischen Gesichtspunkte sei die MdE ab Beendigung der Arbeitsunfähigkeit (01. August 2006) mit 30 v.H., und ab dem 01. April 2008 fortlaufend mit 40 v.H. einzuschätzen.
Im Verfahren S 18 U 10/08 reichte die Klägerin das durch die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Berlin-Brandenburg erstellte Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr. A vom 28. November 2011 ein. Die Gutachterin hatte aufgrund der am 28. November 2011 durchgeführten Untersuchung der Klägerin bei dieser einen Zustand nach vorderer Beckenringfraktur beidseits und Kreuzbeinfraktur links, ein chronisches Schmerzsyndrom im Lumbosakralbereich links sowie eine mittelgradige chronifizierte depressive Störung festgestellt. In der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung ging sie davon aus, dass die Leistungsfähigkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seit März 2008 nahezu erloschen sei (unter 3 Stunden). Die DRV gewährte der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Mit Urteil vom 02. März 2016, berichtigt durch Beschluss vom 15. April 2016, verurteilte das SG die Beklagte im Verfahren S 18 U 10/08 unter Abänderung des Bescheides vom 24. August 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 2008 [richtig 15. Januar 2008] in Gestalt des Bescheides vom 25. April 2008, die Verletztenrente der Klägerin auch für den Zeitraum vom 01. August 2006 bis 31. März 2008 nach einer MdE von 40 v.H. zu gewähren, wies die Klage im Übrigen ab. Die Berufung der Klägerin wurde mit Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 16. Mai 2019 zurückgewiesen (Aktenzeichen: L 3 U 64/16).
Am 14. April 2016 wurde der Klägerin eine mediale Schlittenendoprothese (TEP) im Bereich des linken Kniegelenkes implantiert (Entlassungsbericht des Krankenhauses Märkisch Oderland vom 22. April 2016).
Mit Schreiben vom 6. Mai 2016 beantragte die anwaltlich vertretene Klägerin bei der Beklagten die Zahlung von Pflegegeld, da sie aufgrund des Unfalls für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang der Hilfe bedürfe.
Die Beklagte holte das Gutachten der Pflegefachkraft Sch vom 3. August 2016 ein, demzufolge es der Klägerin auch mit Gehstützen nicht mehr selbstständig gelinge, die vier Stufen am Eingang ihres Einfamilienhauses sowie die Türschwellen im Erdgeschoss zu überwinden. Die Grundpflege bewältige die Klägerin aufgrund von Schmerzen, Gangstörungen und Antriebsarmut nicht mehr selbstständig. Der Drehschwindel erlaube ihr eine maximal mögliche Laufstrecke von 5 bis 6 Metern. Sie brauche Hilfe in verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens: beim Aufstehen von einem Stuhl, beim Stuhlgang wegen Standunsicherheit und Schmerzen, beim Waschen von Rücken und Beinen, beim Aus- und Ankleiden sowie bei der hauswirtschaftlichen Versorgung. Die Bewertung gelte ab 1. Juli 2016.
Mit - hier streitigem - Bescheid vom 24. Oktober 2016 bewilligte die Beklagte der Klägerin Pflegegeld in Höhe von 25 Prozent des Höchstsatzes, beginnend am 1. Januar 2012. Die Nachzahlung bezifferte sie auf 16.623,44 Euro. Aufgrund einer stationären Behandlung entfalle das Pflegegeld für die Zeit vom 1. bis zum 21. April 2016. Gleichzeitig erhob die Beklagte im Hinblick auf Ansprüche für die Zeit vor dem 1. Januar 2012 die Einrede der Verjährung. Aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens sowie der Überschaubarkeit öffentlicher Haushalte bestehe die Möglichkeit, Belastungen durch weit zurückliegende Ansprüche auszuschließen. Der mit der Auszahlung von Leistungen verfolgte sozialpolitische Zweck sei dann in der Regel nicht mehr erreichbar. Die Verjährung von Sozialleistungsansprüchen entspreche dem Willen des Gesetzgebers. Im Rahmen einer pflichtgemäßen Ermessensentscheidung sei die Beklagte verpflichtet, die Einrede der Verjährung zu erheben. Es gebe weder Anhaltspunkte für eine unzulässige Rechtsausübung noch für einen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Die Klägerin gerate auch nicht in einen wirtschaftlichen Notstand. Bis zum Eingang des Antrags auf Pflegegeld am 6. Mai 2016 habe kein Anhaltspunkt vorgelegen, dass die Klägerin für gewöhnliche und täglich wiederkehrende Verrichtungen im Ablauf ihres täglichen Lebens in erheblichem Umfang Hilfe benötige.
Mit Widerspruch hiergegen vom 1. Dezember 2016 wand die Klägerin ein, die Beklagte habe im Anschluss an ein Beratungsgespräch am 17. Januar 2016 (richtig: 2006) gegen ihre Beratungs- und Hinweispflicht verstoßen. Mit Schreiben vom 3. Februar 2006 habe die Beklagte mitgeteilt, dass sie grundsätzlich bereit sei, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu gewähren; auch seien nachfolgend Begutachtungen erfolgt. Jedoch sei kein Hinweis auf die Möglichkeit der Beantragung von Leistungen bei Pflegebedürftigkeit durch die Beklagte erfolgt. Dies habe zum Unterlassen einer Antragstellung auf Pflegegeldleistungen geführt, so dass Pflegegeld auch für den Zeitraum vor Januar 2012 zu zahlen sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Januar 2017 gab die Beklagte dem Widerspruch der Klägerin nach Korrektur der tatsächlichen stationären Behandlungszeit der Klägerin aufgrund einer unfallunabhängigen Knieoperation im April 2016 teilweise statt. Den Anspruch auf Pflegegeld ließ die Beklagte nur noch für die Zeit vom 14. bis 21. April 2016 entfallen. Im Übrigen wies sie den Widerspruch als unbegründet zurück. Zu Gunsten der Klägerin habe sie eine Pflegebedürftigkeit auch schon für die Zeit vor Antragstellung am 6. Mai 2016 angenommen. Auch wenn schmerzbedingte Einschränkungen bekannt gewesen seien, habe es selbst unter Beachtung der persönlichen Gespräche mit der Klägerin sowie der ärztlichen und gutachterlichen Befundbeschreibungen an konkreten Anhaltspunkten gefehlt, nach denen die Klägerin für die Versorgung elementarer Bedürfnisse ihrer eigenen Person möglicherweise hilfebedürftig gewesen sein könnte. In dem Parallelverfahren S 18 U 10/08 habe der Sachverständige Dr. H noch im April 2014 beschrieben, dass sich lediglich eine endgradige Bewegungseinschränkung im linken Hüftgelenk ergeben habe. Das Aufstehen von der Untersuchungsliege sei problemlos gelungen. Auch das Anlegen der Bekleidung sei ohne wesentliche, erkennbare Probleme erfolgt. Die Klägerin habe Hobbys wie Schaufensterbummel (wenn auch seltener) und Schwimmen beschrieben. Das Ausmaß der Einschränkungen, wie in dem Pflegegutachten vom 3. August 2016 beschrieben, sei nicht zu erahnen gewesen.
