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Entscheidung 10 K 97/21.A


Metadaten

Gericht VG Frankfurt (Oder) 10. Kammer Entscheidungsdatum 17.06.2021
Aktenzeichen 10 K 97/21.A ECLI ECLI:DE:VGFRANK:2021:0617.10K97.21.A.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 11. Dezember 2020 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf eine Vollstreckung der Kläger durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung i. H. v. 110 % des insgesamt vollstreckbaren Betrages abwenden, falls die Kläger nicht zuvor Sicherheit i. H. v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand

Bei den Klägern handelt es sich um eine nach eigenen Angaben 1995 geborene alleinstehende syrische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit und ihre beiden 2013 beziehungsweise 2015 geborenen Kinder. Am 18. September 2020 stellten die Kläger in Rumänien Asylanträge; am 22. Oktober 2020 meldeten sich die Kläger in Schleswig-Holstein als Asylsuchende. Nach ihrer asylrechtlichen Verteilung nach Brandenburg und einer anfänglichen Quarantäne wegen der Corona-Pandemie ersuchte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) Rumänien am 9. November 2020 um Wiederaufnahme der Kläger. Unter dem 20. November 2020 teilte die rumänische Behörde daraufhin mit, dass es einer Überstellung aller drei Kläger wegen Art. 18 Abs 1 Buchstabe d Dublin-III-VO zustimme.

Am 26. November 2020 stellten die Kläger persönlich bei der Außenstelle Eisenhüttenstadt des Bundesamts Asylanträge. Im Rahmen des persönlichen Gesprächs vom 26. November 2020, eines Statements vom 2. Dezember 2020 sowie der Befragung und Anhörung am 9. Dezember 2020 trug die Klägerin zu 1. vor, dass sich ihre Eltern in Dänemark und in Deutschland eine Tante befinden. Sie - die Kläger - seien am 1. August 2020 von Syrien unter anderem über Rumänien nach Deutschland gelangt, wo sie am 11. Oktober 2020 eingetroffen seien. Sie habe sich von ihrem Ehemann getrennt, nachdem er sie und die Kinder geschlagen gehabt habe und spurlos verschwunden sei. In Rumänien sei sie am 18. September 2020 festgenommen worden und habe sie ihre Fingerabdrücke abgegeben, da man ihr ansonsten die Abschiebung nach Syrien angedroht habe. Sie habe aber von Anfang an nach Deutschland reisen wollen. Einen Asylantrag habe sie nicht gestellt; etwa nach einem Monat sei sie von Rumänien aus weitergereist, nachdem sie fünf Tage in einem Flüchtlingslager in Timisoara gewesen sei. Dieses habe sie verlassen, um mit dem wartenden Schleuser und anderen zusammen nach Deutschland weiterzureisen. In Rumänien habe sie niemanden; in Deutschland lebe ihre Tante. Die Scheidung von ihrem Ehemann sei am 15. April 2020 erfolgt; danach habe sie keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Der Großvater in Syrien habe die Ausreise (nach Deutschland) bezahlt. Sie selbst habe neun Jahre lang eine Schule besucht und sei Hausfrau gewesen. In Syrien habe sie Probleme mit der Familie ihres geschiedenen Ehemanns gehabt, die ihr die Kinder habe wegnehmen wollen. Die Nachbarn sowie der besagte Großvater hätten geholfen.

Unter dem 9. Dezember 2020 erklärte die rumänische Behörde (erneut) ihre Wiederaufnahmebereitschaft bezüglich der Kläger.

Das Bundesamt lehnte die Asylanträge der Kläger mit am 21. Dezember 2020 zugestelltem Bescheid vom 11. Dezember 2020 als unzulässig ab (Ziffer 1); weiter versagte es die Feststellung der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots (Ziffer 2), ordnete es die Abschiebung der Kläger nach Rumänien an (Ziffer 3) und verfügte es ein auf neun Monate befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziffer 4). Zur Begründung der Unzulässigkeitsentscheidung stützt sich der Bescheid auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.

