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Entscheidung 8 K 1588/16.A


Metadaten

Gericht VG Frankfurt (Oder) 8. Kammer Entscheidungsdatum 25.11.2020
Aktenzeichen 8 K 1588/16.A ECLI ECLI:DE:VGFRANK:2020:1125.8K1588.16.A.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

1. Soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.

2. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Asylgesetz zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. August 2016 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.

3. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.

4. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages leistet.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Verpflichtung der Beklagten auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise auf Gewährung subsidiären Schutzes.

Die Klägerin wurde eigenen Angaben zufolge am 6. Juni 1998 in Afghanistan geboren und ist afghanische Staatsangehörige vom Volke der Hazara. Sie reiste nach eigener Angabe am 27. September 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 9. Oktober 2015 einen Asylantrag.

Die persönliche Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) erfolgte am 30. Juni 2016.

Darin trug die Klägerin vor, dass sie das Land Afghanistan im Jahr 1999 nach dem Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter verlassen habe und in den Iran gegangen sei. Vor ihrer Einreise nach Deutschland habe sie sich 16 Jahre im Iran aufgehalten und sei dann über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Ungarn und Österreich nach Deutschland gekommen.

Hinsichtlich des weiteren Vortrags der Klägerin wird auf das Protokoll der Anhörung Bezug genommen.

Unter dem 12. August 2016 erließ das Bundesamt den streitgegenständlichen Bescheid, in dem der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt (1.), der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (2.), der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (3.) und das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) festgestellt wurde (4.).

Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der Sachvortrag der Klägerin enthalte keine flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungshandlungen oder entsprechende Anknüpfungsmerkmale nach § 3 Asylgesetz (AsylG). Sie habe ihr Herkunftsland Afghanistan im Alter von einem Jahr unverfolgt verlassen. Sofern sie sich auf Misshandlungen und den Missbrauch durch ihren Stiefvater im Iran beziehe, so handele es sich hier bei Wahrunterstellung um Straftaten, dies stelle aber keine Verfolgung aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe dar. Der vorgetragene Missbrauch sei im Iran geschehen und somit im Hinblick auf das Herkunftsland Afghanistan flüchtlingsrechtlich unbeachtlich. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Unter Berufung auf die Ausführungen zum Flüchtlingsschutz und unter Würdigung des Vorbringens der Klägerin seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass ihr bei Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 AsylG drohe. Ihr drohe in ihrem Herkunftsstaat weder die Vollstreckung oder Verhängung der Todesstrafe, noch Folter oder unmenschliche Behandlung oder Bestrafung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Insbesondere liege keine Verletzung des Art. 3 EMRK vor. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) müsse die drohende Misshandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichten, die sich aus den Umständen des Einzelfalls und der aktuellen Staatenpraxis ergebe. Hier fordere der EGMR eine gewisse Flexibilität im Umgang mit außergewöhnlichen Fällen. In ganz Afghanistan herrsche ein unterschiedlich stark ausgeprägter bewaffneter Konflikt in Form von Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zwischen den afghanischen Sicherheitsstreitkräften und den Taliban sowie den oppositionellen Kräften. Für keine der afghanischen Provinzen könne aber generell ein Gefährdungsgrad für Zivilpersonen angenommen werden, der die Feststellung einer erheblichen individuellen Gefahr allein aufgrund einer Rückkehr in das Herkunftsgebiet und Anwesenheit dort rechtfertige. Eine für die Antragstellerin individuell gesteigerte Gefahrenlage sei aufgrund der von ihr vorgetragenen Fluchtgründe nicht erkennbar.

Die Klägerin hat am 23. August 2016 Klage erhoben, die sie in der Folgezeit mit weiterem Vortrag über ihre Lebensumstände, ihre Interessen, ihre Freizeitgestaltung und Integrationsfortschritte in Deutschland sowie im Zuge ihrer informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung am 25. November 2020 im Wesentlichen wie folgt begründete:

Sie sei seit dem Jahr 2016 nach islamischem Ritus mit einem afghanischen Staatsbürger verheiratet. Nachdem sie schwanger geworden sei, habe sie ihren Ehemann am 9. September 2017 in Dänemark nach bürgerlichem Recht geheiratet. Im Jahr 2018 sei ihr gemeinsamer Sohn geboren worden. Die Klägerin, ihr Ehemann und der Sohn hätten in Hamburg in einer eigenen Wohnung in der gleichen Unterkunft wie ihre Schwiegereltern, die mit einem Schwager der Klägerin und zwei Nichten ihres Mannes ebenfalls eine eigene Wohnung hatten, gelebt. Der Ehemann der Klägerin habe im Oktober 2017 einen schweren Verkehrsunfall gehabt und danach einen Monat im Koma gelegen. Als er aus dem Krankenhaus entlassen worden sei, habe er noch Beschwerden gehabt und sie habe ihn während dieser Zeit gepflegt. Die Beziehung habe sich im Laufe der Zeit verschlechtert. Die Familie des Ehemannes habe sich in die Streitigkeiten des Ehepaars eingemischt. So habe eines Tages im Jahr 2019 eine der Schwägerinnen ohne Wissen der Klägerin ihr Kind in die Wohnung der Schwiegereltern mitgenommen. Erst nachdem die Klägerin die Polizei verständigt und Anzeige erstattet habe, habe diese ihr das Kind zurückgebracht. An einem anderen Tag sei es zu einer Auseinandersetzung unter Beteiligung ihrer Schwiegermutter und ihres Ehemannes gekommen, in der ihr Ehemann sie geschlagen habe und sie Prellungen am Kopf davongetragen habe. Dabei habe die Schwiegermutter ihr gedroht, ihr ihren Sohn wegzunehmen. Auch die Nichten, die bei den Schwiegereltern der Klägerin lebten, seien von der Schwiegermutter ohne Einverständnis ihrer Eltern einfach mitgenommen worden. Infolgedessen habe die Klägerin Anzeige gegen ihren Ehemann erstattet. Es sei dann dafür gesorgt worden, dass der Ehemann der Klägerin am 18. März 2020 aus der gemeinsamen Wohnung habe ausziehen müssen. Das Amtsgericht habe zudem eine Ausreisesperre für das Kind angeordnet. Das Jugendamt habe in der Folgezeit einen begleiteten Umgang des Kindes mit dem Ehemann initiiert. Der Ehemann habe sich aber nicht an die Vereinbarungen über den Rahmen des begleiteten Umgangs gehalten. Bei einem Treffen im Rahmen des begleiteten Umgangs sei nicht nur der Vater des Kindes, sondern auch Familienmitglieder des Ehemannes gekommen, obwohl es anders vereinbart gewesen sei. Zudem sei es erneut zu Drohungen seitens des Ehemannes gekommen, das Kind nach Afghanistan mitzunehmen. Ferner sei es an einem anderen Termin zu Handgreiflichkeiten des Ehemannes gegenüber der Klägerin gekommen. Die Klägerin habe sodann mit Hilfe eines Rechtsanwaltes eine Gewaltschutzanordnung beim Amtsgericht Hamburg Barmbek gegen ihren Mann erwirkt, welche in der mündlichen Verhandlung zur Gerichtsakte gereicht wurde. Weil der Ehemann der Klägerin der Gewaltschutzanordnung nicht nachgekommen sei, habe die Klägerin ihren Ehemann erneut angezeigt. Darüber hinaus habe die Schwiegermutter Fotos der Klägerin auf Instagram verbreitet und behauptet, die Klägerin habe ein Verhältnis mit anderen Männern. Sie habe so versucht, den Ruf der Klägerin zu ruinieren. Die Familie des Ehemannes sei sehr groß. Es gebe noch Onkel und Tanten in Afghanistan. Nach Ablauf des Trennungsjahres wolle sie sich von ihrem Ehemann nach deutschem Recht scheiden lassen, eine Scheidung nach islamischem Recht scheitere derzeit an der Zustimmung des Ehemannes. In Zukunft wolle die Klägerin auf eigenen Beinen stehen und für ihr Kind da sein. Das Kind gehe seit neun Monaten in den Kindergarten. Sie mache einen Integrationskurs und wolle danach eine Ausbildung absolvieren.

Nachdem die Klägerin ihren Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte zurückgenommen hat, beantragt sie nunmehr,

1. die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. August 2016 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylgesetz zuzuerkennen;

2. hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, die Klägerin als subsidiär Schutzberechtigte nach § 4 Asylgesetz anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

Die Klägerin ist in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehört worden. Zu den weiteren Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die von der Beklagten und der Ausländerbehörde übersandten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Gerichts waren.