Am 28. Februar 2017 hat die Klägerin hiergegen vor dem SG Frankfurt (Oder) Klage erhoben. Seit 2007 seien der Beklagten die gravierenden Beeinträchtigungen der Klägerin bekannt gewesen, so dass sich ihr die Pflegebedürftigkeit der Klägerin habe aufdrängen müssen. Bereits am 2. Mai 2007 habe Dr. S in seinem schmerztherapeutischen Gutachten festgestellt, dass die Schmerzsituation der Klägerin „deutlichen Einfluss auf die Bewältigung familiärer und häuslicher Verpflichtungen sowie auf den Erholungsbereich habe." Soweit die Beklagte ausschließlich auf den Aspekt der Haushaltsentlastung abstelle, habe sie den Sachverhalt nicht hinreichend auf ein mögliches eigenes Verschulden geprüft.
Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2017 aufzuheben, soweit die Zahlung von Pflegegeld für die Zeit vor dem 1. Januar 2012 abgelehnt wird und die Beklagte zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verurteilen.
Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat an ihrer Verjährungseinrede festgehalten und einen durchsetzbaren Pflegegeldanspruch für die Zeit vor dem 1. Januar 2012 ausgeschlossen. Ein Verzicht auf die Einrede der Verjährung sei selbst dann nicht zwingend, wenn die nicht rechtzeitige Leistungserbringung in den Verantwortungsbereich der Beklagten fallen würde. Erforderlich sei eine krasse Pflichtverletzung, die nicht vorliege.
Mit Urteil vom 17. Januar 2019 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die auf Pflegegeldgewährung gerichtete Anfechtungs- und Leistungsklage sei zulässig, aber unbegründet.
Entgegen der wörtlichen Fassung des Klageantrags sei die Klage gemäß § 123 So-zialgerichtsgesetz (SGG) unter Zugrundelegung des klägerischen Gesamtvorbringens dahin auszulegen, dass die Klägerin beantragt, den Bescheid vom 24. Oktober 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2017 teilweise aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 5. Juni 2005 für die Zeit ab 5. Juni 2005 bis 31. Dezember 2011 abzüglich der Zeiten, die die Klägerin in stationärer Behandlung verbracht hat, Pflegegeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Die so verstandene Klage habe keinen Erfolg, weil die Beklagte im Rahmen ihrer Pflegegeldbewilligung zu Recht nach pflichtgemäßem Ermessen die Einrede der Verjährung für die Zeit vor dem 1. Januar 2012 erhoben habe. Der Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld folge aus § 26 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) in Verbindung mit § 44 Abs. 1 SGB VII. Nach dieser Vorschrift werde Pflegegeld gezahlt, eine Pflegekraft gestellt oder Heimpflege gewährt, solange Versicherte infolge des Versicherungsfalls so hilflos seien, dass sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang der Hilfe bedürfen. Dies sei bei der Klägerin unstreitig ab 1. Januar 2012 bis laufend der Fall.
Mit streitigem Bescheid sei die Beklagte zu Gunsten der Klägerin vor dem Hintergrund des Pflegegutachtens davon ausgegangen, dass eine Pflegebedürftigkeit der Klägerin in erheblichem Maße nicht erst seit Antragstellung im Mai 2016, sondern bereits seit geraumer Zeit bestehe. Da es die Beklagte versäumt habe, einen Anfangszeitpunkt zu benennen, gehe die Kammer von einer Bewilligung von Pflegegeld aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls für die Zeit seit dem Unfallereignis am 5. Juni 2005 aus, abzüglich der Zeiten, die die Klägerin in stationärer Behandlung verbracht habe. Dennoch stehe der Klägerin die Auszahlung von Pflegegeld für die Zeit vor dem 1. Januar 2012 nicht zu. Die Beklagte habe sich hinsichtlich der Pflegegeldzahlungen für den streitgegenständlichen Zeitraum zu Recht auf den Eintritt der Verjährung berufen.
Gemäß § 45 Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil - (SGB l) verjährten Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Jahres, in dem sie entstanden seien. Bei dem durch den streitigen Bescheid zuerkannten Pflegegeldanspruch verjähre nicht das sogenannte Stammrecht, sondern der einzelne auf die zurückliegende Zeit entfallende Leistungsanspruch. Als die Klägerin mit ihrem Antrag vom 6. Mai 2016 erstmals Pflegegeld beantragt und auf das Vorhandensein einer möglichen Hilflosigkeit in verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens hingewiesen habe, seien die Pflegegeldansprüche bezüglich des Arbeitsunfalls vom 5. Juni 2005 für die Zeit bis zum 31. Dezember 2011 gem. § 45 Abs. 1 SGB I bereits verjährt gewesen.
