Gericht | VG Frankfurt (Oder) 10. Kammer | Entscheidungsdatum | 17.06.2021 | |
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Aktenzeichen | 10 K 1087/17.A | ECLI | ECLI:DE:VGFRANK:2021:0617.10K1087.17.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 29 Abs 1 Nr 2 AsylVfG 1992 |
Lettland weist hinsichtlich der Aufnahmebedingungen für eine 9-köpfige Familie mit zumindest drei erwerbsfähigen Familienmitgliedern keine systemischen Schwachstellen für international Schutzberechtigte auf.
Die Regelung in Ziffer 4 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14. März 2017 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu je 1/8.
Die Kläger sind ausweislich der vorgelegten Dokumente syrische Staatsangehörige. Der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) stellten in Deutschland am 15. Februar 2017 für sich selbst und ihre zu diesem Zeitpunkt sechs Kinder, geboren zwischen 2002 und 2011, Asylanträge.
Im Rahmen der Erstbefragung und der Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des Asylantrags durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 15. Februar 2017 führten die Kläger zu 1) und 2) im Wesentlichen aus, Syrien im Februar 2016 verlassen zu haben. Sie seien über die Türkei zunächst nach Griechenland geflüchtet, wo sie circa sieben Monate geblieben seien. Im Wege eines Umverteilungsprogrammes seien sie dann nach Lettland gebracht worden, wo sie etwa vier Monate gewesen seien. In Lettland hätten sie einen Asylantrag gestellt und einen Aufenthaltstitel für ein Jahr erhalten. Sie hätten aber vor Ablauf des Titels Lettland wieder verlassen und seien über Litauen und Polen nach Deutschland gereist. Es sei ihr Wunsch, hier zu bleiben. In Lettland hätten sie und ihre Kinder in einem großen Flüchtlingswohnheim leben und sich ihr Essen für 3 Euro pro Tag und Person selbst kaufen müssen. Einer der Söhne habe Fieber bekommen und sei deswegen im Krankenhaus gewesen. Am darauffolgenden Tag habe man dort gesagt, dass der Junge das Krankenhaus verlassen müsse. Die Leiterin des Flüchtlingsheims habe gesagt, dass das Kind eine Behandlung im Krankenhaus benötige, aber dass sie – die Kläger – die Behandlung bezahlen müssten.
Der Kläger zu 1) trug weiter vor, versucht zu haben, in Lettland als Tierarzthelfer zu arbeiten. Er habe zwei Vorstellungsgespräche gehabt, sei aber nicht eingestellt worden, da man bei den Vorstellungsgesprächen gesehen habe, dass sein rechter Fuß gelähmt sei. Die Lähmung habe er seit seiner Kindheit. In Lettland sei von ihm zudem erwartet worden, auf eigene Initiative und eigene Kosten eine Wohnung zu finden. Mit sechs Kindern und ohne Arbeit sei dies aber nicht möglich gewesen. Man habe ihm gesagt, dass er sich an eine Organisation für Obdachlose wenden müsse, wenn er nicht bald eine Wohnung fände.
Die Klägerin zu 2) trug vor, unter Bluthochdruck und Blutmangel zu leiden. Zudem habe sie Tumore in der Brust, diese müssten regelmäßig behandelt werden, damit sich daraus kein Krebs entwickle.
Der Kläger zu 1) gab schließlich an, mehrere erwachsene Verwandte in Deutschland zu haben.
Mit Bescheid vom 14. März 2017, zugestellt am 20. März 2017, lehnte das Bundesamt die Anträge als unzulässig ab (Ziffer 1 des Bescheides) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2). Das Bundesamt forderte die Kläger zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides auf und drohte für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung in die Republik Lettland an; die Abschiebung in die Arabische Republik Syrien untersagte das Bundesamt (Ziffer 3). Das Bundesamt verfügte zudem ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG, befristet auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Auf den Bescheid wird Bezug genommen.
Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass den Klägern bereits in Lettland internationaler Schutz gewährt worden sei. Laut Auskunft der lettischen Behörden vom 28. Februar 2017 hätten die Kläger zu 1) bis 8) in Lettland am 29. Dezember 2016 den subsidiären Schutzstatus sowie eine bis zum 28. Dezember 2017 befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten.
Anhaltspunkte dafür, dass den Klägern dort menschenrechtswidrige Bedingungen oder eine individuelle Gefahr für Leib oder Leben drohten, seien nicht gegeben. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung sei angemessen. Der Kläger zu 1) habe zwar mehrere Angehörige in Deutschland, die aber volljährig und daher für die Entscheidung ohne Belang seien.
Gegen den Bescheid vom 14. März 2017 haben die Kläger am 21. März 2017 Klage vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) erhoben und zugleich einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt.
Die Kläger tragen ergänzend vor, dass der Kläger zu 4) mittlerweile einen Schulabschluss erworben habe. Der Kläger zu 3) befinde sich in einer Ausbildung zum Pflegefachmann. Ausweislich eines vorgelegten medizinischen Schriftstücks vom 16. März 2017 leide der Kläger zu 1) an einer Parese im rechten Bein.
Die informatorisch befragten Kläger geben weiter an, acht Monate lang in Griechenland gewesen zu sein. Man habe sie dann nach Athen gebracht und gefragt, ob sie im Rahmen eines Relocation-Programms in ein anderes europäisches Land gehen wollten. Dabei hätten sie angegeben, dass sie nach Deutschland wollten, da dort Geschwister des Vaters des Klägers zu 1) seien. Sie hätten weitere europäische Länder nennen sollen, falls sie nicht nach Deutschland verteilt werden könnten. Lettland hätten sie nicht angegeben. Als sie bei der zuständigen Behörde gewesen seien, seien die meisten Leute nach Deutschland geschickt worden. Sie seien den ganzen Tag dort gewesen und abends seien die drei letzten Familien nach Lettland geschickt worden. Hiermit hätten sie sich zunächst nicht einverstanden erklärt. Man habe ihnen gesagt, wenn sie nicht unterschreiben würden, müssten sie in Griechenland auf der Straße bleiben. Sie hätten dann vor Ort noch länger gewartet, ob etwas Anderes entschieden würde. Später hätten sie aber doch unterschrieben, da sie in Athen keine Unterkunft gehabt hätten. Daraufhin seien sie am 4. Oktober 2016 nach Lettland gebracht worden.
Die Kläger führen weiter aus, dass in Lettland ein hinreichender Erwerb zur Sicherung des Lebensunterhalts zweifelhaft sei. Der Kläger zu 3) verfüge über eine Ausbildungsduldung, weshalb davon auszugehen sei, dass ihm auch eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland erteilt werde. Der Kläger zu 4) habe inzwischen einen Schulabschluss erlangt, auch wenn er das Abschlusszeugnis erst am Tag nach der mündlichen Verhandlung erhalten werde und es daher noch nicht vorlegen könne. Es sei zu erwarten, dass ihm demnächst ebenfalls eine Ausbildungsduldung erteilt werde. Es sei zu berücksichtigen, dass der Familie mit inzwischen fünf weiteren minderjährigen Kindern allenfalls Hilfsjobs zur Verfügung stünden, was aber zur Sicherung des Lebensunterhalts voraussichtlich nicht ausreiche.
Die Kläger tragen schließlich vor, dass zunächst das Asylverfahren des 2018 in Deutschland nachgeborenen Kindes abzuwarten sei und beantragen insoweit die Aussetzung des vorliegenden Verfahrens. Mit einem weiteren Antrag begehren sie die Einholung einer Auskunft bei den lettischen Behörden zum Fortbestand des zuerkannten Schutzstatus, durch das Gericht, hilfsweise die Verpflichtung der Beklagten zu einer entsprechenden Beauskunftung.
Die Kläger beantragen,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14. März 2017 mit Ausnahme der Regelung, dass sie nicht nach Syrien abgeschoben werden dürfen, aufzuheben;
hilfsweise die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des genannten Bescheides zu verpflichten festzustellen, dass bei ihnen die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots in Bezug auf Lettland vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte verweist auf die Begründung des angegriffenen Bescheides.
