Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 9. Senat | Entscheidungsdatum | 12.05.2021 | |
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Aktenzeichen | L 9 KR 324/20 | ECLI | ECLI:DE:LSGBEBB:2021:0512.L9KR324.20.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 13 Abs 3 SGB 5, § 37 SGB 5 |
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Neuruppin vom 18. Juni 2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Klägerin begehrt die Übernahme von Kosten für häusliche Krankenpflege für die Zeit vom 13. Juli 2017 bis zum 31. Oktober 2017.
Die Klägerin ist 1954 geboren und versichertes Mitglied der Beklagten. Sie lebt in einer von der A P gGmbH gemieteten Wohnung im Betreuten Wohnen und erhält vom Beigeladenen als Träger der Sozialhilfe Leistungen der Eingliederungshilfe in Gestalt einer ambulanten Betreuung von 7 Fachleistungsstunden wöchentlich (Bescheid des Beigeladenen vom 12. Dezember 2017 für die Zeit vom 1. Oktober 2017 bis zum 30. September 2018).
Am 17. Juli 2017 beantragte die Klägerin unter Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung über das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen der Klasse 2 wegen eines ödematösen Beins zweimal täglich an sieben Tagen pro Woche für die Zeit vom 13. Juli 2017 bis zum 31. Oktober 2017 bei der Beklagten die Gewährung häuslicher Krankenpflege zur Sicherung der ambulanten Behandlung. Die häusliche Krankenpflege wurde bereits durch den ambulanten Pflegedienst A P in der Wohnung der Klägerin erbracht. Einen schriftlichen Vertrag mit der Klägerin schloss der ambulante Leistungserbringer nicht. Der Pflegedienst erstellte an die Beklagte adressierte monatliche Rechnungen über die Leistung der Behandlungspflege I und II für den Abrechnungszeitraum vom 1. Juli 2017 bis zum 31. Oktober 2017.
Die Beklagte lehnte die Gewährung häuslicher Krankenpflege mit Bescheid vom 3. August 2017 gegenüber der Klägerin mit der Begründung ab, dass die Klägerin Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen erhalte. Einfachste behandlungspflegerische Maßnahmen, die keine medizinischen Fachkenntnisse erforderten, gehörten zum Aufgabenkreis der Eingliederungshilfe. Das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen sei in diesem Rahmen vom Leistungserbringer der Eingliederungshilfe zu erbringen. Die Beklagte übersandte auch dem ambulanten Pflegedienst eine formlose Mitteilung, wonach sie für die Leistungen der häuslichen Krankenpflege für den ärztlich verordneten Zeitraum keine Kosten übernehme.
Den Widerspruch der Klägerin, mit dem sie geltend machte, dass der Träger der Eingliederungshilfe für die Leistung der häuslichen Krankenpflege kein geeignetes Personal zur Verfügung stellen könne, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22. November 2017 zurück. Gemäß der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. Februar 2015 (B 3 KR 10/14 R) seien einfachste Maßnahmen der Krankenpflege, die für Versicherte in einem Haushalt von jedem erwachsenen Haushaltsangehörigen erbracht werden könnten, untrennbarer Bestandteil der Eingliederungshilfe. Zu den einfachsten Maßnahmen gehöre das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen. Damit seien die Voraussetzungen für einen Anspruch auf häusliche Krankenpflege nicht erfüllt. Die Klägerin habe die von der Beklagten angeforderten Unterlagen zum Inhalt der ihr bewilligten Leistungen der Eingliederungshilfe nicht eingereicht.