Am 23. Dezember 2020 haben die Kläger die vorliegende Klage sowie einen Eilantrag bei dem Verwaltungsgericht Potsdam angebracht, das beide Verfahren mit Beschlüssen vom 27. Januar 2021 an das erkennende Gericht verwiesen hat. Den Eilantrag hat der Einzelrichter mit Beschluss vom 1. März 2021 abgelehnt, da angesichts der rumänischen Mitteilung die internationale Zuständigkeit Rumäniens für die Prüfung der Asylanträge der Kläger feststehe und eine abweichende Zuständigkeit für Deutschland nicht ersichtlich sei; auch aus formalen Gründen sei kein Zuständigkeitsübergang auf Deutschland erkennbar. Rumänien weise überdies keine systemischen Schwachstellen im Sinne des Unionsrechts auf (VG 10 L 33/21.A).

Nachdem sich am 1. März 2021 ein Rechtsanwalt mit Vollmacht vom 18. Januar 2021 für die Kläger bestellt hatte und sich die jetzige Prozessbevollmächtigte der Kläger später am 29. April 2021 ohne Vollmachtsvorlage bestellt hatte, erfolgten gegen Empfangsbekenntnisse vom 10. Mai 2021 die Ladungen der Kläger sowie der Beklagten zur mündlichen Verhandlung. Am 11. Mai 2021 legte die jetzige Prozessbevollmächtigte ihre schriftliche Vollmacht vom 23. April 2021 vor und am 26. Mai 2021 zeigte der zuvor bestellte Rechtsanwalt an, dass er die Kläger nicht mehr vertrete. Die Terminsaufhebungsanträge der jetzigen Prozessbevollmächtigten vom 11. Mai 2021, 14. Mai 2021, 22. Mai 2021 und 30. Mai 2021 hat der Vorsitzende unter Hinweis auf die ordnungsgemäße Ladung des früheren Prozessbevollmächtigten und die bis dahin fehlenden Belege zu einer früheren Mandatsbeendigung des zunächst bestellten Prozessbevollmächtigten abgelehnt.

Der Vertreter der Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass sich die Kläger in einem sog. Kirchenasyl befänden; sie selbst oder gar ihre Prozessbevollmächtigten haben hierzu nichts mitgeteilt.

Die Kläger beantragen sinngemäß,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Dezember 2020 aufzuheben, hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des genannten Bescheides zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots in Bezug auf Rumänien vorliegen.

Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf den angegriffenen Bundesamtsbescheid,

die Klage abzuweisen.

Wegen aller weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (Klage-, Eilverfahren) und den vorgelegten Bundesamtsvorgang Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

1.

Das Gericht kann am angesetzten Terminstag verhandeln und entscheiden; es liegt kein erheblicher Grund für eine Terminsaufhebung i. S. v. § 173 VwGO i.V.m. § 227 ZPO vor: Die Kläger sind am 10. Mai 2021 wirksam und rechtzeitig geladen worden. Den Umstand, dass sie ihre Prozessbevollmächtigung geändert haben und die nunmehr allein bestellte Prozessbevollmächtigte, die (nur) vorsorglich wie der zunächst mit Vollmacht aufgetretene frühere Prozessbevollmächtigte geladen worden ist, am vorgesehenen Terminstag verhindert ist, müssen sie sich deshalb zurechnen lassen, weil die Mandatsbeendigung des früheren Prozessbevollmächtigten erst nach der Ladungszustellung glaubhaft gemacht worden ist und weil die Terminsaufhebung zu einer Verzögerung des Rechtsstreits führen würde. Im Übrigen sind die Kläger gemäß § 102 Abs. 2 VwGO belehrt worden.

2.

Die vorliegende Klage ist im Hauptantrag als Anfechtungsklage, in Bezug auf ein nationales Abschiebungsverbot hilfsweise als Verpflichtungsklage (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 2015 - 1 C 32.14 - juris Rn. 13 ff.) sowie bezüglich des Einreise- und Aufenthaltsverbots wiederum hilfsweise als Anfechtungsklage statthaft und innerhalb der hier maßgeblichen einwöchigen Klagefrist rechtzeitig erhoben worden; sie hat in der Sache Erfolg: Die angefochtene Überstellungsentscheidung erweist sich inzwischen (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AsylG) als rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), so dass alle Folgeregelungen des Bescheides der Aufhebung unterliegen.

