Gericht | VG Frankfurt (Oder) 7. Kammer | Entscheidungsdatum | 31.05.2021 | |
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Aktenzeichen | 7 K 122/16.A | ECLI | ECLI:DE:VGFRANK:2021:0531.7K122.16.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 29 Abs 1 Nr 2 AsylVfG 1992, Art 3 MRK |
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. Januar 2016 wird mit Ausnahme von Ziffer 2 Satz 4 aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 vom Hundert des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils beizutreibenden Betrages leistet.
Der Kläger begehrt die Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung, hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbots.
Der durch syrischen Reisepass ausgewiesene, am 1. Juni 1972 geborene Kläger meldete sich am 4. August 2015 bei der Bundespolizei am Flughafen Schönefeld als Asylbegehrender und stellte am 7. September 2015 einen förmlichen Asylantrag. Dort legte er unter anderem eine von der griechischen Asylbehörde (Asylum Service) am 19. Juni 2015 ausgestellte Identitätskarte vor, die ihn als Flüchtling ausweist, ferner ein am 8. Juli 2015 ausgestelltes griechisches Reisedokument.
Dem Kläger wurde unter dem 7. September 2015 ein Fragebogen übergeben, um ihm die Möglichkeit zu geben, in einem beschleunigten, schriftlichen Verfahren die Gründe für sein Schutzersuchen im Bundesgebiet darzulegen. Er füllte ihn aus und bestätigte, am beschleunigten Verfahren ohne persönliche Anhörung teilnehmen zu wollen.
Mit Bescheid vom 20. Januar 2016 wies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) den Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1), forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, drohte für den Fall, dass die Ausreisefrist nicht eingehalten werde, die Abschiebung nach Griechenland an und stellte ferner fest, dass der Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden dürfe (Ziffer 2). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 3). Das Bundesamt führte zur Begründung aus, dem Kläger sei bereits in Griechenland, einem sicheren Drittstaat gemäß § 26a AsylG internationaler Schutz zuerkannt worden. Zwar ordne das Bundesamt gemäß § 34a AsylG grundsätzlich die Abschiebung an; eine Abschiebungsandrohung sei aber als milderes Mittel ebenfalls zulässig. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate sei angemessen. Es sei nichts vorgetragen worden, was im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen gewesen wäre.
Der Kläger hat hiergegen am 5. Februar 2016 Klage erhoben.
Er trägt vor, er sei in Griechenland - obwohl er internationalen Schutz erhalten habe - obdachlos gewesen und habe keinen Zugang zu sozialen oder medizinischen Leistungen gehabt. Er habe sein Essen aus dem Müll suchen und nachts ungeschützt auf der Straße schlafen müssen. Es fehle für seine Rücküberführung an der erforderlichen Zustimmung Griechenlands. Ferner drohten dem Kläger in Griechenland Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit und es sei nicht davon auszugehen, dass er Sozial- oder Integrationsleistungen erhalten werde. Dies stelle eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung gemäß Art. 3 EMRK dar. Darüber hinaus drohe eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 3 GG, weil er, anders als es vorher die Verwaltungspraxis gewesen sei, aufgrund seiner Flüchtlingsanerkennung in Griechenland dorthin abgeschoben werden solle. Schließlich leide er an diversen Krankheiten, zu deren Behandlung ihm Medikamente verordnet worden seien, die er in Griechenland nicht finanzieren könne.
Er beantragt,
den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. Januar 2016 aufzuheben,
hilfsweise,
festzustellen, dass Abschiebungsverbote hinsichtlich Griechenlands vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor, die Umstände, auf die der Kläger in Griechenland treffen werde, seien zwar schwierig, aber nicht derart schwerwiegend, dass es ihm nicht möglich sei, elementarste Bedürfnisse wie Ernährung oder Unterkunft sicherzustellen. Nach einer Übergangszeit werde der Kläger in der Lage sein, wenigstens durch Hilfs- und Gelegenheitstätigkeit jedenfalls einen Teil seines Lebensunterhalts selbst zu sichern. Beispielsweise könne er mit seiner Berufserfahrung als Seemann im nautischen Bereich oder einem Seehafen, wie im internationalen Hafen von Piräus Fuß fassen, schließlich befänden sich 21 Prozent der weltweiten und 53 Prozent der europäischen Handelsflotte in den Händen griechischer Interessen.
