Gericht | FG Berlin-Brandenburg 9. Senat | Entscheidungsdatum | 14.07.2021 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | 9 V 9046/21 | ECLI | ECLI:DE:FGBEBB:2021:0714.9V9046.21.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Der Antrag wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Antragsteller auferlegt.
I.
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Antragsgegner den Antragsteller als ehemaligen Vorstandsvorsitzenden einer B… AG mit Sitz in C… wegen rückständiger Umsatzsteuerverbindlichkeiten betr. die Jahre 2010 bis einschließlich 2015 in Höhe von insgesamt
1 326 845,44 EUR persönlich in Haftung nehmen kann.
Die B… AG wurde im September 2007 mit Sitz in C…, D…-straße gegründet (UR-Nr. …/2007 des Notars E… in C…). Satzungsmäßiger Unternehmensgegenstand war „der Import, der Export, die Entwicklung, die Herstellung und der Vertrieb von Erzeugnissen der Unterhaltungselektronik“. Das Grundkapital betrug 50 000,00 EUR und entfiel jeweils zur Hälfte auf zwei Gesellschafter: den 1952 geborenen F… aus C… und den 1954 geborenen G…, ebenfalls wohnhaft in C…. Der 1952 geborene Antragsteller, ebenfalls wohnhaft in C…, wurde zum Vorstand bestellt. Die Gesellschaft wurde am 15. Oktober 2007 in das Handelsregister beim Amtsgericht (AG) C… eingetragen (HRB …).
Während sich die Schwestergesellschaft, die H… AG mit Sitz ebenfalls in C…, mit der Konfektionierung einzelner Komponenten von Satellitenempfangsanlagen mit dem Ziel der Weiterveräußerung befasste, kümmerte sich die B… AG um den Vertrieb der fertiggestellten Satellitenempfangsanlagen. Ab dem Jahr 2009 waren die Umsätze der beiden Unternehmen aus diesen Aufgabenbereichen aufgrund des technischen Fortschritts des internetbasierten Fernsehens und des damit einhergehenden Nachfragerückgangs nach TV-Satellitenempfangsanlagen sowie eines erheblichen Preisverfalls bei dieser Technik stark rückläufig.
Der Antragsteller war seit dem 21. Dezember 2005 auch Vorstandsvorsitzender der H… AG. Mitgesellschafter dieser AG war ebenfalls F…, der auch Eigentümer des Betriebsgrundstücks D…-straße in C… war.
Die B… AG wurde in steuerlicher Hinsicht bis zum 22. Dezember 2010 (= Tag des Mandatsentzugs gegenüber dem Antragsgegner) von Frau Steuerberaterin I… aus J… vertreten. Anschließend wurde sie durch Herrn Rechtsanwalt K… aus L…, M…-straße vertreten.
Mit Schreiben vom 25. Februar 2008 gestattete der Antragsgegner der B… AG unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs, die Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten zu berechnen (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 20 Abs. 2 UStG).
Die B… AG erklärte in den Jahren 2010 ff. folgende Umsätze und Betriebsergebnisse:
Umsatz: | Betriebsergebnis: | |
2010: | 2 300 387,12 EUR | 8 764,63 EUR |
2011: | 2 784 697,87 EUR | 50 891,47 EUR |
2012: | 3 156 259,57 EUR | 11 986,87 EUR |
2013: | 3 506 713.05 EUR | 26 667,17 EUR |
2014: | 3 604 546,46 EUR | 3 357,00 EUR |
2015: | 1 660 000,00 EUR | ./. 165 000,00 EUR |
Der Antragsgegner folgte zunächst den Angaben in der nach Bekanntgabe eines Schätzungsbescheides eingereichten Steuererklärung für das Jahr 2010 und setzte die Umsatzsteuer mit Bescheid vom 5. Februar 2013 auf ./. 27 362,61 EUR fest. Der Bescheid erging gemäß § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung - AO - unter Aufrechterhaltung des Vorbehalts der Nachprüfung.