Entscheidungsgründe

Die Kammer konnte trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten verhandeln und entscheiden, weil die Beteiligten unter Hinweis auf diese Rechtsfolge geladen worden sind, vgl. § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Soweit die Klägerin die Klage in der mündlichen Verhandlung im Hinblick auf die Anerkennung als Asylberechtigte zurückgenommen hat, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

Die Klage ist mit dem Hauptantrag zulässig und begründet. Die Klägerin hat in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.

Der Bescheid des Bundesamtes vom 12. August 2016 ist, soweit er Gegenstand der Klage ist und der Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht, aufzuheben, da er rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Dies betrifft die unter den Nummern 1 und 3 getroffenen Regelungen des angegriffenen Bescheides.

I.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1959 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Eine bestimmte soziale Gruppe liegt nach der Vorschrift des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG insbesondere dann vor, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen ist, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (Buchst. a), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (Buchst. b). Zudem wird in § 3b Abs.1 Nr. 4 AsylG weiter klargestellt, dass eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist weiterhin geklärt, dass im Einklang mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Richtlinie 2011/95/EU und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteile vom 7. November 2013 – C-199/12, C-200/12, C-201/12 [ECLI: EU:C:2013:720] –, Minister voor Immigratie en Asiel/X und Y sowie Z/Minister voor Immigratie en Asiel – NVwZ 2014, 132 Rn. 45 und vom 25. Januar 2018 – C-473/16 [ECLI: EU:C:2018:36], F/Bevándorlási és Állampolgársági Hivatal – Rn. 30) die mit den Buchstaben a und b gekennzeichneten Voraussetzungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG kumulativ erfüllt sein müssen. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Richtlinie 2011/95/EU ist in Verbindung mit der vorstehend bezeichneten Rechtsprechung des Gerichtshofs hinreichend eindeutig zu entnehmen, dass eine bestimmte soziale Gruppe in diesem Sinne nicht vorliegt, wenn die betroffene Gruppe nicht in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat beziehungsweise nicht von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (BVerwG, Urteil vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 29 und 31).

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist, vgl. § 3a Abs. 1 AsylG. Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen einer dieser Verfolgungshandlungen und einem der in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe eine Verknüpfung bestehen. Gemäß § 3c AsylG kann die Verfolgung dabei vom Staat sowie von Parteien oder Organisationen ausgehen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen. Eine asyl-relevante Verfolgung kann auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Einem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn in einem Teil seines Herkunftslandes die Möglichkeit internen Schutzes im Sinne des § 3e AsylG besteht.

Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, gilt der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal "... aus der begründeten Furcht vor Verfolgung ..." des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG (Qualifikationsrichtlinie) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – BVerwG 10 C 23.12 – juris, Rn. 19, 32).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Klägerin in Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe in diesem Sinne droht. Die Merkmale einer sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG werden durch die Gruppe der afghanischen Frauen erfüllt, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen (1.). Das Gericht ist nach der persönlichen Anhörung der Klägerin davon überzeugt, dass die Klägerin dieser sozialen Gruppe angehört (2.). Die Klägerin hat Grund zu der Befürchtung, dass sie nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan im Sinne des § 3 AsylG verfolgt wird (3.).

1.) Die Merkmale einer sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG werden durch die Gruppe der afghanischen Frauen erfüllt, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie nicht mehr in der Lage wären, bei einer Rückkehr nach Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen.

Denn die Mitglieder dieser Gruppe haben einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann. Dieser ist in dem Aufenthalt im (europäischen) Ausland zu erblicken, der dazu geführt hat, dass die Mitglieder dieser Gruppe entweder sich das nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln zu Afghanistan dort vorherrschende traditionelle Frauenbild gar nicht erst zu Eigen machen konnten, weil es ihnen nicht vorgelebt worden ist, oder das bereits erlernte Rollenbild nachhaltig abgelegt haben.