Die Klägerin hat am 19. Dezember 2017 Klage zum Sozialgericht Neuruppin erhoben. Sie begehre die Kostenübernahme für die häusliche Krankenpflege in dem Zeitraum vom 13. Juli 2017 bis zum 31. Oktober 2017. Die medizinischen Voraussetzungen für einen Anspruch auf häusliche Krankenpflege in Gestalt des An- und Ausziehens der Kompressionsstrümpfe seien erfüllt. Aufgrund ihrer Erkrankung müsse sie zur Sicherstellung der ambulanten medizinischen Behandlung die Kompressionsstrümpfe tragen. Bei deren An- und Ausziehen benötige sie Hilfe. Diese Hilfe gehöre für die Kompressionsstrümpfe ab Klasse 2 zu den Hilfeleistungen der Behandlungspflege. Sie lebe auch in einem eigenen Haushalt i.S. des § 37 Abs. 2 SGB V und nicht in einer Einrichtung oder einer Wohngruppe für geistig behinderte Menschen. Dagegen spreche nicht, dass ihre Wohnung von der A P gGmbH angemietet sei, denn die Klägerin lebe eigenständig und selbständig in ihrem eigenen Haushalt. Zwar suchten die Mitarbeiter der A P sie in der gemieteten Wohnung auf, die Fachleistungsstunden würden aber nicht an festen Tagen und Uhrzeiten durchgeführt. Außerdem sei eine Verteilung der sieben Fachleistungsstunden auf sieben Tage pro Woche nicht möglich, da teilweise bereits einzelne Betreuungsleistungen wie die Begleitung zu Arztbesuchen einen besonders hohen zeitlichen Aufwand erforderten. Ein Anspruch auf Behandlungspflege gegen die Beklagte sei weder durch den Betreuungsvertrag „A B W P“ noch auf der Grundlage der Vereinbarung zwischen dem Sozialhilfeträger, dem beigeladenen Landkreis Prignitz, und der A-A P gGmbH gemäß § 75 SGB XII ausgeschlossen. Die ambulante Betreuung durch die AWO beinhalte weder eine medizinische noch eine pflegerische Betreuung. Der Verweis auf das Urteil des BSG vom 25. Februar 2015 sei in Anbetracht der Lebensumstände der Klägerin nicht zielführend. Nach den Zielen der Vereinbarung nach § 75 Abs. 3 SGB XII zwischen der Beigeladenen und der AWO gGmbH als Leistungserbringer sollte die Eingliederungshilfe die Betreuten befähigen, ihren Alltag möglichst selbständig und kompetent zu bewältigen. Die pädagogisch fachliche Ausbildung der Mitarbeiter*innen setze voraus, dass diese in der Lage seien, mit geistig behinderten Menschen zu arbeiten. Die Hilfestellung umfasse die Anleitung, Motivation und Unterstützung bei der Umsetzung ärztlicher und therapeutischer Verordnungen. Leistungen der häuslichen Krankenpflege gehörten nicht dazu. Keine der für die Klägerin eingesetzten pädagogischen Mitarbeiter*innen verfüge über eine Berechtigung zur medizinischen Behandlungspflege. Außerdem habe der Leistungserbringer der Eingliederungshilfe nicht permanent Zugang zur Wohnung der Klägerin.
Die Klägerin hat die vom Pflegedienst ausgestellten monatlichen Rechnungen für den Abrechnungszeitraum vom 1. Juli 2017 bis zum 31. Oktober 2017 nebst den Leistungsnachweisen übersandt.
Mit Gerichtsbescheid vom 18. Juni 2020 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Ein Freistellungsanspruch der Klägerin bestehe deshalb nicht, weil die Kosten für das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe nicht bezifferbar seien. Die eingereichten Rechnungen der AP gGmbH, in denen jeweils monatsweise die erbrachten Leistungen für die Zeit vom 1. Juli 2017 bis zum 31. Oktober 2017 abgerechnet seien, enthielten die Rechnungspositionen Behandlungspflege I, II sowie Wegepauschale und anteilige Wegepauschale. Aus diesen sei nicht ersichtlich, welche Kosten speziell auf das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe entfielen. Die Klägerin habe auch auf Nachfrage des Gerichts die Höhe der Kosten nicht klargestellt und nicht mitgeteilt, woraus sich speziell diese Kosten ergäben.