3.

Die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 der Überstellungsentscheidung beruht auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a AsylG. Dessen Voraussetzungen sind hier auf den ersten Anschein erfüllt: Rumänien scheint für die Prüfung der Asylanträge der Kläger international zuständig. Dies folgt in Ansehung der rumänischen Wiederaufnahmeerklärungen und insoweit in Übereinstimmung mit den Angaben der Klägerin zu 1. zu ihrem Voraufenthalt in Rumänien aus Art. 18 Abs. 1 Buchstabe d Dublin-III-VO. Demnach scheint Rumänien als derjenige Mitgliedstaat des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems als zuständig, in welchem zuvor ein entsprechender Antrag der Kläger abgelehnt worden ist. Rumänien hat seine Zuständigkeit in seinen Antwortschreiben auf die deutsche Wiederaufnahmeanfrage fristgerecht bestätigt.

Unter solchen Bedingungen kommt es angesichts der feststehenden internationalen Zuständigkeit Rumäniens nicht (mehr) auf die Frage an, ob - in Bezug auf Rumänien - die zuständigkeitsbegründenden Voraussetzungen des Kapitels III der Dublin-III-Verordnung vorliegen (EuGH, Urteil vom 2. April 2019 - Rs. C-582/17 u.a. „H, R“ - NVwZ 2019, 870 [Rn. 67 des Urteils]), es sei denn, die betroffene Person (hier: die Kläger) übermittelt dem um Wiederaufnahme ersuchenden Mitgliedstaat (hier: Deutschland) Gesichtspunkte, die offensichtlich belegen, dass dieser Mitgliedstaat gemäß den Zuständigkeitskriterien als der für die Prüfung des Antrags zuständige Mitgliedstaat anzusehen ist (EuGH a.a. O. Rn. 83). Letzteres ist nicht der Fall, insbesondere vermittelt der Aufenthalt einer Tante der Klägerin zu 1. in Deutschland keine internationale Zuständigkeit. Auch das gewillkürte sog. Kirchenasyl bewirkt keinen Zuständigkeitsübergang außerhalb der Rechtsordnung.

Es liegen auch keine Anhaltspunkte für eine aus formellen Gründen des Verwaltungsverfahrens eingetretene Zuständigkeit Deutschlands zu Tage.

Allerdings ist in Ansehung der in das Verfahren eingeführten Unterlagen und mit Blick auf die konkrete Situation der hiesigen Kläger von Amts zu berücksichtigen, dass es stichhaltige Hinweise auf - unter den Bedingungen des Unionsrechts - unzureichende Bedingungen in Rumänien gibt. Insoweit entsprechen die Aufnahmebedingungen in Rumänien für Personen in der Situation der Kläger, deren Antrag auf internationalen Schutz in Rumänien abgelehnt worden ist, die nach rumänischer Rechtslage als Folgeantragsteller behandelt werden und bei welchen es sich um eine alleinerziehende Mutter mit zwei derzeit 8 bzw. (noch) 6 Jahre alten Kindern handelt, nicht den unionsrechtlichen Mindeststandards.

Art. 4 GRCh schließt eine auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gestützte Unzulässigkeitsentscheidung im vorliegenden Falle aus, weil den Klägern im Staat der internationalen Zuständigkeit die ernsthafte Gefahr eines Verstoßes gegen die Gewährleistungen des Art. 4 GRCh droht (zum Maßstab: EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. - und Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. -).

Zwar streitet gegen eine Verletzung von Art. 4 GRCh die im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geltende Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der EMRK steht. Die Anwendung dieser Vermutung ist nicht disponibel, sondern zwingend (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - Rn. 41).

Die zur Widerlegung dieser Vermutung und zur Annahme systemischer Schwachstellen i.S.v. Art. 3 Abs. 2 2. UA Dublin-III-VO führende besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 – juris Rn. 90). Daher ist das Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der ein neuer Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt wurde, in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die der jeweilige Antragsteller vorgelegt hat, um das Vorliegen eines solchen Risikos in dem international zuständigen Mitgliedstaat nachzuweisen, oder wenn entsprechende Erkenntnisse von Amts wegen bekannt sind, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 - juris Rn. 88).