Nach Überzeugung der Kammer hat die Gruppe dieser Frauen in der Islamischen Republik Afghanistan zudem eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig wahrgenommen wird, § 3b Abs. 4 Buchst. b AsylG. Die gesellschaftliche Position der Frauen und Mädchen in Afghanistan beruht auf einer Vielzahl von Sitten, Normen und Werten, die auf traditionellen Überlieferungen aus Familien, Religion, Stämmen und Gebräuchen beruhen. In der afghanischen Gesellschaft ist die Diskriminierung von Frauen und Mädchen aufgrund des Geschlechts stark verwurzelt. Die Männer sind Autoritätspersonen, die für Schutz, Sicherheit und allgemeine Bedürfnisse der Familie zuständig sind, was stark mit deren Ehrgefühl verbunden ist, während Frauen für das häusliche Leben verantwortlich und dem Mann untergeordnet sind. Frauen benötigen im Allgemeinen eine männliche Begleitperson, einen Kollegen oder Vormund, um sie – jedenfalls außerhalb der Großstädte Kabul, Mazar-e-Sharif und Herat – außerhalb des Hauses zu begleiten. Frauen in Afghanistan halten sich insbesondere in der Öffentlichkeit an strenge gesellschaftliche Beschränkungen in Bezug auf Aussehen, Kleidung und Verhalten (EASO, Country of Origin Information, Report Afghanistan, Individuals targeted under societal and legal norms, Dezember 2017). Demgegenüber werden Frauen, die sich nicht dem dargestellten Rollenbild entsprechend verhalten, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig wahrgenommen. Dies betrifft Frauen, die nach der öffentlichen Wahrnehmung gegen die sozialen Sitten verstoßen und deren Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird. Hierzu können nicht nur Frauen zählen, die – wie z.B. Parlamentarierinnen, Beamtinnen, Journalistinnen, Anwältinnen, Frauen- und Menschenrechtsaktivistinnen oder Lehrerinnen – Aktivitäten im öffentlichen Leben entfalten und damit dem traditionellen Rollenbild widersprechen und von konservativen Elementen in der Gesellschaft systematisch eingeschüchtert, bedroht, attackiert und gezielt getötet werden (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Afghanistan: Women fearing gender-based violence, Version 3.0, März 2020, S. 28). Vielmehr verstoßen nach der öffentlichen Wahrnehmung in der afghanischen Gesellschaft auch solche Frauen gegen die sozialen Sitten, deren Identität derart westlich geprägt ist, dass ihr Verhalten deutlich vom Rollenbild der Frau in der afghanischen Gesellschaft abweicht (SFH, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update der SFH-Länderanalyse, 12. September 2019, S. 13). Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil vom 20. Juli 2010 – 23505/09, N. v. Sweden –, HUDOC, Rn. 54 ff., m.w.N.) werden afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil angenommen haben – z.B. solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückgekehrt sind – in der Islamischen Republik Afghanistan nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen und können deshalb Opfer von Gewalt oder anderer Formen der Bestrafung werden, die von der Isolation und Stigmatisierung bis hin zu Ehrenmorden auf Grund der über die Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm gebrachte „Schande“ reichen können (so auch: Österreichisches Bundesverwaltungsgericht, Erkenntnis vom 31. Juli 2015 – W175 2100068-1 –; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 21. September 2015 – 9 LB 20/14 –, juris, Rn. 38).

 Allerdings ist die Ablehnung des in Afghanistan gelebten Rollenverständnisses von Frauen nach § 3b Abs. 1 Nr. 4a Halbsatz 1 AsylG nur beachtlich, wenn sie die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht, und eine Aufgabe dieser Lebenseinstellung nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist. Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frau im Fall ihrer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt ist, bedarf einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen. Denn die Faktoren Kultur, Wirtschaft, Geographie, Ethnie und Religion bestimmen die soziale Position der Frauen wesentlich (UK Home Office, Country Policy and Information Note Afghanistan: Women fearing gender-based violence, März 2020, S. 14 unter Berufung auf eine Information des Niederländischen Außenministeriums). Insbesondere ist zu berücksichtigen, ob und inwieweit die betreffende afghanische Frau voraussichtlich durch einen Familien- oder Stammesverbund vor Verfolgungsmaßnahmen geschützt werden kann. Eine Verfolgungsgefahr besteht vor allem für alleinstehende Frauen und Frauen ohne männlichen Schutz (Niedersächsisches OVG, Urteil vom 21. September 2015 – 9 LB 20/14 –, juris, Rn. 38 ff. m.w.N.).
2.) Die Klägerin gehört der so beschriebenen sozialen Gruppe an.