Die Kammer hat in der mündlichen Verhandlung am 1. Oktober 2019 den Kläger ausführlich zu seinem Schicksal befragt. Insoweit wird auf die Niederschrift zur Sitzung verwiesen. Ferner hat Kammer beschlossen, Auskünfte des Auswärtigen Amtes, von Pro Asyl und der Caritas Griechenland einzuholen. Pro Asyl hat am 31. Januar 2020 eine entsprechende Auskunft erteilt, die Caritas am 26. Mai 2020 und die deutsche Auslandsvertretung in Athen hat am 18. Juni 2020 die Anfrage zur medizinischen Versorgung beantwortet, während das Auskunftsersuchen an das Auswärtige Amt trotz Nachfrage unbeantwortet blieb.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen.
Die Kammer konnte ohne weitere mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).
Die Klage hat mit ihrem Hauptantrag Erfolg.
Dabei ist das Anfechtungsbegehren des Klägers sachdienlich dahingehend auszulegen, dass dies nicht die Feststellung in Ziffer 2 Satz 4 des angefochtenen Bescheids erfasst. Denn die Feststellung, dass der Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden darf, ist eine den Kläger ausschließlich begünstigende (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15/18 -, juris Rn. 7).
Die so verstandene Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid vom 20. Januar 2016 ist – soweit er angefochten wurde – rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Als Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids kommt der mittlerweile grundsätzlich einschlägige § 29 Abs. 1 Nr. 2 Asylgesetz (AsylG) nicht in Betracht. Nach dieser Norm ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dem Kläger ist in Griechenland – wie sich der am 19. Juni 2015 ausgestellten Identitätskarte entnehmen lässt – internationaler Schutz zuerkannt worden. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG kann hier aber nicht zu Anwendung kommen.
Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie), der durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in deutsches Recht umgesetzt wird, dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, von der durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtecharta (GRCh) bzw. des diesem entsprechenden Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu erfahren (EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 (Hamed und Omar) -, juris Rn. 43, sowie Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. (Ibrahim) -, juris Rn. 83 bis 94 und - C-163/17 (Jawo) -, juris Rn. 81 bis 97).
Dem Kläger droht im Fall seiner Rückkehr nach Griechenland die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK. Eine solche ist nach der Rechtsprechung des EuGHs dann gegeben, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris Rn. 87 bis 92; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540 und 541/17 (Hamed und Omar) -, juris Rn. 39). Hiervon ist auszugehen, wenn der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in Griechenland in eine Situation extremer materieller Not geraten wird und seine elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) für einen längeren Zeitraum nicht wird befriedigen können (vgl. OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris Rn. 30 und Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris Rn. 29 ff. m. w. N.).
a. Unter Würdigung der vorliegenden Erkenntnisquellen ist davon auszugehen, dass der Kläger, der über keinen familiären Rückhalt in Griechenland verfügt, im Falle seiner Rückkehr vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig sein wird.