Vorliegend ist die unionsrechtliche Vermutung widerlegt, da dem Gericht objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Erkenntnisse zur Verfügung stehen, wonach sich die Kläger im Fall der Überstellung nach Rumänien angesichts ihrer spezifischen Situation in einer Situation extremer materieller Not befänden, die es ihnen nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.

Zwar entsprechen das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende in Rumänien hinsichtlich der Verfahrensgarantien sowie mit Blick auf Unterkunft, Erwerbsmöglichkeit und Gesundheitsfürsorge grundsätzlich den Unionsstandards; insoweit nimmt das Gericht auf die Gründe des ablehnenden Eilbeschlusses vom 1. März 2021 Bezug.

Allerdings können die Kläger nach der Erkenntnislage nach einer Überstellung in Rumänien nunmehr - anders noch als im Zeitpunkt der Eilantragsablehnung - lediglich einen Folgeantrag stellen, der im Hinblick auf die Aufnahmebedingungen sowie die materielle Versorgung mit einer nachteiligen Rechtsstellung gegenüber „normalen“ Asyl(erst)antragstellern verbunden ist; hierin ist zum jetzt maßgeblichen Zeitpunkt - und somit anders als noch im Zeitpunkt der ablehnenden Eilantragsbescheidung - eine Verletzung in Art. 4 GRCh zu erkennen.

Nach dem AIDA-Country Report Romania von April 2020 (S. 55 f.) enthält das rumänische Asylgesetz Bestimmungen über Fälle der ausdrücklichen und stillschweigenden Rücknahme eines Asylantrags. Eine ausdrückliche oder stillschweigende Rücknahme eines Asylantrags liegt vor, wenn der Asylbewerber zum vorgesehenen Termin für die vorläufige Anhörung oder die persönliche Anhörung nicht anwesend ist, ohne triftige Gründe für sein Fernbleiben vorzubringen. Im Falle einer stillschweigenden Rücknahme wird die Entscheidung, die Akte zu schließen, nach Ablauf einer Frist von 30 Tagen ab dem Datum des genannten Berichts erlassen. Nimmt der Asylbewerber seinen Asylantrag ausdrücklich zurück, so gilt dies als ausdrückliche Rücknahme des Asylantrags. Der Asylbewerber muss über die Folgen seiner Rücknahme in einer Sprache informiert werden, die er versteht oder von der angenommen werden kann, dass er sie versteht. Wenn ein Asylantrag stillschweigend zurückgenommen und das Asylverfahren eingestellt wurde (d.h. der Fall einer Person, die Rumänien verlassen hat und in einen anderen EU-Mitgliedstaat umgezogen ist), kann das Asylverfahren fortgesetzt werden, wenn die Person innerhalb von 9 Monaten nach der Entscheidung über die Schließung der Akte, die wegen stillschweigender Rücknahme erlassen wurde, einen Wiederaufgreifensantrag stellt. Wenn die Frist abgelaufen ist, wird der Asylantrag als Folgeantrag betrachtet. Daher können Personen, die ihren Asylantrag ausdrücklich zurückgenommen haben, ohne das Hoheitsgebiet der EU zu verlassen oder in einen Drittstaat oder das Herkunftsland zurückgeführt zu werden, ihr Asylverfahren im Falle einer Rückkehr nach Rumänien nicht fortsetzen. Infolgedessen müssen sie einen Folgeantrag stellen. Damit stimmt das Asylgesetz nicht vollständig mit Artikel 18 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung überein, der Antragstellern, deren Anträge zurückgezogen wurden, den Zugang zum Verfahren ermöglicht, ohne einen Folgeantrag zu stellen.