Die Kammer hat in der mündlichen Verhandlung die Überzeugung gewonnen, dass die Klägerin während ihres Aufenthaltes in Deutschland eine Lebensweise angenommen hat, die den in Afghanistan von Frauen erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen so eklatant widerspricht, dass sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht in der Lage wäre, die von ihr erwartete Lebensweise wieder anzunehmen und diese angenommene Lebensweise identitätsprägend für sie ist. Dabei geht die Kammer davon aus, dass die Klägerin, die im Alter von 17 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, trotz des langjährigen Aufenthaltes im Iran grundsätzlich mit den von Frauen in Afghanistan erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen vertraut gemacht worden ist, da sie immerhin auch die besonders prägende Pubertätszeit in einer afghanischen Familie erlebt hat und nach eigenem Vortrag mit einem Stiefvater aufgewachsen ist, der die Einhaltung der traditionellen Rollenbilder eingefordert hat, z.B. in Hinblick auf das Tragen des Tschadors.

Die Klägerin hat aber – wie aus dem Verhalten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ersichtlich – während ihres Aufenthaltes in Deutschland eine Lebensweise angenommen, die der des afghanischen Frauenbildes widerspricht. Dies äußert sich nicht nur in den Aktivitäten der Klägerin vor ihrer Hochzeit, sondern auch insbesondere im Umgang der Klägerin mit ihren Problemen, die sie mit ihrem Ehemann und dessen Familie bekommen hat.

Nach ihrer Ankunft in Deutschland vor ihrer Hochzeit war die Klägerin in einer stationären Jugendeinrichtung untergebracht, in der sie mit anderen männlichen und weiblichen Jugendlichen gemeinsam lebte. Sie nahm regelmäßig gemeinsame Ausflugsangebote wie beispielsweise zu Kino- oder Museumsbesuchen, ins Schwimmbad oder an den Badestrand wahr, gestaltete ihren Alltag selbständig und selbstbestimmt, pflegte Freundschaften außerhalb des sozialpädagogisch betreuten Umfeldes, kaufte für sich selbst ein und nutzte selbständig die öffentlichen Verkehrsmittel und das Fahrrad. Sie besuchte die Schule des zweiten Bildungsweges Dahme Spreewald und nahm sehr erfolgreich am Unterricht Deutsch als Zweitsprache mit Zielniveau B1/B2 Teil. Nach glaubhaftem Vortrag hat sich die Klägerin in Deutschland von ihrem afghanischen Ehemann, den sie nach ihrer Einreise nach Deutschland kennengelernt und sowohl bürgerlich-rechtlich als auch nach islamischem Ritus geheiratet hat, getrennt und strebt – nach Ablauf des Trennungsjahres – die bürgerlich-rechtliche Scheidung von ihm an. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin, an deren Glaubwürdigkeit die Kammer keine Zweifel hat, glaubhaft Konfliktsituationen geschildert, in denen sie sich – mit Hilfe staatlicher Stellen – gegen gewalttätige Übergriffe ihres Ehemanns gewehrt und gerichtlich eine Gewaltschutzanordnung erwirkt hat. Zudem hat sie verhindert, dass das gemeinsame Kind gegen ihren Willen in der Familie der Schwiegereltern bleibt. Sie hat auch erreicht, dass der Ehemann aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen musste und sie nunmehr seit dem 1. Juli 2020 mit ihrem Sohn in eigene Wohnung umgezogen ist. Das von der Klägerin gewollte Lebensmodell einer geschiedenen, alleinerziehenden Mutter ist in Afghanistan unbekannt und schlichtweg nicht mit den dortigen Erwartungen und Rollenbildern vereinbar.

Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass der von der Klägerin angenommene (westliche) Lebensstil sie in ihrer Identität maßgeblich prägt. Er beruht auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung. Die Klägerin hat insofern in nachvollziehbarer und kohärenter Weise geschildert, wie sie sich zunächst bemüht habe, sich um ihren Mann nach seinem Unfall zu kümmern und mit ihm in Frieden zusammenzuleben, dann jedoch die Auseinandersetzungen mit dem Ehemann und der Schwiegerfamilie ein Ausmaß erreicht haben, dass sie nicht mehr duldend hinnehmen wollte. Insofern war für die Kammer ersichtlich, dass insbesondere die Sorge um das gemeinsame Kind die Klägerin veranlasst hat, sich zu wehren und die Hilfe staatlicher Stellen in Anspruch zu nehmen, um ihre – nach der deutschen Rechtsordnung vorgesehenen – Rechte durchzusetzen. Es ist insofern deutlich geworden, dass die Klägerin nicht (mehr) bereit ist, den Anspruch des Ehemannes und der Schwiegerfamilie, über ihr Leben und das ihres Kindes zu bestimmen, zu akzeptieren. Die Kammer hat auch keine Zweifel, dass die Klägerin von dieser Haltung nicht mehr abgehen wird. Die Klägerin, die bereits nach ihrem Äußeren sich in nichts von anderen jungen Frauen mit einem westlichen Lebensstil unterscheidet, hat der Kammer den nachhaltigen Eindruck vermittelt, dass sie überlegt und aus einer inneren Überzeugung heraus gehandelt und die Konsequenzen ihres Tuns vor Augen hat. So hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung deutlich gemacht, dass sie sich von ihrem Ehemann endgültig getrennt habe und ihr Leben und das Leben ihres Sohnes nach der Trennung – unter Zuhilfenahme entsprechender Angebote in Deutschland – eigenständig gestalten wolle. Dafür nehme sie derzeit an einem Integrationskurs teil. Danach wolle sie eine Ausbildung machen, um sich und ihrem Sohn eine Lebensgrundlage zu schaffen. Ihr Kind gehe seit neun Monaten in den Kindergarten. Insgesamt hat die Klägerin seit ihrer Ankunft in Deutschland, insbesondere aber seit der Trennung von ihrem Mann entscheidende Schritte in Richtung eines eigenständigen, selbstbestimmten Lebens gemacht, die nicht einer spontanen Laune oder vorübergehenden Stimmung entspringen, sondern Ausdruck der identitätsprägenden Vorstellung sind, dass sie als Frau eigenständig leben und auch ohne Ehemann für sich und ihr Kind sorgen kann.

3.) Der Klägerin droht aufgrund dieser Sachlage bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung im Sinne des § 3a AsylG.

Nach Auswertung der umfangreichen Erkenntnismittel, insbesondere des Lageberichts des Auswärtigen Amtes aus dem Juli 2020, des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation des Österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13. November 2019 (Bearbeitungsstand 29. Juni 2020), des EASO Country of Origin Information Report Afghanistan: Individuals targeted unter societal and legal norms aus dem Dezember 2017 und der Country Policy and Information Note Afghanistan: Women fearing gender-based violence des UK Home-Offices aus dem März 2020 stellt sich die Lage der Frauen allgemein (a) und speziell die Lage der Frauen, deren Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird (b), wie folgt dar:

a) Zwar hat sich die allgemeine Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt verbessert, insbesondere wurden seit 2009 mit dem Law on Elimination of Violence against Women (EVAW) Institutionen geschaffen, die der Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen dienen sollen, doch können Frauen ihre gesetzlichen Rechte auch heute innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Mag der afghanische Staat zwar rechtlich verpflichtet sein, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken, mangelt es jedoch oftmals in der Praxis an der Umsetzung dieser Rechte. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Die Behörden setzen Gesetze zu Gunsten von Frauen nicht immer vollständig durch; obwohl die Regierung gewisse Angelegenheiten, die unter EVAW fallen, auch über die EVAW-Strafverfolgungseinheiten umsetzt. Dennoch werden viele Gewaltfälle nicht vor Gericht verhandelt, sondern durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Beispielsweise werden viele Frauen in Fällen häuslicher Gewalt darauf verwiesen, zu ihrem Ehemann zurückzukehren, um Ehre und Frieden in der Familie zu erhalten.

Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Sorgerecht, Erbschaft und Bewegungsfreiheit. Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist unabhängig von der Ethnie weit verbreitet, wenn auch kaum dokumentiert. European Asylum Support Office (EASO) geht laut Bericht von Dezember 2017 davon aus, dass 87 % der Frauen Gewalt erfahren, 62 % sogar mehrfach. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90 % innerhalb der Familienstrukturen statt, reichen dabei von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Morden. UNAMA dokumentierte von August 2015 bis Dezember 2017 280 Fälle von (Ehren-) Morden an Frauen, in denen nur in 50 Fällen ein Täter verurteilt und inhaftiert wurde. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt. Darüber hinaus werden häufig Frauen, die entweder eine Straftat zur Anzeige bringen oder aber von der Familie aus Gründen der "Ehrenrettung" angezeigt werden, wegen sog. Sittenverbrechen (wie z.B. "zina" – außerehelicher Geschlechtsverkehr – im Falle einer Vergewaltigung) verhaftet oder wegen "Von-zu-Hause-Weglaufens" (kein Straftatbestand, aber oft als Versuch der "zina" gewertet) inhaftiert. Menschenrechtsorganisationen kritisieren die im Zusammenhang mit "zina"-Anklagen oft einhergehenden, gesetzlich abgeschafften, aber in der Praxis weiterhin durchgeführten, erzwungenen "Jungfräulichkeitstests". Auch Männer werden wegen "zina"-Anschuldigung strafrechtlich verfolgt. Zum Teil ergehen gegen beide Partner seitens beider Familien Morddrohungen. Traditionelle diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter. Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet, wobei die Datenlage hierzu schlecht ist, aber nach Erhebung des zuständigen Ministeriums von 2006 über 50 % der Mädchen unter 16 Jahren verheiratet wurden und 60-80 % aller Ehen in Afghanistan unter Zwang zustande kamen. Nach dem paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali) werden Frauen als Objekt der Streitbeilegung ("baad"/ba'adal") missbraucht, obgleich dies gesetzlich verboten ist. Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familien angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. In großen Städten gibt es Frauenhäuser, die aber in der Gesellschaft höchst umstritten sind, werden sie doch als Orte für "unmoralische Handlungen" in Verruf gebracht; für Frauen, die dort untergekommen sind, ist es sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Ohne Perspektive ist aber auch das Schicksal von Frauen, die weder zu ihren Familien oder Ehemännern zurückkehren können. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben. Für Frauen ist aber auch ohne familiäre Einbindung ein Ausweichen in andere Regionen kaum möglich, gibt es durch die hohe soziale Kontrolle kaum Anonymität und selbst in größeren Städten ist regelmäßig eine Ansiedlung innerhalb von ethnisch geprägten Netzwerken und Wohnbezirken geboten (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. September 2019, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, vom 12. September 2019).

b) Ergibt sich hiernach bereits nach der allgemeinen Situation eine erhöhte Gefährdung der Frauen, Opfer von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden, sind besonders diejenigen gefährdet, die sich nicht entsprechend den rigiden moralischen Vorschriften verhalten. Dies gilt insbesondere für Frauen, die – wie die Klägerin – ein eigenständiges Leben als alleinlebende Frau und Mutter verwirklichen wollen.

Den oben genannten Erkenntnismitteln ist zu entnehmen, dass in Afghanistan das Verhältnis der Ehefrauen zu ihren Ehemännern in hohem Maße von Abhängigkeit geprägt ist, sodass auch eine Scheidung, die mit hohen Anforderungen verbunden ist, für afghanische Frauen meist grundsätzlich nicht in Frage kommt.

Nach UK Home Office, Country Policy and Information Note Afghanistan: Women fearing gender-based violence: Version 3.0, März 2020 können sich Männer jederzeit ohne Einwilligung der Ehefrau scheiden lassen. Demgegenüber bedarf die Ehefrau grundsätzlich der Einwilligung des Ehemannes, zu deren Erhalt sie gezwungen ist, die Kinder der väterlichen Familie zu überlassen. Ohne Einwilligung braucht die Ehefrau drei Zeugen, die die Gründe für den Scheidungsantrag bestätigen; zu denen zählen nur Krankheit des Mannes, vierjährige Abwesenheit oder eine zehnjährige Gefängnisstrafe des Mannes, oder wenn dieser die Familie nicht ernähren kann, wenn er impotent ist oder die Frau lebensbedrohlich misshandelt hat. Rechtsquellen sind zum einen das afghanische Zivilgesetzbuch, aber auch das für die Schiiten geltende Personenstandsgesetz. Ersteres kennt auch die Möglichkeit, dass durch die Ehefrau eine Scheidung beantragt werden kann, wenn ihr Ehemann ihr dieses Recht zur Scheidung im Eheschließungsvertrag eingeräumt hat. Eine weitere Möglichkeit sei für die Ehefrau – hingegen nur bei deren finanziellen Fähigkeit hierzu –, dass sie eine (monetäre) Gegenleistung erbringt, die nach dem Personenstandsgesetz dabei nicht die Brautgabe bei Eheschließung übersteigen darf. In jedem Fall hat eine geschiedene Frau nach islamischen Recht kein legales Sorgerecht für ihre Kinder; sie darf allenfalls bis zu einem gewissen Alter (bei Töchtern bis zu deren neuntem, bei Söhnen bis zu deren elftem Lebensjahr) die Kinder aufziehen und muss dann diese dem Vater oder dessen Familie übergeben. Sie erhält weder für sich noch die Kinder Unterhalt. Das Schiitische Zivilstandsrecht von 2009 ist gegenüber den Ehefrauen noch rigider, sieht sogar für die Ehefrau die Pflicht vor, den sexuellen Bedürfnissen ihres Mannes jederzeit nachzukommen, mindestens jede vierte Nacht, und gestattet auch die seitens des Ehemannes ausgeübte Vergewaltigung in der Ehe.