Mangels fristgerechter Einreichung von Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 2011 und 2012 schätzte der Antragsgegner die Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 Abs. 1 AO und setzte die Umsatzsteuer mit Bescheid vom 27. Mai 2013 auf 16 451,29 EUR bzw. mit Bescheid vom 2. Oktober 2014 auf 24 742,69 EUR fest. Die Bescheide ergingen jeweils unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. In der Folgezeit reichte die B… AG die ausstehenden Umsatzsteuererklärungen beim Antragsgegner ein, die dieser zunächst jeweils ohne inhaltliche Abweichungen zum Soll stellte.
Der Antragsgegner folgte zunächst den Angaben in der Umsatzsteuererklärung 2013 vom 9. Oktober 2015 und stellte die dort erklärte Umsatzsteuer in Höhe von 19 371,97 EUR zum Soll.
Für den Zeitraum 1. Quartal 2014 sowie die Monate April 2014 bis April 2015 reichte die B… AG beim Antragsgegner jeweils Umsatzsteuervoranmeldungen ein. Die sich hieraus ergebenden Umsatzsteuerbeträge stellte der Antragsgegner jeweils zum Soll.
Ab Frühjahr 2014 führte das Finanzamt N… eine Außenprüfung bei einer O… GmbH mit Sitz in P… durch. Dabei stellte der Außenprüfer Geschäftsvorfälle fest, die mit dem Kerngeschäft der vorgenannten Gesellschaft, der Herstellung von Kunststoffteilen, keine Verbindung hatten. Nach dem Inhalt der betreffenden Rechnungen hatte die O… GmbH im Zeitraum 2010 – 2012 von vier Lieferanten Waren im Wert von netto 5 235 361,00 EUR erworben, die sie mit einem durchschnittlichen Aufschlagssatz von 3,3 v. H. in den Jahren 2010 und 2011 bzw. von 2,5 v. H. im Jahr 2012 veräußert und hierdurch einen Umsatz in Höhe von netto 5 398 138,00 EUR erzielt haben wollte. Bei den vier beteiligten Unternehmen handelt es sich um die
- Q… GmbH, vertreten durch Herrn R… (Gesellschafter waren bis zum 31. Dezember 2014 der Antragsteller zu 60 v. H., F… zu 25 v. H. und S… zu 15 v. H.)
- H… AG, vertreten durch den Antragsteller
- B… AG, vertreten durch den Antragsteller
- T…, D…-straße in C…, bis zum 14. Dezember 2012 vertreten durch R…, danach vertreten durch U…
Auf Nachfrage des Außenprüfers konnte der Geschäftsführer V… zu diesen Transaktionen keine Transport- bzw. Speditionsnachweise, Angebote, Geschäftsbriefe, Faxe, Verträge etc. vorlegen. Daraufhin regte die Betriebsprüfungsstelle im Finanzamt N… eine Prüfung oder Umsatzsteuer-Nachschau bei den für die Lieferanten und Abnehmer zuständigen Finanzämtern (u. a. dem Antragsgegner) an. Herr V… war mit dem Antragsteller privat befreundet.
Im Zeitraum Juni 2014 bis Juni 2016 führte der Antragsgegner bei der B… AG eine Außenprüfung betr. die Jahre 2009 bis 2014 durch (vgl. Bericht vom 30. Juni 2016). Aufgrund der Ergebnisse der Außenprüfung erließ der Antragsgegner am 11. Mai 2016 nach § 164 Abs. 2 AO geänderte Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2010 bis 2013 über folgende neue Steuerbeträge:
2010: 146 083,20 EUR (fällig am 17. Juni 2016: 173 445,81 EUR)
2011: 254 471,58 EUR (fällig am 17. Juni 2016: 217 864,14 EUR)
2012: 376 907,43 EUR (fällig am 17. Juni 2016: 382 615,09 EUR)
2013: 590 634,99 EUR (fällig am 17. Juni 2016: 571 263,02 EUR)
Die B… AG legte gegen die Bescheide fristgerecht Einsprüche ein, über die noch keine Entscheidungen getroffen wurden.