Diese Verfahrenspraxis im rumänischen Asylsystem steht im Einklang mit Art. 28 Abs. 2 2. UA der Richtlinie 2013/32/EU: Gem. Art. 28 Abs. 1 2. UA Buchstabe b stellen die Mitgliedstaaten zwar sicher, dass die Asylbehörde - sofern sie den Antrag nicht nach einer inhaltlichen Prüfung ablehnt - entscheidet, die Antragsprüfung einzustellen, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass ein Antragsteller seinen Antrag stillschweigend zurückgenommen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt, was unter anderem der Fall ist, wenn er untergetaucht ist oder seinen Aufenthaltsort ohne Genehmigung verlassen hat und nicht innerhalb einer angemessenen Frist die zuständige Behörde kontaktiert. Nach Art. 28 Abs. 2 1. UA der Richtlinie 2013/32/EU haben die Mitgliedstaaten weiter sicherzustellen, dass ein Antragsteller, der sich nach der Einstellung der Antragsprüfung wieder bei der zuständigen Behörde meldet, berechtigt ist, um Wiedereröffnung des Verfahrens zu ersuchen oder einen neuen Antrag zu stellen, der nicht nach Maßgabe der Art. 40 und 41 als Folgeantrag geprüft wird. Allerdings können die Mitgliedstaaten gem. Art. 28 Abs. 2 2. UA Satz 1 der Richtlinie 2013/32/EU - wie es Rumänien offensichtlich festgelegt hat - eine Frist von mindestens neun Monaten vorschreiben, nach deren Ablauf das Verfahren nicht wiedereröffnet werden darf bzw. der neue Antrag als Folgeantrag behandelt und nach Maßgabe der Art. 40 und 41 geprüft werden kann.

Dass diese Verfahrenspraxis gegen Art. 18 Abs. 2 2. UA Dublin-III-VO verstößt, macht diese nicht unionsrechtswidrig und führt daher auch nicht zur Annahme eines systemischen Mangels. Denn gem. Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU gilt dieser Artikel unbeschadet der Dublin-III-VO und damit auch des Art. 18 Abs. 2 Dublin-III-VO. Stellen Art. 8 Abs. 2 2. UA Dublin-III-VO und Art. 28 Abs. 2 2. UA der Richtlinie 2013/32/EU aber divergierende, sich gegenseitig ausschließende Anforderungen an die Ausgestaltung des Wiederaufgreifens nach Einstellung des Asylverfahrens wegen Untertauchens, ergibt sich aus der Kollisionsnorm des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU der Vorrang dieser gegenüber der Dublin-III-VO. Denn letztere enthält keine derartige Ungeachtetheitsklausel, woraus angesichts des gleichzeitigen Erlasszeitpunktes der beiden EU-Rechtsakte geschlossen werden kann, dass die Regelung in der Verfahrensrichtlinie derjenigen in der Dublin-III-Verordnung im Kollisionsfall vorgehen soll. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus anderen Bestimmungen beider Rechtsakte bzw. aus dem Umstand, dass es sich bei der Verfahrensrichtlinie „lediglich“ um eine (nur ihrem Ziel nach verbindliche) Richtlinie handelt, bei der Dublin-III-Verordnung hingegen um eine unmittelbar geltende und vollumfänglich verbindliche Verordnung (vgl. Art. 288 AUEV). Denn mit dieser legistischen Unterscheidung ist nicht die Wirkung verknüpft, dass die von der Richtlinie ausgehenden rechtlichen Bindungswirkungen geringeres Gewicht hätten (VG Sigmaringen, Urteil vom 19. Februar 2021 - A 13 K 183/19 - juris Rn. 39 ff.).

Selbst wenn man dies anders sehen wollte, könnte in einer allenfalls zweifelhaften, nur möglicherweise unionsrechtswidrigen Asylverfahrenspraxis in jedem Fall kein systemischer Mangel erblickt werden.