Als alleinstehende Frau eine Wohnung zu mieten oder sich mit Arbeit durchzuschlagen, ist in Afghanistan schlicht nicht möglich (SFH, Afghanistan: Alleinstehende Frau mit Kindern, 15. Dezember 2011). Die einzige Alternative wäre die Rückkehr ins Elternhaus, die hingegen oft unerwünscht ist, weil die Familien ihre Ehre nicht durch eine geschiedene Tochter beschmutzen wollen.

Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Juni 2020).

Nach alledem wäre die Klägerin nach Überzeugung des Gerichtes im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zusammen mit ihrem 2-jährigen Sohn auf sich allein gestellt. Die Klägerin hat zwar angegeben, ihren Stiefvater in Afghanistan zu haben, zu diesem besteht aber kein Kontakt. Die Mutter der Klägerin und eine jüngere Schwester leben im Iran, eine weitere Schwester in Deutschland. Angesichts des glaubhaften Vortrags der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, der durch die vorgelegte Gewaltschutzanordnung noch untermauert wird, geht das Gericht davon aus, dass auch der Ehemann der Klägerin und seine Familie für die Klägerin nicht als Schutzverband zur Verfügung stehen. Vielmehr ist zu befürchten, dass der Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan auch seitens der Großfamilie des Ehemannes nachgestellt wird. Dies ergibt sich aus den geschilderten massiven Drohungen und ehrenrührigen Äußerungen der Schwiegermutter der Klägerin in sozialen Medien.

Aufgrund der oben genannten Umstände steht der Staat der Klägerin voraussichtlich im Falle von Übergriffen seitens der Familie des Ehemannes der Klägerin oder Dritter nicht zur Verfügung, ist er doch nach der Erkenntnislage weder als schutzwillig noch als schutzfähig zu betrachten. Es besteht auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnismittel vielmehr die begründete Furcht der Klägerin vor Übergriffen und Trennung von ihrem Kind. Eine interne Schutzmöglichkeit gemäß § 3e AsylG ist angesichts der – wie oben beschrieben – landesweit bestehenden Lage im Herkunftsland nicht gegeben.

Der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus steht auch nicht die Tatsache entgegen, dass es sich hierbei um Nachfluchttatbestände handelt, vgl. § 28 Abs. 2 AsylG.

II.

Nach den obigen Ausführungen sind die unter Nummer 1 des streitgegenständlichen Bescheides getroffene Regelung aufzuheben. Ist die Ablehnung der Zuerkennung von Flüchtlingsschutz wegen eines festgestellten Anspruchs auf die Flüchtlingseigenschaft und einer entsprechenden Verpflichtung der Beklagten aufzuheben, ist auch die Ablehnung der Zuerkennung des subsidiären Schutzes entweder von Rechts wegen erledigt oder als rechtswidrig aufzuheben. Deshalb wird auch die unter Nummer 3 des Bescheides getroffene Regelung – zumindest klarstellend – aufgehoben. Über den Hilfsantrag ist nach Stattgabe des Hauptantrages nicht mehr zu entscheiden. Zugleich bleibt zugunsten der Klägerin die Feststellung eines Abschiebungsverbotes durch das Bundesamt, die mit Bekanntgabe bestandskräftig geworden ist und die nicht Gegenstand des Verfahrens war, Nummer 4 des Bescheides, bestehen.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 VwGO. Der Beklagten können die Kosten ganz auferlegt werden, obwohl die Klägerin die Klage teilweise zurückgenommen hat. Denn dieser Teil ist nur als geringfügig anzusehen, weil inzwischen der Status eines anerkannten Asylberechtigten und eines anerkannten Flüchtlings weitgehend gleichgestellt sind und der Unterscheidung keine erhebliche praktische Bedeutung mehr zukommt. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.