Mangels Einreichung einer Umsatzsteuerjahreserklärung für das Streitjahr 2014 durch die B… AG schätzte der Antragsgegner die Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 Abs. 1 AO und erließ am 11. Mai 2016 einen Umsatzsteuer-Schätzbescheid über 617 504,26 EUR, aus dem sich eine per 17. Juni 2016 fällige Nachzahlungspflicht in Höhe von 595 104,22 EUR ergab. Der Bescheid erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO). Die B… AG kam in der Folgezeit ihrer Tilgungsverpflichtung aus diesem Bescheid nicht nach. Am 13. Juni 2016 erging ein nach § 164 Abs. 2 AO geänderter Umsatzsteuerbescheid für 2014, mittels dessen die Umsatzsteuer auf 617 359,05 EUR herabgesetzt wurde. Auch die aktualisierte Nachzahlungsverpflichtung in Höhe von 594 959,01 EUR blieb in der Folgezeit im Hinblick auf das inzwischen eröffnete Insolvenzverfahren ungetilgt.
Außerdem führte die Steuerfahndungsstelle des Finanzamtes W… eine Steuerfahndungsprüfung durch (vgl. den Strafrechtlichen Bericht vom 14. Juni 2018). Diese führte u. a. zu einer Anklage und Verurteilung des Antragstellers wegen Hinterziehung von Umsatzsteuer in 18 Fällen betr. Umsatzsteuer 2010 bis 2013 sowie Umsatzsteuervorauszahlungen Januar 2014 bis April 2015 durch das LG C… (Urteil vom 8. Dezember 2020 – A 22 KLs 5/19). Der Antragsteller hat gegen das Urteil, welches eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung beinhaltet, fristgerecht Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) eingelegt. Grundlage des Strafurteils waren u. a. zahlreiche Beweiserhebungen durch Zeugenvernehmungen an insgesamt vier Verhandlungstagen.
In dem Strafurteil ist auf den Seiten 3 und 4 u. a. Folgendes ausgeführt: „In Absprache mit F… und V… fingierte der Angeklagte in den Jahren 2010 bis 2015 insgesamt 179 scheinbare Verkäufe von Elektronikartikeln an von der H… AG, teilweise über die Q… GmbH, an die O… GmbH. Dabei gab der Angeklagte jeweils vor, mit welchem Aufschlag und mit welchem Zahlungsziel die O… GmbH wiederum Ausgangsrechnungen an die B… AG fertigen sollte, nach denen die Ware von der O… GmbH angeblich an die B… AG weiterverkauft worden sein sollte. Von den im Rahmen dieser Rechnungsketten an die B… AG scheinbar gelieferten Waren fakturierte der Angeklagte in der Folge in den Jahren 80 – 90 % wieder zurück an die H… AG.
Im Rahmen der Erfüllung der umsatzsteuerlichen Pflichten der B… AG reichte der Angeklagte die vier Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 2010 bis 2013 und weitere 14 Umsatzsteuervoranmeldungen in den Jahren 2014 und 2015 ein, in denen er jeweils die in den Rechnungen der O… GmbH ausgewiesene Vorsteuer geltend machte, obwohl er wusste, dass es sich dabei nur um „Scheingeschäfte“ gehandelt hatte. Er verkürzte dabei die für die B… AG festgesetzte Umsatzsteuer in einer Gesamthöhe von 1 492 383,98 EUR.
Wie die B… AG behandelten auch die H… AG, die O… GmbH und die Q… GmbH die Scheingeschäfte wie tatsächliche Lieferungen. Die ausgewiesenen Rechnungsbeträge wurden jeweils zwischen den beteiligten Unternehmen verrechnet oder überwiesen. Zudem erklärten sie jeweils die ausgewiesene Umsatzsteuer bzw. Vorsteuer in ihren Umsatzsteuererklärungen. Insbesondere erfüllte die O… GmbH die sich ergebenden Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Finanzamt X…. Auch die H… AG hatte keine Zahlungsrückstände gegenüber dem für sie zuständigen Finanzamt ….