Aus rechtlicher Sicht hat der Kläger zwar Zugang zum Arbeitsmarkt, jedoch spricht nichts dafür, dass er durch eigene Arbeitsleistung in absehbarer Zeit ein ausreichendes Einkommen erzielen können wird, um sein Existenzminimum zu sichern. Dies gilt auch unter Berücksichtigung seiner früheren Tätigkeit als Seemann. Denn durch die allgemeine Finanz- und Wirtschaftskrise in Griechenland haben sich die Arbeitschancen allgemein deutlich verschlechtert. Nach einer zwischenzeitlichen Erholung der Wirtschaft und einem Absinken der Arbeitslosenquote auf gleichwohl hohem Niveau (16,1 % im Februar 2020) wird infolge der Corona-Krise mit einem erneuten Anstieg gerechnet (auf 19,9 bis 22,3%; Handelsblatt vom 3. Juni 2020: In Griechenland droht Massenarbeitslosigkeit; im Internet abrufbar unter: https://www.handelsblatt.com/politik/international/neue-wirtschaftskrise-in-griechenland-droht-massenarbeitslosigkeit/25879494.html). Vor dem Hintergrund dieser verschlechterten wirtschaftlichen Lage bedarf es keines weiteren Zuwartens auf die Antwort des Auswärtigen Amtes zur Frage nach den Chancen zurückkehrender anerkannter Schutzberechtigter auf dem Arbeitsmarkt in Bezug auf Hilfsarbeitertätigkeiten.Zwar trifft es zu, dass der Seehandel derzeit einen Aufschwung erlebt. Da der Kläger aber nicht über besondere Qualifikationen für die Hafenarbeit verfügt, kann angesichts der insgesamt ungünstigen wirtschaftlichen Lage nicht davon ausgegangen werden, dass er in dieser Branche eine auskömmliche Arbeit finden wird. Soweit die Beklagte weiter auf Griechenlands Rolle als führende Seehandelsmacht hinweist, besagt dies nichts darüber, ob es für den Kläger in Griechenland aufgrund seiner Berufserfahrung als Seemann einfacher als für sonstige Arbeitssuchende wäre, eine Anstellung zu bekommen. Der Großteil der Schiffe griechischer Eigner fährt keine griechischen Häfen an und dürfte auch seine Besatzungen nicht in Griechenland rekrutieren (vgl. Welt vom 17. Juni 2016, Griechenland dominiert die Schifffahrt wie nie zuvor, im Internet abrufbar unter: https://amp.welt.de/wirtschaft/article156304996/Griechenland-dominiert-die-Schifffahrt-wie-nie-zuvor.html).Drittstaatsangehörige sind in der Arbeitslosenstatistik ohnehin überrepräsentiert. Die wenigen, die Arbeit finden, werden nicht im sozialversicherungspflichtigen Sektor tätig (AIDA, Country Report: Greece 2019, S. 220 unter Verweis auf eine Stellungnahme der Hellenic Foundation for European und Foreign Policy vom März 2018). Auf eine Erwerbstätigkeit in sog. „Schwarzarbeit“, also unter verbotswidriger Vorenthaltung entsprechender Abgaben, kann der Kläger jedoch nicht verwiesen werden (OVG NRW, Urteil vom 22. Januar 2021 - 11 A 2982/20.A -, juris Rn. 80 ff. m. w. N.).
Der Kläger kann sich zwar grundsätzlich arbeitslos melden und so in den Genuss von Fortbildungsprogrammen und Vergünstigungen kommen (US-Außenministerium, Greece 2019 Human Rights Report, S. 17), nämlich die kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, kostenloser Eintritt in Museen und Ermäßigung für Gas-, Wasser- und Stromrechnungen, einige Fast-Food-Restaurants und einige Mobilfunkangebote (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Chemnitz vom 1. Februar 2019, S. 4). Anspruch auf finanzielle Unterstützung vermittelt die Arbeitslosenkarte nicht.
Soweit der Kläger während seines ersten Griechenlandaufenthalts von einem mittlerweile in Frankreich lebenden Onkel und einem in Saudi-Arabien lebenden Bruder finanziell unterstützt wurde, ist nicht bekannt, unter welchen Umständen diese Verwandten des Klägers mittlerweile leben und ob sie dazu in der Lage und willens sind, aus dem Ausland fortgesetzt für den Lebensunterhalt des Klägers in Griechenland zu sorgen.
b. Es ist ernsthaft zu befürchten, dass der Kläger nach seiner Rückkehr in Griechenland in eine Situation extremer materieller Not gerät.
aa. Dies gilt zunächst mit Blick darauf, dass der Kläger in Griechenland nach der gegenwärtigen Erkenntnislage voraussichtlich keine menschenwürdige Unterkunft finden wird. Die Kammer hat das Auswärtige Amt im Dezember 2019 danach befragt, welche Aussichten zurückkehrende anerkannte Schutzberechtigte haben, in absehbarer Zeit eine Unterkunft zu finden, aber keine Antwort erhalten. Angesichts der mittlerweile vorliegenden, umfangreichen Informationen wird nunmehr ohne die erbetene Auskunft entschieden.