Den Eilantrag (Az. VG 1 L 404/17.A) hat der seinerzeitige Einzelrichter mit Beschluss vom 11. Oktober 2017 abgelehnt.
Den aufgrund § 14a Abs. 2 Satz 3 AsylG als gestellt geltenden Asylantrag des am 15. Oktober 2018 in Deutschland geborenen weiteren Kindes der Kläger zu 1) und 2) hat das Bundesamt mit Bescheid vom 3. Dezember 2018 als unzulässig abgelehnt. Gegen den Bescheid ist am 17. Dezember 2018 vor dem Verwaltungsgericht Potsdam (Aktenzeichen VG 11 K 884/21.A, vormals: VG 11 K 3742/18.A) Klage erhoben worden. Das Verwaltungsgericht Potsdam hat das Verfahren durch Beschluss vom 22. April 2021 eingestellt, nachdem das Bundesamt den Bescheid vom 3. Dezember 2018 mit Bescheid vom 12. April 2021 aufgehoben hatte und das Verfahren daraufhin von den Beteiligten übereinstimmend für erledigt erklärt worden war. Das erkennende Gericht hat den diesbezüglichen Verwaltungsvorgang (Geschäftszeichen 7...) beigezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Bundesamtsakte, den Inhalt der Gerichtsakte zum Verfahren VG 1 L 404/17.A sowie auf die beigezogene Bundesamtsakte (7...) Bezug genommen.
Das Verfahren wird nicht nach §§ 94, 173 S. 1 VwGO i. V. m. §§ 239 ff. ZPO ausgesetzt. Nach § 94 VwGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei. Entgegen der Auffassung der Kläger ist die noch ausstehende Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag des in Deutschland nachgeborenen Kindes nicht vorgreiflich. Zwar hätten, wenn das nachgeborene Kind in Deutschland internationalen Schutz erhielte, nach der Rechtsprechung der Kammer die Kläger zu 1) bis 8) nach § 26 Abs. 3, 5 AsylG Anspruch auf einen abgeleiteten Schutzstatus, weil die Familie bereits im Herkunftsstaat bestand und die Kinder zum Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährig waren (vgl. VG Frankfurt [Oder], Urteil vom 27. November 2020 – 10 K 1085/17.A – juris Rn. 41 ff.). Das Schicksal der gegen die aufgrund § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ergangene Unzulässigkeitsentscheidung erhobenen Klage ist aber unabhängig von der Rechtslage bezüglich des nachgeborenen Kindes.
Die Klage hat zum überwiegenden Teil keinen Erfolg.
Die nach § 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO statthafte Anfechtungsklage (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juni 2020 – 1 C 37.19 – juris Rn. 12) ist zwar innerhalb der einwöchigen Klagefrist aus § 74 Abs. 1 2. Hs. AsylG erhoben worden und auch im Übrigen zulässig. Die hilfsweise erhobene Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO ist ebenfalls zulässig.
Die Klage ist aber im Wesentlichen unbegründet.
Der angegriffene Bundesamtsbescheid erweist sich zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AsylG) als zum überwiegenden Teil rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, da ihr in Deutschland abermals angebrachter unbeschränkter Asylantrag angesichts des ihnen bereits in Lettland zuerkannten internationalen Schutzes zu Recht als gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig abgelehnt worden ist und im Übrigen die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Lettlands nicht zu Tage liegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 1 Satz 1 VwGO).
I. Die Unzulässigkeitsentscheidung findet ihre Grundlage in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Die Tatbestandsvoraussetzungen sind hier gegeben. Der internationale Schutz nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst sowohl den Flüchtlingsschutz als auch den subsidiären Schutz. Im vorliegenden Fall haben die Kläger bereits im Jahr 2016 in Lettland internationalen Schutz erhalten. Dies ergibt sich aus der Auskunft der lettischen Behörden vom 28. Februar 2017 und wird auch von den Klägern nicht in Abrede gestellt. Dabei ist unerheblich, dass die Kläger in Griechenland der Verbringung nach Lettland zur Durchführung eines Asylverfahrens nach ihren eigenen Angaben nur aufgrund einer Drucksituation zugestimmt haben.