Die mit den „Rechnungsketten“ ausgewiesenen Umsätze stellten nahezu 2/3 der Umsätze der B… AG im Jahr 2013 dar und steigerten sich bis auf 97 % im Jahr 2015. ….“
Auf Antrag der B… AG vom 18. April 2016 wurde durch Beschluss des Amtsgerichts (AG) C… vom 1. Juni 2016 ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft eröffnet und Rechtsanwalt Y… zum Insolvenzverwalter bestellt (Az.: 63 IN 160/16). Diese ermittelte im sog. Insolvenzantragsgutachten vom 30. Juni 2016 noch vorhandene Aktiva im Umfang von 35 508,00 EUR, denen Verbindlichkeiten in Höhe von 986 677,61 EUR gegenüberstanden.
Mittels Schreibens vom 20. November 2019 informierte der Antragsgegner den Antragsteller über seine Absicht, diesen unter Berufung auf § 191 Abs. 1 AO i. V. m. § 71 AO wegen rückständiger Umsatzsteuerverbindlichkeiten der B… AG in Höhe von 1 326 845,44 EUR persönlich in Haftung zu nehmen, und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme. Nach Akteneinsicht durch seine jetzigen Prozessbevollmächtigten regte der Antragsteller mittels Schriftsatzes seiner Prozessbevollmächtigten vom 24. Juni 2020 an, das hiesige Haftungsverfahren auszusetzen, bis eine Entscheidung des FG Berlin-Brandenburg betr. die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids vom 19. Mai 2018 hinsichtlich der rückständigen Umsatzsteuerverbindlichkeiten der H… AG vorliege.
Der Antragsgegner folgte dieser Anregung nicht, sondern erließ am 12. August 2020 unter Berufung auf § 191 Abs. 1 AO i. V. m. § 71 AO einen Haftungsbescheid über 1 326 845,44 EUR. Der Betrag setzt sich wie folgt zusammen:
Steuerart und – | zeitraum | Fälligkeit | Haftungsbetrag |
USt 2010 | 17.06.2016 | 30.01.2012 | 73 775,64 EUR |
USt 2011 | 17.06.2016 | 30.01.2013 | 37 803.37 EUR |
USt 2012 | 17.06.2016 | 30.01.2014 | 133 975,77 EUR |
USt 2013 | 17.06.2016 | 30.01.2015 | 424 296,14 EUR |
USt-VZ I/2014 | 17.06.2016 | 10.05.2014 | 120 750,74 EUR |
USt- VZ 04/2014 | 17.06.2016 | 10.06.2014 | 35 607,91 EUR |
USt-VZ 05/2014 | 17.06.2014 | 10.07.2014 | 43 098,17 EUR |
USt-VZ 06/2014 | 17.06.2014 | 10.08.2014 | 39 631,93 EUR |
USt-VZ 07/2014 | 17.06.2014 | 10.09.2014 | 49 951,75 EUR |
USt-VZ 08/2014 | 17.06.2014 | 10.10.2014 | 41 427,18 EUR |
USt-VZ 09/2014 | 17.06.2014 | 10.11.2015 | 41 395,81 EUR |
USt-VZ 10/2014 | 17.06.2014 | 10.12.2015 | 49 371,29 EUR |
USt-VZ 11/2014 | 17.06.2014 | 10.01.2015 | 33 823,01 EUR |
USt-VZ 12/2014 | 17.06.2014 | 10.02.2015 | 41 289,86 EUR |
USt-VZ 01/2015 | 20.06.2016 | 10.03.2015 | 32 925,58 EUR |
USt-VZ 02/2015 | 20.06. 2016 | 10.04.2015 | 57 806,76 EUR |
USt-VZ 03/2015 | 20.06.2016 | 10.05.2015 | 40 335,48 EUR |
USt-VZ 04/2015 | 20.06.2016 | 10.06.2015 | 29 580,15 EUR |
Zur Begründung der Haftungsinanspruchnahme des Antragstellers verwies der Antragsgegner auf den Inhalt des „Strafrechtlichen Berichts“ des Finanzamtes W… vom 14. Juni 2018.