Da es für anerkannte Schutzberechtigte in Griechenland ebenso wie für Inländer kein staatliches Programm für Wohnungszuweisungen gibt (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Bayreuth vom 21. August 2020, S. 1), sind sie darauf angewiesen, selbst eine Wohnung zu finden. Allerdings ist davon auszugehen, dass es für den Kläger ausgeschlossen sein wird, eine eigene Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt zu finden. Der Wohnungsmietmarkt in Griechenland ist sehr begrenzt; traditionell wird bevorzugt an Familienmitglieder, hilfsweise Bekannte und Studenten vermietet (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Schwerin vom 26. September 2018, S. 5). Dafür, dass der Kläger unter Berücksichtigung der ihm zumutbaren Eigeninitiative in absehbarer Zukunft aus eigenen finanziellen Mitteln Mietzahlungen wird bestreiten können, spricht nach oben Gesagtem ohnehin gegenwärtig nichts. Zudem hat der Kläger keinen Anspruch auf wohnungsbezogene Sozialleistungen in Form von Wohngeld, das zum 1. Januar 2019 eingeführt wurde, da hierfür ein fünfjähriger dauerhafter und legaler Aufenthalt in Griechenland Voraussetzung ist (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Bayreuth vom 21. August 2020, S. 1); diese Voraussetzung erfüllt der Kläger nicht.
Als zurückkehrender anerkannter Schutzberechtigter hat der Kläger auch keinen Zugang zu einer Unterbringung im Rahmen des EU-finanzierten und durch das UNHCR betriebenen ESTIA-Programms (Emergency Support to Accomodation and Integration System; RSA/Pro Asyl, Auskunft an VG Frankfurt (Oder) vom 31. Januar 2020, S. 3). Der Fokus existierender Unterkunftsprogramme liegt bisher auf Asylbewerbern; seit einer Gesetzesänderung im März 2020 müssen Schutzberechtigte innerhalb von 30 Tagen nach ihrer Anerkennung Schutzeinrichtungen, einschließlich ESTIA-Unterkünfte, verlassen (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Magdeburg vom 26. November 2020, S. 2; AIDA, Country Report: Greece 2019, S. 219). Soweit aktuell knapp 6.200 anerkannte Schutzberechtigte Unterkünfte im Rahmen des UNHCR Accomodation Schemes bewohnen (UNHCR, Greece Factsheet December 2020, S. 5, https://data2.unhcr.org/en/documents/details/84481), handelt es sich wohl um solche, die nach der Anerkennung noch in ihren früheren ESTIA-Unterkünften geblieben sind (vgl. AIDA, Country Report: Greece 2019, S. 219).
Die zwischen EU-Kommission und griechischer Regierung abgestimmte Finanzplanung für das Jahr 2018 sah die Schaffung von 5.000 Wohnplätzen für anerkannte Schutzberechtigte vor, die nach ihrer Bereitstellung auch aus dem Ausland kommenden anerkannten Schutzberechtigten zur Verfügung stünden (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Greifswald vom 26. September 2018, S. 2). Erkenntnisse darüber, ob diese Wohnplätze mittlerweile bezugsfertig sind, liegen aber nicht vor. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass im ESTIA-Programm derzeit ca. 28.000 Personen untergebracht sind, von denen – wie oben bereits ausgeführt – knapp 6.200 anerkannte Flüchtlinge sind (UNHCR, Greece Factsheet December 2020, S. 5, https://data2.unhcr.org/en/documents/details/84481), die vor allem in den zu schaffenden Wohnraum für anerkannte Schutzberechtigte drängen werden. Selbst wenn diese Wohnplätze realisiert würden, ist daher die Chance des Klägers, dort einen Wohnplatz zu finden, minimal.
Das 2019 gestartete, von der Europäischen Kommission finanzierte und von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) durchgeführte HELIOS 2 Programm, das sich an anerkannte Schutzberechtigte richtet, bietet zwar finanzielle Unterstützung zur Anmietung von Wohnraum. Eine Teilnahme an dem Programm kommt aber nach derzeitigem Erkenntnisstand für den Kläger nicht in Betracht, schon weil eine der Voraussetzungen ist, dass der Antrag auf Aufnahme in das Programm innerhalb von 30 Tagen nach der Anerkennung des internationalen Schutzstatus gestellt wird (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Magdeburg vom 26. November 2020, S. 2 f.).
Zwar unterstützen Vereine und Nichtregierungsorganisationen anerkannte Schutzberechtigte bei der Wohnungssuche (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Stade vom 6. Dezember 2018, S. 2 f.; Survival Guide for Asylum Seekers and Refugees, Hrsg. Ärzte der Welt - Griechenland, Stand: Juni 2018, S. 13 ff.; im Internet unter: https://data2.unhcr.org/en/documents/download/64729) und verfügen teilweise selbst über Unterbringungsmöglichkeiten. Die Zahl der Unterkünfte ist gleichwohl nicht ausreichend (OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 2982/20.A -, juris Rn. 41 f. m. w. N.; VG Aachen, Urteil vom 6. Mai 2020 - 10 K 1722/18.A -, juris Rn. 86 ff. m. w. N.).