Entgegen der Auffassung der Kläger hat das Gericht ohne konkreten Anlass weder selbst Erkundigungen einzuholen, ob der in Lettland einmal zuerkannte internationale Schutz auch fortbesteht, noch die Beklagte insoweit zu verpflichten. Es hätte vielmehr den Klägern im Rahmen ihrer Mitwirkungs- und Darlegungspflicht selbst oblegen, hinreichende Anhaltspunkte für eine mögliche Aberkennung des internationalen Schutzes im Sinne von Art. 44 f. der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes vom 26. Juni 2013 (Verfahrensrichtlinie) substanziiert vorzutragen. Diesbezüglich haben die Kläger jedoch lediglich Vermutungen „ins Blaue hinein“ geäußert, sodass sich im Ergebnis keine Zweifel am Fortbestand des subsidiären Schutzes in Lettland ergeben. Denn von Unionsrechts wegen wird der internationale Schutz dauerhaft zuerkannt und richtet sich das Erlöschen, die Aberkennung und die Beendigung des Schutzstatus` nach Art. 11 und 14 der Richtlinie 2011/95/EU. Da nach dem unionsrechtlichen Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens davon auszugehen ist, dass Lettland diese Bestimmungen beachtet, hätte es eines substanziierten Vortrags zu den Tatsachen bedurfte, die dem entgegen stehen könnten.
Die Unzulässigkeitsentscheidung ist daher nur dann rechtswidrig, wenn eine Verletzung von Art. 4 der EU-GR-Charta droht (EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 – C-540/17 und C-541/17 – juris Rn. 35). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
Gegen eine Verletzung von Art. 4 der EU-GR-Charta streitet die im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geltende Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der EMRK steht. Dies gilt insbesondere bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchstabe a der Verfahrensrichtlinie, in dem im Rahmen des mit dieser Richtlinie eingerichteten gemeinsamen Asylverfahrens der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zum Ausdruck kommt (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. – juris Rn. 85) und dessen Umsetzung ins nationale Recht § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dient (VG Cottbus, Urteil vom 12. Mai 2020 – 5 K 2635/17.A – juris Rn. 17). Jeder Mitgliedstaat ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, diese Vermutung zu achten (EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 – C-540/17 und C-541/17 – juris Rn. 41).
Die zur Widerlegung dieser Vermutung besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erst erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 – juris Rn. 90).
Aus den dem Gericht vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln bezüglich Lettland ergibt sich kein solcher Missstand (so auch VG Cottbus, Urteil vom 12. Mai 2020 – 5 K 2635/17.A – juris Rn. 24).
In Lettland sind in allgemeiner Hinsicht rechtlich und tatsächlich solche Rahmenbedingungen gegeben, die staatliche Unterstützungsleistungen bieten, auf deren Grundlage es anerkannten international Schutzberechtigten möglich ist, auch für die Übergangszeit unmittelbar nach Ankunft und der sich anschließenden Integrationsphase ein Existenzminimum zu sichern und eine künftige Sicherung aus eigener Kraft zu erlangen (VG Magdeburg, Urteil vom 16. Juni 2020 – 8 A 49/20 – juris Rn. 34).
Es ist nicht zu erkennen, dass anerkannte international Schutzberechtigte nach Erhalt des Aufenthaltsstatus´ auf dem Weg zur Sicherung einer eigenen Lebensgrundlage sich selbst überlassen bleiben. Vielmehr besteht nach der Zuerkennung des Schutzstatus für zwölf Monate die Möglichkeit, von einem Sozialarbeiter, der einen individuellen Integrationsplan erstellt, und einem Mentor der Nichtregierungsorganisation Shelter "Safe House", der das Absolvieren des Plans unterstützt, begleitet zu werden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Lettland, 16. März 2018, S. 8; siehe hierzu auch VG Magdeburg, Urteil vom 16. Juni 2020 – 8 A 49/20 – juris Rn. 35 f.). Schutzberechtigte haben Anspruch auf finanzielle Unterstützung und es besteht Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung, Sprachkursen und zum Arbeitsmarkt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Lettland, 16. März 2018, S. 8 f.).