Die Beklagte habe sich wirksam auf den Eintritt von Verjährung berufen. Die Ermessensentscheidung der Beklagten im Bescheid vom 24. Oktober 2016 sei nicht zu beanstanden. Die Beklagte habe ausdrücklich erwähnt, dass sie über die Einrede der Verjährung in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens entschieden habe. Zur Begründung habe sie - in noch ausreichendem Maße - angeführt, dass unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse der Klägerin keine Umstände erkennbar gewesen seien, die gegen die Erhebung der Einrede der Verjährung für die Zeit vor dem 1. Januar 2012 sprechen würden, und sich unter Würdigung der Gesamtumstände keine Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, dass sie das Ermessen fehlerhaft ausübe oder gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoße. Daraus werde erkennbar, dass die Beklagte den Akteninhalt gewürdigt habe. Aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens sowie der Überschaubarkeit öffentlicher Haushalte nutze sie jedoch die Möglichkeit, Belastungen durch weit zurückliegende Ansprüche auszuschließen. Die Klägerin gerate auch nicht in einen wirtschaftlichen Notstand. Aus den Verwaltungsakten der Beklagten sei nicht erkennbar, dass ihre Berufung auf den Eintritt von Verjährung und in der Folge ihre Verweigerung der Pflegegeld(nach)zahlung für die Zeit vom 5. Juni 2005 bis zum 31. Dezember 2011 abzüglich der in stationärer Behandlung verbrachten Zeiten für die Klägerin eine besondere Härte bedeute. Es sei auch weder vorgetragen noch aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens ersichtlich, dass die Erhebung der Verjährungseinrede für die Klägerin mit sonstigen wirtschaftlichen Nachteilen verbunden sei, die über den mit jedem Eintritt von Verjährung verbundenen Verlust eines Zahlungsanspruchs hinausgingen. Die Erhebung der Einrede der Verjährung sei auch zulässig, weil die Beklagte nicht gegen ihre Beratungs- und Hinweispflicht in erheblicher Weise verstoßen habe. Eine dafür erforderliche grobe, besonders krasse Pflichtwidrigkeit auf Seiten der Beklagten liege hier nicht vor. Dem Akteninhalt sei eine Beratung der Beklagten zu Verletztengeld- und Rentenzahlungen sowie zu Maßnahmen für die Wiedereingliederung in Arbeit zu entnehmen. Dies spiegele auch den mehrfach geäußerten Wunsch der Klägerin wider, möglichst schnell wieder in Arbeit zu gelangen und trage dem Umstand Rechnung, dass ihre Hilflosigkeit für die Beklagte nicht ohne Weiteres erkennbar gewesen sei. Auch eine Spontanberatungspflicht der Beklagten habe sich nicht ergeben. Die Klägerin habe sich vor dem 6. Mai 2016 zur Überzeugung der Kammer weder persönlich noch schriftlich mit einem ausdrücklichen oder konkludenten Beratungsbegehren im Hinblick auf die Gewährung von Pflegegeld an die Beklagte gewandt. Eine Verpflichtung der Beklagten, von Amts wegen beratend tätig zu werden, hätten weder ein Beratungsgespräch im Januar 2006 noch die schmerztherapeutische Begutachtung durch Dr. S im Jahr 2007 und die vor diesem Hintergrund erkennbaren Gesamtumstände der Klägerin ausgelöst. Auch im weiteren Verlauf des Verwaltungs- und parallelen Klageverfahrens habe sich eine bestehende Pflegebedürftigkeit der Klägerin nicht zweifellos aufgedrängt. Der Mitteilung über das Ergebnis der stationären Weiterbehandlung der M Klinik H von August 2005 sei kein Hinweis auf eine bestehende bzw. verbleibende Hilflosigkeit der Klägerin zu entnehmen. Erforderlich seien Injektionen gegen Thrombose, die die Klägerin nicht selbstständig durchführen könne, sondern ein häuslicher Pflegedienst vornehmen müsse. Da nach der Rechtslage im Jahr 2005 die Medikamentengabe allein noch nicht vom Begriff der Pflege in den vier Grundbedürfnissen erfasst gewesen sei, handele es sich bei dieser Einschätzung nicht um einen sich aufdrängenden Anhaltspunkt für eine Hilflosigkeit der Klägerin, dessen Missachtung als Beratungspflichtverletzung die Einrede der Verjährung der Beklagten unzulässig mache. Im Übrigen sei möglicherweise nur für eine Verrichtung des täglichen Lebens pflegerisch Hilfe nötig. Die Anhaltspunkte zur Bemessung des Pflegegeldes nach § 44 SGB VII setzten für eine Pflegebedürftigkeit voraus, dass der Betroffene in mehreren Phasen der Verrichtungen des täglichen Lebens teilweise, aber regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sein müsse. Anknüpfungstatsachen für diese Voraussetzungen seien im August 2005 aus Sicht der Kammer für die Beklagte nicht offen zu Tage getreten.
Weder im Oktober 2005 noch im Januar 2006 hätte sich der Beklagten eine Hilflosigkeit der Klägerin in mehreren Phasen der Verrichtungen des täglichen Lebens aufdrängen müssen. Vielmehr sei dem Befundbericht von Dr. S vom 20. Oktober 2005 nach Ablauf der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin zum 31. Oktober 2005 zu entnehmen, dass die Klägerin in Abhängigkeit der Tätigkeit und der Belastungsbeschwerden von sich aus versuche, einer Vollzeittätigkeit in ihrem alten Beruf nachzugehen. Auch unter Berücksichtigung des gescheiterten Versuchs der Wiederaufnahme ihrer alten Berufstätigkeit hätte sich der Beklagten aus Sicht der Kammer nach objektivem Empfängerhorizont im Zeitpunkt der Entscheidung über eine Beratung im Oktober 2005 kein Anhaltspunkt für eine Hilflosigkeit der Klägerin aufdrängen müssen. Ein Nachweis zu einem Beratungsgespräch am 17. Januar 2006, wie es die Klägerin behauptet, und in dessen Zuge die Beklagte ihre Beratungspflicht verletzt habe, sei dem Akteninhalt nicht zu entnehmen. Dokumentiert seien Telefonate über Verletztengeldzahlungen, über die Mitteilung einer neuen Steuerklasse sowie über Hinweise zur Prüfung einer innerbetrieblichen Umsetzung mit dem Ergebnis, dass es sich bei dem Arbeitgeber der Klägerin um einen Familienbetrieb handele und Tätigkeiten ohne Be- und Entladetätigkeiten nicht möglich seien. Die Klägerin sei ausweislich der ärztlichen Untersuchungsergebnisse mobil. Physiotherapie, Krankengymnastik und eine Schmerztherapie seien zur Sprache gekommen. Daraus sei zur Überzeugung der Kammer aber noch nicht zwingend auf eine Hilflosigkeit und eine Prüfung eines Pflegegeldanspruches zu schließen gewesen.