Vor diesem Hintergrund ist zu befürchten, dass auch der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Griechenland akut von Obdachlosigkeit bedroht ist. Obdachlosigkeit ist in Griechenland bereits seit längerer Zeit ein Problem, das insbesondere in Athen sichtbar wird. So wurde 2019 die Zahl der Obdachlosen im Athener Stadtgebiet auf ca. 1.500 geschätzt (TAZ vom 1. August 2019, Obdachlosigkeit in Griechenland – Mit einem Buchhandel aus der Not; im Internet unter: https://taz.de/Obdachlosigkeit-in-Griechenland/!5610043/). Im Sommer 2020 wurde von Hunderten Flüchtlingen, die auf dem Viktoria-Platz in Athen lebten, berichtet sowie, dass die griechische Regierung weitere 11.000 anerkannte Schutzberechtigte aufgefordert hat, ihre bisherigen Unterkünfte zu verlassen (Ärzte ohne Grenzen vom 14. Juli 2020, Griechenland: Regierung treibt Tausende Flüchtlinge gezielt in die Obdachlosigkeit, im Internet unter: https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/presse/griechenland-vertreibung-fluechtlinge-aus-unterkuenften; Pro Asyl vom 14. September 2020, Griechenland: Selbst anerkannte Flüchtlingen droht Verelendung; im Internet unter: https://www.proasyl.de/ news/griechenland-selbst-anerkannten-fluechtlingen-droht-verelendung/). Vorhandene Obdachlosenunterkünfte sind ständig überfüllt und es ist äußerst schwierig, dort einen Platz zu bekommen (AIDA Country Report: Greece 2019, S. 218; OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 2982/20.A -, juris Rn. 39 f. m. w. N.).
Die Auskunft des Auswärtigen Amtes aus dem Jahr 2018, Obdachlosigkeit unter Flüchtlingen stelle kein augenscheinliches Massenphänomen dar (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Stade vom 6. Dezember 2018, S. 3), scheint hingegen allein auf der (seinerzeitigen) persönlichen Wahrnehmung des Verfassers zu beruhen. Soweit in der zitierten Auskunft des Auswärtigen Amtes weiter ausgeführt wird, dass sich innerhalb der jeweiligen Landsmannschaften eigene Strukturen und Vernetzungen bildeten, über die auf informelle Möglichkeiten der Unterbringung zurückgegriffen werden könne (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Stade vom 6. Dezember 2018, S. 3), ist schon nicht erkennbar, auf welcher Erkenntnisquelle diese Auskunft beruht. Ferner stellt eine Unterbringung in einer informellen Unterkunft wegen der dort häufig herrschenden menschenunwürdigen sanitären Zustände und der zunehmenden Gefahr von Räumungen (VG Aachen, Urteil vom 6. Mai 2020 - 10 K 1722/18.A - juris Rn. 120 f. m. w. N.) für sich genommen schon eine Form der Verelendung dar.
Soweit es dem Kläger wie bei seinem ersten Aufenthalt in Griechenland 2015/2016 gelungen ist, bei einem Landsmann unterzukommen, kann hieraus nicht geschlossen werden, dass landsmannschaftliche Vernetzungen ihn auch bei einer Rückkehr vor Obdachlosigkeit bewahren. Der Kläger hat seinerzeit für die Unterbringung als Untermieter in einer von vier Personen bewohnten Einzimmerwohnung Miete gezahlt, die er aus den finanziellen Unterstützungsleitungen seines Onkels und seines Bruders bestritten hat. Dafür, dass er künftig zu solchen Zahlungen aufgrund familiärer Unterstützung außerhalb Griechenlands in der Lage sein wird, bestehen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte.
bb. Der Kläger kann in dieser Situation zudem auf keine staatliche finanzielle Unterstützung hoffen. Staatliche Hilfen, die anerkannten Schutzberechtigten grundsätzlich offenstehen, wird der Kläger als Rückkehrer für die Dauer von voraussichtlich mehr als einem Jahr nicht in Anspruch nehmen können.