Zwar liegen die gewährten Leistungen deutlich unter der Armutsgrenze Lettlands (US Department of State, Jahresbericht 2020, Abschnitt 2 Buchstabe f). Zudem gibt es einzelne Berichte über unzureichende Unterstützung bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt sowie über die Verwehrung des Zugangs zu Gesundheitsleistungen (amnesty international, Jahresbericht 2019). Ein Missstand, der geeignet ist, die eingangs dargestellte Vermutung zu widerlegen, ergibt sich daraus aber noch nicht.
Hinweise darauf, dass sich die Kläger in Lettland keine Lebensgrundlage werden schaffen können, bestehen nicht. Der inzwischen volljährige Kläger zu 3) kann einer Erwerbstätigkeit nachgehen; dies vermag auch der Kläger zu 4), der zwar noch minderjährig ist, aber zumindest über einen Schulabschluss verfügt. Über Vermutungen hinausgehende Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger zu 3) und 4) aufgrund ihrer Ausbildung in Deutschland nicht mit der Familie nach Lettland zurückkehren würden, sind nicht gegeben. Doch selbst wenn die Kläger zu 3) und 4) in Deutschland bleiben würden, könnte jedenfalls der Kläger zu 1) einer Arbeit nachgehen. Soweit der Kläger zu 1) seine erfolglose Arbeitssuche in Lettland vorträgt, ist darauf hinzuweisen, dass er seinerzeit überhaupt erst zwei Vorstellungsgespräche gehabt haben will. Sollte seine körperliche Beeinträchtigung tatsächlich der Arbeit als tiermedizinischer Fachangestellter entgegenstehen, ist er auf die Ausübung anderer Berufe zu verweisen, auch wenn diese Tätigkeiten nicht seiner Ausbildung entsprechen sollten. Eine generelle Arbeitsunfähigkeit ergibt sich weder aus den vorgelegten Unterlagen noch aus dem persönlichen Eindruck, den das erkennende Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung von dem Kläger zu 1) gewonnen hat.
Eine andere Bewertung der Situation in Lettland für eine Rückkehr der Kläger ergibt sich nicht aus dem Umstand, dass die Kläger zu 4) bis 8) minderjährig sind und die Kläger insgesamt als Familie zu dem Kreis schutzbedürftiger Personen im Sinne von Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) zu zählen sind, wobei hier zusätzlich das nicht am Verfahren beteiligte nachgeborene Kind als Teil der Kernfamilie (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 – juris Rn. 17) zu berücksichtigen ist.
Für besonders schutzbedürftige Familien anerkannter international Schutzberechtigter ergeben sich indes für Lettland keine Anhaltspunkte, die eine weitergehende Prüfung des Einzelfalls gebieten. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass etwa die Wohnungssuche für eine größere Familie mitunter mühsam sein kann. Dabei dürfte es sich aber um kein Problem handeln, das in besonderer Weise den Zielstaat Lettland betrifft. Derartige Schwierigkeiten sind vielmehr in zahlreichen Mitgliedstaaten zu erwarten. Zudem konnten hinsichtlich der Sicherung der Bedürfnisse von Familien mit einer großen Zahl minderjähriger Kinder in Lettland in der Vergangenheit insbesondere in Bezug auf die Frage der Unterkunft jeweils Einzelfalllösungen gefunden werden (VG Magdeburg, Urteil vom 16. Juni 2020 – 8 A 49/20 – juris Rn. 41). Zudem wurde ein Pilotprojekt gestartet, in dessen Rahmen die Mietkosten ein halbes Jahr lang vom Staat gezahlt wurden; die Regierung arbeitet an einer Verlängerung des Projekts (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Lettland, 16.03.2018, S. 9).