Mit ihrem Anruf vom 16. Juni 2006 habe die Klägerin der Beklagten sogar mitgeteilt, schnellstmöglich eine leistungsgerechte Beschäftigung aufnehmen zu wollen. Zur Unterstützung habe sie um Einschaltung eines Vermittlungsdienstes gebeten. Ein persönliches Gespräch habe die Klägerin abgelehnt und telefonisch einen „Überblick über das weitere Verfahren und Leistungsrecht (VG [Verletztengeld], Rente)" erhalten. Für die Kammer ergebe sich nach objektiver Würdigung daraus kein zwingender Anhalt für eine Pflegebedürftigkeit der Klägerin im Juni 2006, auf die die Beklagte beratend hätte reagieren müssen.
Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem ersten Rentengutachten von Dr. S vom 8. September 2006, dem zufolge die Klägerin mit Unterarmgehstützen mobil gewesen sei. Eine mäßige Besserung der Gesamtsituation habe erzielt werden können. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit habe Dr. S auf 10 v.H. eingeschätzt und beschrieben, dass „das Entkleiden der unteren Extremität durch die eingeschränkte Beweglichkeit und den Schmerzen im Becken-/Hüftgelenksbereich etwas schwierig vonstatten" gehe. Gleichzeitig habe Dr. S mitgeteilt, dass die Klägerin alle Tätigkeiten mit leichter bis mittlerer körperlicher Belastung, am Besten abwechselnd im Sitzen, Stehen und Laufen, jedoch kein Heben und Tragen, kein Arbeiten auf Leitern oder Gerüsten und keine Tätigkeiten als LKW-Fahrerin ausüben könne. Aus der Gesamtschau dieser gutachterlichen Stellungnahme habe sich insbesondere unter Berücksichtigung der beschriebenen Fähigkeiten für den allgemeinen Arbeitsmarkt auch im September 2006 keine Pflegebedürftigkeit der Klägerin aufgedrängt, die eine krasse Verletzung der Beratungspflicht der Beklagten nach sich ziehe.
Ebenso wenig seien zur Überzeugung der Kammer im Jahr 2007 Anhaltspunkte offen zu Tage getreten, die zweifellos auf eine Hilflosigkeit der Klägerin hingedeutet hätten und deren Missachtung eine erhebliche Beratungspflichtverletzung der Beklagten begründen könnte. Dem psychischen Befundbericht von Dr. U vom 22. Januar 2007 seien belastende Dauerschmerzen in Becken und Rücken zu entnehmen, die die Klägerin im Alltag sehr belasteten. Sie könne nur noch eingeschränkt heben und tragen. Sie habe Durchschlafschwierigkeiten sowie Grübeltendenzen und ringe mit ihrer beruflichen Situation. Die Versorgung ihrer Haustiere sowie Handarbeit gehe aufgrund der Schmerzen langsamer. Auf Schwierigkeiten bei der alltäglichen Selbstversorgung deute im Bericht von Dr. U nichts hin, so dass sich auch hier keine Beratungspflichtverletzung begründen lasse. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus seiner Einschätzung im fachpsychotherapeutischen Gutachten vom 19. Juli 2007, wonach die Klägerin die Aufgaben im Haushalt verrichten könne, wenn sie Pausen einlegen und sich zwischendurch hinlegen könne.
Auch Dr. S beschreibe in seinem Befundbericht vom 13. März 2007 neben Schmerzen und Durchschlafstörungen den Wunsch der Klägerin, wieder arbeitsfähig zu werden und empfehle aufgrund der Schmerzmedikation nach Stabilisierung des Therapiezustands die Einholung eines D-Gutachtens zur Feststellung der Fahrtauglichkeit der Klägerin. Offen zutage tretende Anhaltspunkte für eine Pflegebedürftigkeit der Klägerin würden sich daraus zur Überzeugung der Kammer nicht ergeben.
Erstmals in seinem schmerztherapeutischen Zusatzgutachten vom 2. Mai 2007 habe Dr. S erwähnt, dass sich die Klägerin wie erschlagen fühle, sich zu nichts aufraffen könne, extreme Mühe bei jeglichen Haushaltstätigkeiten habe und oftmals die Hilfe ihres Ehemannes in Anspruch nehmen müsse. Die Schmerzsituation behindere alle Alltagssituationen. Grund seien nicht nur die körperliche Gesundheit der Klägerin, sondern auch ihre seelischen Probleme. Da Dr. S auch beschreibe, dass mittelschwere Tätigkeiten wie Tische verschieben, Staubsaugen, sich anziehen, Einkaufstaschen heben oder tragen zwar „etwas eingeschränkt", aber nicht unmöglich seien, könne die Kammer auch an dieser Stelle keine sich zwingend aufdrängenden Anhaltspunkte für eine Pflegebedürftigkeit der Klägerin erkennen, die eine krasse Pflichtverletzung begründeten und zur Unzulässigkeit der Einrede der Verjährung führten. Dies gelte umso mehr, als Dr. S ausdrücklich formuliere, dass der Bereich der Selbstversorgung durch die zu Begutachtende „relativ uneingeschränkt bewältigt werden" könne. Soweit Dr. S offen lasse, was unter der Einschränkung „relativ" zu verstehen sei, sei die Beklagte zur Überzeugung der Kammer jedenfalls nicht gezwungen gewesen, unter Berücksichtigung des weiteren Inhalts des Gutachtens über die Empfehlungen von Dr. S zu Schmerztherapie, Physiotherapie und Psychotherapie hinaus einen möglichen Anspruch auf Pflegeleistungen zu prüfen bzw. auf einen solchen hinzuweisen, wenn selbst der Sachverständige entsprechende Pflegeleistungen mit keinem Wort erwähne. Hinzu komme, dass Dr. S bei der Klägerin ein vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt herausstelle.