Dass der Kläger, dessen Aufnahme in das Cash-Card-Programm des UNHCR nach einer Rückkehr nach Griechenland ausgeschlossen ist (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Berlin vom 4. Dezember 2019, S. 7), in absehbarer Zeit die Voraussetzungen für den Bezug des sogenannten „Sozialen Solidareinkommens“ nachweisen kann, ist angesichts der von Pro Asyl berichteten Schwierigkeiten für Schutzberechtigte, eine Steuernummer und eine Sozialversicherungsnummer zu erhalten und schließlich ein Konto eröffnen zu können, nahezu ausgeschlossen (vgl. Pro Asyl vom 30. August 2018, Update – Stellungnahme Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland, S. 4). Hinzu kommt, dass Voraussetzung für den Leistungsbezug darüber hinaus die Vorlage des aktuellen Steuerbescheids, möglicherweise der Steuerbescheide der letzten zwei Jahre ist (so Pro Asyl vom 30. August 2018, Update – Stellungnahme Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland, S. 4), was den tatsächlichen Leistungsbezug weiter verzögert. Ein erleichterter Zugang für aus dem Ausland zurückkehrende anerkannte Schutzberechtigte ist nicht vorgesehen (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Chemnitz vom 1. Februar 2019, S. 5). Darüber hinaus benötigt der Kläger einen Nachweis des Aufenthalts (z.B. elektronisch registrierter Mietvertrag, Gas-/Wasser-/Stromrechnungen auf den eigenen Namen oder den Nachweis, dass man von einem griechischen Residenten beherbergt wird; a. a. O, S. 4), den er, sofern er von einer informellen Möglichkeit der Unterbringung Gebrauch machen muss, nicht erlangen kann. Die alternativ vorzulegende Obdachlosigkeitsbescheinigung wird von der Stadt Athen nur an diejenigen ausgestellt, die von Sozialarbeitern auf der Straße angetroffen werden (RSA/Pro Asyl, Auskunft an VG Frankfurt (Oder) vom 31. Januar 2020, S. 7 f.).
c. Auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Klägers, Griechenland nach der Schutzgewährung zu verlassen, ist davon auszugehen, dass er im Falle seiner Rückkehr im Sinne der Rechtsprechung des EuGHs unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not gerät, denn diese Voraussetzung knüpft augenscheinlich an die konkrete Rückkehrsituation an und verlangt von den Schutzberechtigten entsprechende Eigeninitiative. Anhaltspunkte dafür, dass ein Bezug zu früheren Lebensentscheidungen hergestellt werden sollte, sind nicht ersichtlich.
d. Die ernsthaft zu befürchtende Notlage des Klägers im Falle seiner Rückkehr ist Folge der Gleichgültigkeit Griechenlands gegenüber dem Schicksal zurückkehrender anerkannter Schutzberechtigter. Dass er wegen der Unterbrechung seines Aufenthalts in Griechenland die geforderten Mindestaufenthaltszeiten erst wieder ansammeln muss und mangels tatsächlichen Zugangs zu einer formellen Unterkunft nicht in der Lage ist, für verschiedene behördliche Registrierungen den erforderlichen Wohnsitznachweis zu erbringen, wird staatlicherseits offenbar ignoriert. Es existiert kein Wiederaufnahmeprocedere für rückkehrende anerkannte Schutzberechtigte. Dahinter mag der Gedanke stehen, dass ein in Griechenland anerkannter Schutzberechtigter, der Griechenland verlässt, um in einem anderen EU-Staat einen Zweitantrag zu stellen, in eigener Verantwortung auf seinen Sozialvorteil verzichtet (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Stade vom 6. Dezember 2018, S. 2). Dies rechtfertigt jedoch in keinem Fall die Hinnahme einer mit der Menschenwürde unvereinbaren Situation.
2. Die auf § 35 AsylG gestützte Abschiebungsandrohung in Ziffer 2 Sätze 1 bis 3 des angefochtenen Bescheids ist rechtswidrig, weil der Asylantrag des Klägers mit Blick auf die unter 1. getroffenen Feststellungen nicht als unzulässig abgelehnt werden durfte. Infolgedessen entfällt auch die Grundlage für die Anordnung des auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 3 des Bescheids.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, § 711 Sätze 1 und 2 ZPO.