Soweit die Lähmung des Klägers zu 1) im rechten Bein bzw. im rechten Fuß (hierzu siehe oben) eine Behinderung im Sinne des Art. 20 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie und damit einen weiteren Grund besonderer Schutzbedürftigkeit darstellt, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Jedenfalls während der mündlichen Verhandlung einschließlich des Betretens und Verlassens des Sitzungssaals waren keine wesentlichen äußeren Beeinträchtigungen erkennbar.
Die Abschiebungsandrohung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Rechtsgrundlage ist § 35 AsylG i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Die Ausreisefrist von einer Woche folgt aus § 36 Abs. 1 AsylG. Das Bundesamt hat ferner entsprechend der Vorgaben der §§ 59 Abs. 3, 60 Abs. 10 AufenthG das Herkunftsland der Kläger als den Staat benannt, in den diese nicht abgeschoben werden dürfen.
Das auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in Ziffer 4 des Bescheides ist dagegen zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AsylG) rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Gemäß § 75 Nr. 12 AufenthG hat das Bundesamt die Aufgabe der Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots im Fall der Abschiebungsandrohung nach § 35 AsylG. Nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist dieses von Amts wegen zu befristen, wobei die Frist nach Satz 4 mit der Abschiebung beginnt. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist nach Ermessen entschieden, gemäß Satz 2 darf sie allerdings fünf Jahre grundsätzlich nicht überschreiten.
Die behördliche Ermessensentscheidung erfordert nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Fall eines abschiebungsbedingten Einreise- und Aufenthaltsverbots eine sachgerechte Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse, den Ausländer eine gewisse Zeit vom Bundesgebiet fernzuhalten, und dem privaten Interesse des Ausländers an einer baldigen Wiedereinreise und einem erneuten Aufenthalt in Deutschland (vgl. VGH München, Beschluss vom 6. April 2017 – 11 ZB 17.30317 – juris Rn. 12). In diese Abwägung sind die persönlichen Belange des Ausländers umfassend einzustellen, soweit sie der zur Entscheidung berufenen Behörde bekannt geworden sind und Einfluss darauf haben können, wie schwer den Ausländer das Einreise- und Aufenthaltsverbot im konkreten Einzelfall trifft.
Es stellt zwar keinen Ermessensfehler im Sinne von § 114 Abs. 1 Satz 1 VwGO dar, dass das Bundesamt die sich im Bundesgebiet aufhaltenden Angehörigen des Klägers zu 1) nicht berücksichtigt hat. Gegen die Nichtberücksichtigung volljähriger Verwandter bestehen keine rechtlichen Bedenken, jedenfalls dann, wenn – wie hier – nichts dafür ersichtlich ist, dass bzw. warum die Ausländer auf deren Beistand angewiesen sein könnten bzw. umgekehrt.