Die Klägerin hat gegen den ihr am 26. Juni 2020 zugestellten Gerichtsbescheid am 27. Juni 2020 Berufung eingelegt. Es sei für sie bedeutsam ein Urteil des Landessozialgerichts zu erhalten, um die Geltendmachung möglicher zivilrechtlicher Ansprüche des Leistungserbringers der Krankenpflegeleistungen abzuwehren.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin vom 18. Juni 2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. August 2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. November 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Klägerin von den Forderungen der AWO Prignitz gGmbH, betreffend das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen in der Zeit vom 13. Juli 2017 bis zum 31. Oktober 2017 freizustellen.
Die Beklagte und der Beigeladene stellen keine Anträge.
Mit Beschluss vom 5. Februar 2021 hat der Senat den Rechtsstreit der Berichterstatterin übertragen, die zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern und Richterinnen entscheidet.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der geheimen Beratung und der Entscheidungsfindung war.
I. Der Senat hat über die Berufung gemäß § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der Besetzung durch die Berichterstatterin und den ehrenamtlichen Richter sowie die ehrenamtliche Richterin entschieden, weil das Sozialgericht über die Klage durch Gerichtsbescheid entschieden und der Senat durch Beschluss vom 5. Februar 2021die Berufung der Berichterstatterin zur Entscheidung zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern/Richterinnen übertragen hat.
II. Der Senat durfte im Wege des schriftlichen Verfahrens entscheiden, weil die Beteiligten dafür ihr Einverständnis erklärt haben (§§ 153 Abs. 1 i.V.m. 124 Abs. 2 SGG).
III. Die Berufung bleibt ohne Erfolg. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat für die Zeit vom 13. Juli bis zum 31. Oktober 2017 keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die behandlungspflegerischen Leistungen der häuslichen Krankenpflege in Gestalt des zweimal täglichen An- bzw. Ausziehens von Kompressionsstrümpfen für 7 Tage pro Woche.
Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat Bezug auf die zutreffenden Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 153 Abs. 2 SGG). Zu ergänzen und zu betonen bleibt:
Die Klägerin begehrt die Freistellung von Kosten für die Leistungen der häuslichen Krankenpflege in dem o.g. vergangenen Zeitraum, denn diese Leistungen wurden als Sach- bzw. Dienstleistungen vom Pflegedienst bereits erbracht. Voraussetzung eines Erstattungs- wie auch eines Freistellungsanspruchs nach § 13 Abs. 3 Fünftes Buch/Sozialgesetzbuch (SGB V) und auch nach § 18 Abs. 6 Neuntes Buch/Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der ab dem 1. Januar 2018 geltenden Fassung bzw. § 15 Abs. 1 Satz 4 Elftes Buch/Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung ist die Belastung mit Kosten oder im Fall des Freistellungsanspruch das Bestehen einer entsprechenden zivilrechtlich wirksamen Forderung eines Dritten, der sich die Klägerin gegenübersieht. Das setzt ein unbedingtes Verpflichtungsgeschäft im Verhältnis zwischen der Versicherten/Leistungsempfängerin und dem Leistungserbringer (dem Dritten) voraus, welches Grundlage einer Forderung ist.
Ein solches Verpflichtungsgeschäft ist zwischen der Klägerin und dem ambulanten Pflegedienst nicht zustande gekommen. Die Klägerin hat nach eigenen Angaben keinen schriftlichen Vertrag mit dem ambulanten Pflegedienst über die Erbringung der behandlungspflegerischen Leistungen des An- und Ausziehens von Kompressionsstrümpfen der Klasse 2 zweimal am Tag an sieben Tagen pro Woche geschlossen. Schon das spricht dagegen, dass der Pflegedienst einen vertraglich begründeten Zahlungsanspruch gegen sie aus der Leistungserbringung haben kann.