Soweit Dr. S in einem weiteren schmerztherapeutischen Zusatzgutachten vom 12. März 2008 beschreibe, dass die Klägerin beim Anziehen stark eingeschränkt und Baden nicht möglich sei und „Schmerzen eindeutigen Einfluss auf die Bewältigung familiärer und häuslicher Verpflichtungen...“ hätten, sei die Beklagte auch vor dem Hintergrund seiner weiteren Ausführungen nicht zwingend verpflichtet gewesen, beratend im Hinblick auf mögliche Pflegeleistungen tätig zu werden. Dr. S habe es unterlassen, die familiären und häuslichen Verpflichtungen, deren Bewältigung der Klägerin schwerfallen, näher zu beschreiben. Er habe lediglich ausgeführt, dass der Klägerin „…zum Beispiel das Fahren mit dem eigenen Auto kaum noch möglich sei" und im Rahmen des Krankheitsbildes eine „deutlich depressive Stimmungslage, kombiniert mit Hoffnungslosigkeit und Antriebslosigkeit" bestehe. In fast allen Bereichen des täglichen Lebens lägen Partizipationsstörungen vor. Dass die Klägerin tatsächlich in der täglichen Selbstversorgung eingeschränkt gewesen sei, die weder Teil einer familiären noch häuslichen Verpflichtung sei, gehe aus diesen Formulierungen nicht hervor und stelle aus Sicht der Kammer für die Beklagte auch keinen sich aufdrängenden Rückschluss dar. Partizipationsstörungen beinhalteten zwar Teilhabeprobleme, umschrieben aber noch keine Hilflosigkeit im Sinne einer - eine Beratungspflicht auslösenden - Pflegebedürftigkeit.
Aus dem weiteren Akteninhalt, unter anderem aus einem Gespräch am 14. Juli 2008, das in einem Café stattgefunden und an dem auch die Bekannte der Klägerin, Frau P, teilgenommen habe, habe die Beklagte vielmehr entnehmen dürfen, dass die Klägerin unbedingt wieder als Kraftfahrerin arbeiten möchte. Folgerichtig habe die Beklagte sie über eine Vielzahl von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung, wie Berufshelfer, Behandlungskosten, Fahrtkosten und Rentenzahlungen nach Verrechnung mit Erstattungsansprüchen anderer Sozialleistungsträger informiert. Dem Gesprächsvermerk sei zwar eine umfassende Erörterung der Schmerztherapie und einer entsprechenden Schmerzmedikation der Klägerin, aber kein Hinweis auf eine bestehende Pflegebedürftigkeit zu entnehmen.
Im Rahmen eines weiteren Gesprächs in der Wohnung der Klägerin am 22. April 2009 habe sich ausweislich des Gesprächsvermerks ebenfalls kein Anhaltspunkt für eine sich aufdrängende Hilflosigkeit der Klägerin ergeben. Im Wesentlichen hätten die Beteiligten Bewerbungsaktivitäten besprochen, insbesondere eine aussichtsreiche Möglichkeit der beruflichen Wiedereingliederung der Klägerin als Taxifahrerin bei einem örtlichen Taxiunternehmen. Die Beklagte habe zugesagt, gegebenenfalls den erforderlichen Personenbeförderungsschein für die Klägerin zu finanzieren. Am 10. Juni 2009 habe die Klägerin mitgeteilt, dass sich das Angebot wegen fehlender Kunden des Taxiunternehmens zerschlagen habe. Da die Klägerin selbst den Eindruck vermittelt habe, als Taxifahrerin - vorerst in Teilzeit - wieder arbeiten zu können und zu wollen, und sich das Jobangebot von Seiten des potentiellen Arbeitgebers zerschlagen hatte, hätte die Beklagte auch im Juni 2009 zu Recht noch nicht von einer erforderlichen Beratungspflicht hinsichtlich einer möglichen Pflegebedürftigkeit der Klägerin ausgehen dürfen.
Auch dem neurologisch-psychiatrischen Fachgutachten von Dr. T vom 28. Januar 2013 sei nach objektivem Empfängerhorizont im Januar 2013 aus Sicht der Beklagten keine sich aufdrängende Pflegebedürftigkeit der Klägerin zu entnehmen. Die Klägerin habe Dr. T gegenüber berichtet, „den ganzen Tag auf sich allein gestellt" zu sein. Trotz ihrer Behinderung habe die Beklagte ihr weder eine Haushaltshilfe noch sonstige Hilfsmittel genehmigt. Nur ihre Freundin helfe ihr und sei ihre einzige Stütze. Sie bewohne die erste Etage ihres elterlichen Wohnhauses zusammen mit ihrem Ehemann. Ihren Tagesablauf beschreibend habe die Klägerin berichtet, wie sie das Mittagessen für sich und ihren Vater, der im Erdgeschoss ein Zimmer bewohne, bereite. Aufgrund der Schmerzen könne sie im Haushalt nur wenig machen. Zu Hause gehe sie an zwei Unterarmgehstützen, wobei ihr das Treppensteigen nur unter Schmerzen gelinge. Das SG ging davon aus, dass - Entgegen den Schilderungen der Klägerin - der Verwaltungsakte weder ein Antrag auf Bewilligung einer Haushaltshilfe zu entnehmen sei, noch würden ihre Beschreibungen eindeutig auf eine Pflegebedürftigkeit hindeuten, in deren Folge die Beklagte sich eine Beratungspflichtverletzung entgegenhalten lassen müsse. Die Kammer könne auch unter Berücksichtigung der geschilderten Schmerzen beim Treppensteigen aufgrund des Bewohnens der ersten Etage noch keine sich aufdrängende Hilflosigkeit erkennen.