Die internationalen Schutzanträge der Kläger waren - nach ihrem Untertauchen in Rumänien - ausweislich der rumänischen Mitteilung vom 20. November 2020 am 23. Oktober 2020 abgelehnt worden; hierin kann nach den erkennbaren Umständen lediglich eine Ablehnung wegen fingierter Antragsrücknahme gesehen werden, nachdem sich die Kläger nach den Angaben der Klägerin zu 1. nur fünf Tage lang in der Aufnahmeeinrichtung in Timisoara aufgehalten hatten. Hiermit korrespondiert die rumänische Mitteilung, wonach die Asylanträge der Kläger am 18. September 2020 gestellt worden und die Kläger am 23. September 2020 untergetaucht seien. Nachdem es die Beklagte schon bislang nicht vermocht hat, die vollziehbare Abschiebungsanordnung durchzusetzen, erscheint es dem Gericht als praktisch ausgeschlossen, dass dies bis zum Ablauf der erwähnten Neunmonatsfrist noch gelingen wird, so dass lebensnah davon auszugehen ist, dass den Klägern in Rumänien nunmehr lediglich die Möglichkeit eröffnet ist, einen Folgeantrag anzubringen. Unter diesen Umständen aber dürfte es für sie deshalb nicht möglich sein, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, weil ihre Unterbringungssituation zweifelhaft ist und es für sie unzumutbar schwierig sein dürfte, eine hinreichende Lebensgrundlage zu finden.

Gemäß dem genannten AIDA-Länderbericht haben Folgeantragsteller keinen Anspruch auf materielle Versorgung durch den rumänischen Staat (vgl. eda. S. 87 unter Bezugnahme auf Art. 88 des rumänischen Asylgesetzes; VG Sigmaringen a.a.O. Rn. 42).

Die dargestellte Praxis der fehlenden Unterbringung und materiellen Versorgung von Folgeantragstellern in Rumänien verstößt gegen Art. 20 Abs. 1 Buchstabe c der Richtlinie 2013/33/EU. Denn darin heißt es, dass die Mitgliedstaaten die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in begründeten Ausnahmefällen einschränken oder entziehen, wenn ein Antragsteller einen Folgeantrag nach Art. 2 Buchstabe q der Richtlinie 2013/32/EU gestellt hat. Hiervon weicht die rumänische Praxis ab, indem Asylfolgeantragstellern nicht nur in begründeten Ausnahmefällen, sondern vielmehr regelmäßig und automatisch die materielle Versorgung vorenthalten wird. Dass dies der Fall ist, ergibt sich aus dem Gesamtkontext der zitierten Fundstelle bei AIDA. Denn dort heißt es weiter, dass eine Einzelfallprüfung der Bedürftigkeit an materieller Versorgung (auf Antrag) nur „normalen“ Asylerstantragstellern zuteil wird. Im Umkehrschluss kann hieraus geschlossen werden, dass ebendies bei Asylfolgeantragstellern nicht der Fall ist, dass diesen vielmehr die Unterstützungsleistungen per se nicht offenstehen.

Diese unionsrechtswidrige Verfahrenspraxis führt - unabhängig von der Frage, ob sie für sich genommen bereits einen systemischen Mangel im Sinne der früheren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a., N.S. u.a. - NVwZ 2012, 417; 14. November 2013 - C-4/11, Puid - NVwZ 2014, 129) darstellt - im Einzelfall zu der Annahme, dass den Klägern im Falle ihrer Überstellung nach Rumänien dort eine Verletzung in Art. 4 GRCh droht. Denn es kann der Klägerin zu 1. nicht zugemutet werden, sich - wie es sonst im asylrechtlichen System der Subsidiarität allgemein verlangt werden darf - um einen auskömmlichen Lebensunterhalt, also Unterkunft, Broterwerb und sonstige Belange, eigeninitiativ und ggf. mit Unterstützung karitativer Organisationen zu kümmern, weil sie mit den beiden minderjährigen Klägern zu 2. und 3. auf sich allein gestellt ist. Zwar unterliegt der Kläger zu 2. in Rumänien der Schulpflicht, die dort vom 7. bis zum 15. Lebensjahr besteht, so dass dessen Betreuung jedenfalls während der Schulstunden anderweit abgesichert sein sollte. Freilich ist die Klägerin zu 3. noch nicht schulpflichtig und die Klägerin zu 1. daher gehindert, sich unabhängig von der ganztägigen Betreuungspflicht hinsichtlich ihrer Kinder um den Erwerb der Lebensgrundlage zu kümmern.

Nach alledem unterliegt die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des angegriffenen Bundesamtsbescheids der Aufhebung mit der Folge, dass auch alle weiteren Regelungen des Bescheides einer rechtlichen Grundlage entbehren.

4.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.