Gegen einen vertraglichen Zahlungsanspruch, der gegenüber der Klägerin entstanden ist, sprechen auch die übrigen Bedingungen, nicht zuletzt die Rechnungen des ambulanten Pflegedienstes für die streitgegenständliche Zeit. Diese dokumentieren, dass die A P gGmbH die Leistungen für die Krankenkasse erbracht hat, konkret als Sachleistungen der Behandlungspflege. Die Rechnungen sind sämtlich an die Beklagte, die AOK, adressiert, nicht an die Klägerin. Sie sind verbunden mit der Aufforderung an die Beklagte, den Rechnungsbetrag an den Pflegedienst, die A P gGmbH, zu überweisen. Die Behandlungspflege wurde als eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht. Nach § 2 Abs. 1 und 2 SGB V stellen die Krankenkassen ihren Versicherten die im Dritten Kapitel des Gesetzes genannten Leistungen, zu denen auch die häusliche Krankenpflege gehört (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4, § 37 Abs. 2 SGB V), als Sachleistungen kostenfrei zur Verfügung. Sie bedienen sich dabei zugelassener Leistungserbringer, mit denen sie entsprechende Verträge schließen (§ 2 Abs. 2 Satz 2 SGB V, speziell für die häusliche Krankenpflege: § 132a Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. Abs. 4 SGB V). Die Versicherten erhalten die benötigten Leistungen unentgeltlich; die Vergütung der Leistungserbringer erfolgt durch die Krankenkasse. Der Vergütungsanspruch der Leistungserbringer richtet sich damit nicht gegen Versicherte, sondern allein gegen die Krankenkasse. Daher fordert der Leistungserbringer im vorliegenden Fall, die A P gGmbH, die Beklagte auch zur Zahlung an sich auf.
Es liegt im Fall der Klägerin kein Vertragsschluss durch schlüssiges Verhalten, wie die Entgegennahme üblicherweise nur gegen Vergütung gewährter Leistungen, vor. Denn der ambulante Pflegedienst ist erkennbar davon ausgegangen, dass er Leistungen zu Lasten der Krankenkasse erbringt (dazu oben). Er hat also mit den Leistungen der häuslichen Krankenpflege der Klägerin gegenüber gerade kein auf eine Entgeltverpflichtung der Klägerin gerichtetes Vertragsangebot unterbreitet, welches sie angenommen hat. Außerdem entsprach eine Behandlung als Privatpatientin mit der Verpflichtung, die entstehenden Kosten selbst zu zahlen, weder dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen der Klägerin noch ihrem Interesse. Sie wollte eine Leistung der Krankenkasse in Anspruch nehmen.
Ansprüche aus Bereicherungsrecht oder Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA), deren Rechtsgrundsätze auch in öffentlich-rechtlichen Leistungsbeziehungen anwendbar sind, scheiden aus. Die A P gGmbH hat eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung im Verhältnis zur Beklagten erbracht und deshalb kann nach dem Zweck der Leistung nur diese bereichert sein. Einen Anspruch auf Wertersatz gemäß § 818 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 BGB kann der Pflegedienst gegen die Klägerin nicht geltend machen Der Vorrang der Leistungskondiktion verweist die Beteiligten darauf, den Wertersatz in dem jeweiligen Leistungsverhältnis zu suchen. Das ist hier das Verhältnis zwischen A gGmbH und der Beklagten, nicht das Verhältnis Klägerin – A gGmbH. In einem Mehrpersonenverhältnis ist Leistender derjenige, der aus der Sicht eines verständigen Empfängers (sogenannter objektiver Empfängerhorizont) die Leistung gewährt. Das war hier der Pflegedienst im Verhältnis zur Beklagten und die Beklagte im Verhältnis zur Klägerin. Ein Durchgriff auf das jeweils andere Leistungsverhältnis ist grundsätzlich und auch in diesem Fall nicht zulässig.
Auch ein etwaiger Bereicherungsausgleich müsste sich nicht zwischen Pflegedienst und Klägerin, sondern zwischen Pflegedienst und Beklagter vollziehen
Die Klägerin kann auch nicht als Treuhänderin Ansprüche der A P gGmbH gegen die Beklagte (klageweise) geltend machen (dazu näher Urteil des Bundessozialgerichts – BSG – vom 9. Oktober 2001, B 1 KR 6/01 R, zitiert nach juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).