Auch Frau C beschreibe in ihrem Befundbericht für den ärztlichen Dienst der Bundesagentur für Arbeit vom 9. Februar 2011 Schlafstörungen, Schmerzen und Wetterfühligkeit der Klägerin. Sie erledige die Hausarbeit mit vielen Pausen. Beim Autofahren bevorzuge sie die Rückbank, um sich drehen und bewegen zu können. Im Garten seien Arbeiten wie Harken, Blumen schneiden und ein bisschen Fegen möglich. Dass sich vor dem Hintergrund solcher Schilderungen für die Beklagte eine Hilflosigkeit der Klägerin im Bereich der Selbstversorgung aufgedrängt haben sollte, erschließe sich für die Kammer nicht.
Die Gutachterin auf neurologischem und psychiatrischem Fachgebiet der I GmbH,, bejahe in ihrer Stellungnahme vom 28. November 2011 die Frage, ob die Klägerin bei Vorliegen einer psychischen Krankheit oder einer seelischen Behinderung ihre Angelegenheiten selbst besorgen könne. Damit lägen auch im November 2011 objektiv keine eindeutigen Anknüpfungstatsachen vor, anhand derer sich für die Beklagte die Pflicht zur Beratung für Pflegeleistungen hätte aufdrängen müssen.
Dr. H beschreibe in seinem orthopädisch-unfallchirurgischen Gutachten vom 4. August 2014 schließlich, der Klägerin gelinge das Anlegen der Bekleidung, teils im Stehen, teils im Sitzen, ohne wesentliche erkennbare Probleme. Auch nach dieser Schilderung habe sich für die Beklagte kein Rückschluss auf eine Hilflosigkeit der Klägerin im Bereich der Selbstversorgung aufdrängen müssen.
Eine Pflichtverletzung nach § 14 SGB I scheide aus. Für die Kammer sei nicht ersichtlich, aus welchen Gründen sich für die Beklagte vor dem 6. Mai 2016 ein Anspruch der Klägerin auf Pflegegeldleistungen hätte ergeben müssen. Für die Verneinung der Frage, ob klar zu Tage tretende Anhaltspunkte für Gestaltungsmöglichkeiten vorgelegen hätten, deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig erschienen sei, dass sie jeder verständige Bürger mutmaßlich nutzen würde, berücksichtige die Kammer ebenfalls den Umstand, dass die Klägerin seit 1. Juni 2006 anwaltlich vertreten gewesen sei. Auch nach einem Anwaltswechsel am 7. Juli 2011 habe es bis zur Antragstellung am 6. Mai 2016 im Verwaltungsverfahren von keinem der mit dem Fall der Klägerin befassten Klägerbevollmächtigten einen Hinweis auf eine möglicherweise bestehende Pflegebedürftigkeit der Klägerin gegeben. Selbst den Schriftsätzen im parallelen Klageverfahren S 18 U 10/08, welches den Umfang der Minderung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin und damit eine Funktionseinschätzung zum Gegenstand gehabt habe, sei kein Anhaltspunkt für eine Hilflosigkeit der Klägerin im Bereich der Selbstversorgung zu entnehmen. Da sich selbst für die rechtskundigen Berater der Klägerin trotz ausführlicher Würdigung sämtlicher medizinischer Befunde und gutachterlicher Stellungnahmen über Jahre hinweg vor dem 6. Mai 2016 keine Hilflosigkeit aufgedrängt habe, sei für die Kammer anhand der gleichen objektiven Befunde oder Anknüpfungstatsachen keine erhebliche Pflichtwidrigkeit nach den Vorgaben von § 14 SGB I auf Seiten der Beklagten erkennbar.
Soweit sie die Prüfung von Pflegeleistungen deshalb erst im Mai 2016 eingeleitet habe, liege darin keine grobe, besonders krasse Pflichtwidrigkeit, die die Erhebung der Verjährungseinrede vorliegend als ermessensfehlerhaft erscheinen ließe. Die Erhebung der Verjährungseinrede in dem Bescheid vom 24. Oktober 2016 sei hinreichend deutlich und rechtzeitig gewesen. Bis zum Eingang des Antrags auf Pflegegeld am 6. Mai 2016 habe kein Anhaltspunkt vorgelegen, dass die Klägerin für gewöhnliche und täglich wiederkehrende Verrichtungen im Ablauf ihres täglichen Lebens in erheblichem Umfang der Hilfe bedürfe. Da Fehler in der Berechnung der Verjährungsfrist weder vorgetragen noch ersichtlich seien, seien die Ansprüche der Klägerin auf Zahlung von Pflegegeld wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 5. Juni 2006 für die Zeit vor dem 1. Januar 2012 verjährt.
Gegen das ihr am 5. Februar 2019 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 20. Mai 2019 vor dem SG Berufung eingelegt sowie Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist beantragt. Sie hat eine eidesstattliche Versicherung der mit der Fristennotierung in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Klägerin betrauten Mitarbeiterin Frau N R vom 20. Mai 2019 zur Gerichtsakte gereicht und erklärt, dass die Mitarbeiterin stets beanstandungsfrei und äußerst zuversichtlich arbeitete; in ihrer über 20-jährigen Tätigkeit in dieser Kanzlei sei ihr ein derartiger Fehler noch nicht passiert. In der Sache habe die Beklagte an keiner Stelle dargelegt und bewiesen, dass sie ihrer Beratungspflicht nach § 26 Abs. 5 SGB VII trotz einer Vielzahl von Hinweisen über die erheblichen Einschränkungen der Klägerin durch eine Vielzahl von ärztlichen Berichten und trotz Gewährung einer Verletztenrente nachgekommen sei. Die Klägerin verweist auf Ihren Schriftsatz vom 3. April 2017.