In die Ermessensentscheidung sind neben familiären Belangen aber grundsätzlich auch soziale und wirtschaftliche Bindungen des Ausländers an das Bundesgebiet einzustellen. Einzubeziehen sind deshalb insbesondere auch Integrationsleistungen des Ausländers, wie z.B. eine im Inland begonnene oder abgeschlossene Ausbildung und - schon im Hinblick darauf notwendigerweise vorhandene - gute Sprachkenntnisse, soweit der Ausländer die Sprachkenntnisse während des Aufenthalts in Deutschland erlangt hat; solchen Integrationsleistungen kommt maßgebliche Bedeutung für die Frage zu, wie stark die Bindungen des Ausländers an das Bundesgebiet sind (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Juli 2020 – OVG 3 B 2/20 – juris Rn. 37). Derartige Belange liegen jedenfalls für den Kläger zu 3) sowie für den Kläger zu 4) vor. Der Kläger zu 3) hat im Oktober 2020 im Bundesgebiet eine Ausbildung zum Pflegefachmann begonnen.Anhaltspunkte, die darauf hindeuten könnten, dass die Ausbildung für die soziale Identität des Klägers zu 3) im Bundesgebiet tatsächlich nur von nebensächlicher oder untergeordneter Bedeutung sein könnte – etwa weil der Kläger zu 3) die Ausbildung nicht ernstlich betreiben würde oder er zuvor schon eine Ausbildung abgebrochen hätte (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. Juli 2020 – OVG 3 B 2/20 – juris Rn. 44), sind nicht erkennbar. Das erkennende Gericht hat zudem in der mündlichen Verhandlung einen Eindruck der profunden Deutschkenntnisse des Klägers zu 3) gewonnen. Das Gericht geht ferner davon aus, dass der Kläger zu 4) im Bundesgebiet einen Schulabschluss erworben hat und ebenfalls hinreichend integriert ist. Der Gewährung eines Schriftsatznachlasses zur Vorlage des Abschlusszeugnisses bedurfte es daher nicht. Gemäß dem in § 26 Abs. 3 AsylG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken, namentlich der Wahrung der Familieneinheit im Asyl, sind die von dem minderjährigen Kläger zu 4) und dem zum Zeitpunkt Asylantragstellung minderjährigen Kläger zu 3) erbrachten Integrationsleistungen dem gesamten Familienverbund zuzurechnen.
II. Die hilfsweise erhobene Verpflichtungsklage ist ebenfalls unbegründet.
Es bestehen keine nationalen Abschiebungsverbote in Bezug auf Lettland.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EMRK ist das Recht jedes Menschen auf Leben gesetzlich geschützt. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlichen Behandlung unterworfen werden. Die Annahme eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG setzt jedoch voraus, dass ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Abgeschobene im aufnehmenden Land einer solchen verbotenen Behandlung unterworfen wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 15/95, juris Rn. 15). Dies ist hier nicht der Fall.
Hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG ist auf die vorherigen Ausführungen zu verweisen, wonach keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Lettland die Vorgaben der EMRK missachtet. Es ist zu erwarten, dass sich die Kläger dort eine Lebensgrundlage werden schaffen können, da zumindest ein Teil der Kläger grundsätzlich als arbeitsfähig anzusehen ist. Selbst wenn die Kläger in Lettland vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig wären, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass diese dort nicht zu erhalten wäre (vgl. auch VG Berlin, Beschluss vom 31. August 2018 – 34 L 207.18 A – juris Rn. 12).
Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist ebenfalls nicht ersichtlich. Hinsichtlich der vorgetragenen Erkrankungen der Klägerin zu 2) fehlen bereits entsprechende Atteste. Bezüglich der Lähmung des rechten Fußes des Klägers zu 1) wurde zwar ein medizinisches Schriftstück vom 16. März 2017 vorgelegt. Aus diesem ergibt sich aber keine derartige gesundheitliche Einschränkung, dass im Fall einer Rückkehr nach Lettland mit einer erheblichen Gefahr zu rechnen wäre.
Ein Fall von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich auch nicht vor dem Hintergrund der aktuellen Coronavirus-Pandemie. In dieser kann keine extreme Notsituation gesehen werden, sondern vielmehr eine bloße Allgemeingefahr. Im Vergleich mit den derzeitigen Corona-Fallzahlen der übrigen europäischen Staaten ergibt sich für Lettland zwar ein höherer Wert; von einem stark erhöhten Risiko einer Coronavirus-Infektion ist aber nicht auszugehen (vgl. die aktuellen Fallzahlen des European Centre for Disease Prevention and Control, https://www.ecdc.europa.eu/en/cases-2019-ncov-eueea, letzter Abruf 17. Juni 2021). Anhaltspunkte für ein stark überlastetes Gesundheitssystem liegen ebenfalls nicht vor.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 3, 159 Satz 1 VwGO, 100 Abs. 1 ZPO. Den Klägern sind die Kosten ganz aufzuerlegen, da der Bescheid weit überwiegend rechtmäßig ist. Insbesondere kann dem Bleibeinteresse der Kläger nicht entsprochen werden. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.