Die Klägerin beantragt schriftlich,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 17. Januar 2019 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2017 aufzuheben, soweit die Zahlung von Pflegegeld für die Zeit vor dem 1. Januar 2012 abgelehnt wurde und die Beklagte zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt schriftlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verweist auf die angegriffene erstinstanzliche Entscheidung, die sie für zutreffend hält.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).
Die unter Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist zulässige Berufung ist unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts vom 17. Januar 2019 erweist sich als zutreffend. Der Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2017 ist rechtmäßig. Ansprüche der Klägerin auf Pflegegeld vor dem 1. Januar 2012 sind zumindest verjährt.
Ebenso wie das Sozialgericht geht auch der Senat gemäß § 123 SGG davon aus, dass das Begehren der Klägerin auch im Berufungsverfahren vorrangig darauf gerichtet ist, den Bescheid vom 24. Oktober 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2017 lediglich abzuändern, soweit er die Klägerin nicht begünstigt, und die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 5. Juni 2005 für die Zeit ab 5. Juni 2005 bis 31. Dezember 2011 abzüglich der Zeiten, die die Klägerin in stationärer Behandlung verbrachte, Pflegegeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Die insoweit statthafte kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist zulässig, aber unbegründet.
Ausgehend vom Antrag der Klägerin auf Pflegegeld vom 6. Mai 2016 und auf der Grundlage des Gutachtens der Pflegefachkraft Sch vom 3. August 2016 ist die Beklagte zutreffend vom Vorliegen der Voraussetzungen für den Bezug von Pflegegeld ab dem Tag der Begutachtung, dem 29. Juli 20016, nach § 44 SGB VII ausgegangen, was die Klägerin insoweit, da es sie begünstigt, nicht mit Klage und Berufung angreift.
Dahingestellt bleiben kann, ob die Klägerin für den hier streitigen Zeitraum, also vor dem 1. Januar 2012, überhaupt einen - materiell-rechtlichen - Anspruch auf Pflegegeld nach § 44 SGB VII hatte, wie dies von der Beklagte im angegriffenen Bescheid zu Gunsten der Klägerin angenommen wurde. Gemäß § 44 Abs. 1 SGB VII wird Pflegegeld gezahlt, eine Pflegekraft gestellt oder Heimpflege gewährt, solange Versicherte infolge des Versicherungsfalls so hilflos sind, dass sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang der Hilfe bedürfen.
Zutreffend sind Beklagte und Sozialgericht insoweit davon ausgegangen, dass ein solcher - hypothetischer - Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld für Zeiträume vor dem 1. Januar 2012 zumindest verjährt ist, da sich die Beklagte zu Recht auf die Einrede der Verjährung nach § 45 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) berufen hat. Anhaltspunkte für eine Unterbrechung oder Hemmung der Verjährung sind nicht ersichtlich.
Gemäß § 45 Abs. 1 SGB I verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen innerhalb von vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind. Der Verjährung unterliegen nach dieser Norm alle Ansprüche auf Sozialleistungen, auch der hier betroffene Anspruch auf Pflegegeld. Insoweit unterliegen der Verjährung auch bei laufenden Geldleistungen nur die immer abschnittsweise neu entstehenden Einzelleistungsansprüche. Das so genannte Stammrecht ist nach allgemeiner Meinung unverjährbar (vgl. BSG vom 22. Oktober 1996, 13 RJ 17/96, juris Rn. 26).
Das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die in § 45 Abs. 1 SGB I bestimmte Verjährungsfrist von vier Jahren Ausdruck eines allgemeinen Prinzips ist, das der Harmonisierung der Vorschriften über die Verjährung öffentlich-rechtlicher Ansprüche dient. Die Regelung ist aus praktischen und haushaltsrechtlichen Gründen geboten, um früher zu beobachtende jahrzehntelange Auseinandersetzungen einer beschleunigten gerichtlichen Klärung zuzuführen (stRspr; vgl. zB BSG vom 11. August 1976, 10 RV 165/75, BSGE 42, 135, 138; BSG vom 31. Mai 2016, B 1 AS 1/16 KL, SozR 4-1200).
§ 45 Abs. 2 SGB I verweist hinsichtlich der Wirkung der Verjährung auf das Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Nach § 214 Abs. 1 BGB ist der Schuldner nach Eintritt der Verjährung berechtigt, die Leistung zu verweigern.
Diese Grundsätze gelten trotz zwischenzeitlicher Modifizierung des Verjährungsrechts im BGB unverändert fort (BSG vom 31. Mai 2016, B 1 AS 1/16 KL, SozR 4-1200 § 45 Nr. 9 Rn. 16).
Danach war die Beklagte nach § 45 SGB I berechtigt, die Einrede der Verjährung zu erheben. Die Verjährung ist mithin per Einrede geltend zu machen und von den Gerichten nicht von Amts wegen zu berücksichtigen. Da es sich um eine „Berechtigung“ handelt, steht die Erhebung dieser Einrede nach allgemeiner Meinung im Ermessen des Leistungsträgers (BSG vom 15. Juni 2000, B 7 AL 64/99 R, juris Rn. 22). Auf das auszuübende Ermessen ist vollumfänglich § 39 SGB I anwendbar. Die Ermessensentscheidung ist gemäß § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X zu begründen. Zudem kann der Gebrauch der Verjährungseinrede gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßen. § 242 BGB ist insoweit auch entsprechend auf § 45 SGB I anzuwenden. Das BSG prüft die Frage, ob die Erhebung der Verjährungseinrede ermessenfehlerhaft ist oder sich als unzulässige Rechtsausübung im Sinne des § 242 BGB darstellt, regelmäßig getrennt voneinander, ohne aber genau klarzustellen, welche Gesichtspunkte bei dem einen oder anderen Aspekt zu berücksichtigen sind.
Die Verjährungseinrede ist im vorliegenden Fall nicht von vornherein wegen unzulässiger Rechtsausübung (Verstoß gegen Treu und Glauben) ausgeschlossen.
Zu Unrecht meint die Klägerin, einen solchen Ausschluss auf eine Pflichtverletzung der Beklagten stützen zu können. Ein solcher Ausschluss könnte sich auf eine Pflichtverletzung nur dann stützen, wenn diese sich aus dem Verhalten der Beklagten selbst ergibt und nicht aus dem Verhalten Dritter. Zudem müsste es sich um eine „besonders krasse Pflichtverletzung“ handeln (vgl. BSG, Urteil vom 22. Oktober 1996, 13 RJ 17/96, juris Rn. 31 unter Verweis auf BSGE 62, 10; BSGE 62, 96, 98; BSGE 42, 219, 222f).
Eine derartige Pflichtverletzung der Beklagten ist jedoch nicht zu erkennen. Insoweit verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die ausführlichen und in der Bewertung zutreffenden Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG).
Lediglich ergänzend weist der Senat auf folgendes hin: Trotz der aktenkundig seit 2007 zunehmenden Schmerzen ergaben sich für die Beklagte keine deutlichen Hinweise auf einen Pflegebedarf im Sinne einer „besonders krassen Pflichtverletzung“, da die Klägerin wiederholt ihren Willen zum beruflichen Wiedereinstieg, auch in anderen Bereichen, gegenüber der Beklagten deutlich kundtat, diesbezüglich Leistungen aktiv erfragte und auch in Anspruch nahm. Angesichts dieser - ebenfalls aktenkundigen - sehr motivierten Haltung der Klägerin, lässt sich gegenüber der Beklagten kein die Verjährung ausschließender Vorwurf einer „besonders krassen Pflichtverletzung“ erheben.
Auch aus dem - den streitigen Zeitraum vor dem 1. Januar 2012 gegebenenfalls noch erhellenden - Gutachten von Prof. Dr. E vom 22. März 2011 waren für die Beklagte keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Klägerin so hilflos war, dass sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang der Hilfe bedurfte. Zwar stellte der Gutachter im Vergleich zur Voruntersuchung vom 10. März 2008 eine Verschlechterung der ischialgen Schmerzen sowie eine Verschlechterung der Beweglichkeit bei der Seitneigung der HWS und LWS, im Bereich der Hüften beim Abspreizen sowie Auswärtsdrehen sowie bei der Beugung in beiden Kniegelenken fest. Zudem dokumentierte er eine Abnahme der Oberschenkelmuskulatur rechts. Dies allein sind jedoch keine Hinweise für eine Hilflosigkeit im Sinne von § 44 Abs. 1 SGB VII. Auch aus den Angaben der Klägerin, die gegenüber dem Sachverständigen berichtete, dass sie normalerweise immer eine Gehstütze benutze, nur für kurze Strecken, z.B. in der Wohnung, benötige sie keine, waren entsprechende Anhaltspunkte, die einen Pflegebedarf der Klägerin begründen würden, für die Beklagte nicht ersichtlich.
Gleiches gilt im Ergebnis für das Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr. A vom 28. November 2011. Soweit die Gutachterin bei der Klägerin ein chronisches Schmerzsyndrom im Lumbosakralbereich links sowie eine mittelgradige chronifizierte depressive Störung feststellte und die Leistungsfähigkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als nahezu erloschen ansah (unter 3 Stunden), mussten sich daraus für die Beklagte keine Hinweise auf einen Pflegebedarf im Sinne von § 44 Abs. 1 SGB VII ergeben.
Auch die Gewährung der Rente wegen voller Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger ist für sich gesehen kein Anhaltspunkt für eine Hilflosigkeit im Sinne von § 44 Abs. 1 SGB VII. Die Feststellung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Bereich des Arbeitsmarktes nach § 43 SGB VI beinhaltet keine rechtlich bindenden Feststellungen für einen Pflegebedarf nach § 44 SGB VII.
Die demnach grundsätzlich zulässige Erhebung der Verjährungseinrede durch die Beklagte setzt regelmäßig die Ausübung von Ermessen voraus. Die Gründe hierfür sind in dem Bescheid, mit dem die Leistungen für zurückliegende Zeiten versagt werden (vgl. § 35 Abs. 1 SGB X), zu benennen.
Das Sozialgericht ist insoweit zutreffend davon ausgegangen, dass die Beklagte ihre Entscheidung in den angefochtenen Bescheiden ausführlich dargelegt und begründet hat. Formelle Fehler der Ermessensausübung sind nicht erkennbar.
Auch war die Ausübung des Ermessens durch die Beklagte, soweit sie durch das Gericht überprüfbar ist, fehlerfrei. Eine Ermessensreduzierung auf Null zu Gunsten der Klägerin ist nicht erkennbar. Ein solcher Fall kann eintreten, wenn die Gesamtheit der Umstände das Absehen von der Verjährungseinrede gebietet. Solche Umstände sind hier jedoch - wie dargelegt - nicht erkennbar. Die Beklagte hat die widerstreitenden Interessen der Beteiligten gegeneinander abgewogen. Dabei hat sie ohne rechtlichen Fehler dem Interesse des Rechtsfriedens und des Grundsatzes ordnungsgemäßer Verwaltung - insbesondere der sparsamen Haushaltsführung - zu Lasten der Klägerin den Vorrang eingeräumt.
Ist die Ermessensausübung, wie hier, weder durch den Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung noch durch eine Ermessensreduzierung auf Null ausgeschlossen, sind Gründe für die Nichterhebung der Verjährungseinrede nicht zu erkennen. Das BSG geht in seinem Urteil vom 22. Oktober 1996 (a.a.O.) sogar davon aus, dass in diesen Fällen die Beklagte regelmäßig gehalten ist, die Verjährungseinrede zu erheben. Insoweit sei davon auszugehen, dass Ansprüche auf Sozialleistungen im Interesse des Rechtsfriedens und der Überschaubarkeit der öffentlichen Haushalte in angemessener Frist geltend gemacht werden müssen. Auch der mit der Leistung verfolgte sozial-politische Zweck, könne später regelmäßig nicht mehr erreicht werden. Dem schließt sich der Senat aufgrund eigener Überzeugungsbildung an.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.