Die Ermittlungen seitens der Steuerfahndungsstelle des Finanzamtes W… hätten ergeben, dass der Antragsteller in seiner Eigenschaft als alleiniger Vorstand der B… AG bezüglich der o. g. Besteuerungszeiträume inhaltlich unzutreffende Umsatzsteuererklärungen bzw. Umsatzsteuervoranmeldungen bei ihm, dem Antragsgegner, eingereicht und dadurch Umsatzsteuern in Höhe von insgesamt 1 326 845,44 EUR zugunsten der B… AG verkürzt habe. Die von ihm vorsätzlich begangenen Handlungen würden den Tatbestand von Steuerhinterziehungen im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO erfüllen.
Die in Rechnungen dargestellten Lieferungen von Waren seien „auf dem Papier“ gegenüber den zuständigen Finanzämtern vorgetäuscht worden. Entsprechende Warenbewegungen hätten nicht stattgefunden. Der Vorsteuerabzug aus den Rechnungen sei unrechtmäßig erfolgt.
Dass es sich bei den Eingangsrechnungen der O… GmbH um Scheinrechnungen gehandelt habe, sei dem Antragsteller bekannt gewesen. Aufgrund seiner unternehmerischen Expertise habe er auch gewusst, dass ein Vorsteuerabzug aus diesen Rechnungen steuerlich nicht zulässig gewesen sei.
In Folge der Steuerhinterziehungen sei ihm, dem Antragsgegner, ein Schaden in Höhe von 1 326 845,44 EUR entstanden, denn die aufgrund der falschen Angaben nicht bzw. nicht fristgerecht festgesetzten Umsatzsteuern seien später von der B… AG nicht entrichtet worden.
Entsprechend den Ermittlungsergebnissen der Steuerfahndungsstelle, nach Aktenlage und ausweislich des Inhaltes des Gutachtens im Insolvenzantragsverfahren vom 30. Mai 2016 hätten im Haftungszeitraum (30. Januar 2012 bis 18. April 2016) keine Liquiditätsengpässe bei der B… AG vorgelegen. Das in Fällen wirtschaftlicher Schwierigkeiten bei der Haftung zu berücksichtigende Prinzip der anteiligen Tilgung komme unter diesen Umständen nicht zur Anwendung.
Die Haftungsinanspruchnahme erfolge innerhalb der nach § 5 AO zu beachtenden Ermessensgrenzen. Eine Darlegung des Entschließungsermessens sei im vorliegenden Fall nicht erforderlich, da die Ermessensentscheidung zur Haftungsinanspruchnahme in den Fällen des § 71 AO vorgeprägt sei (Hinweis auf Urteil des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 13. November 1990 - VII R 96/88, Sammlung der Entscheidungen des BFH - BFH/NV - 1991, 641 sowie BFH-Beschluss vom 27. März 2006 – VII B 117/05, BFH/NV 2006, 1254). Weitere Personen seien nicht in Anspruch genommen worden, da es hierfür keine Anhaltspunkte gebe.
Gegen den Haftungsbescheid legte der Antragsteller mittels Schreibens seiner Prozessbevollmächtigten vom 26. August 2020 Einspruch ein. Mit Schreiben vom 23. Februar 2021 wurde außerdem die Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids beantragt. Diesen Antrag lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 3. März 2021 mit der Begründung ab, dass keine „ernstlichen Zweifel“ im Sinne von § 361 Abs. 2 AO an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestünden.
Zur Begründung seines gerichtlichen Antrags auf Aussetzung der Vollziehung macht der Antragsteller im Wesentlichen geltend, dass der angefochtene Haftungsbescheid rechtswidrig sei, weil er gegen die europarechtlichen Bestimmungen des Umsatzsteuerrechts verstoße (Hinweis auf Urteil der 1. Kammer des Europäischen Gerichtshofs - EuGH - vom 8. Mai 2019 – C-712/17, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung – HFR – 2019, 634). Der vom EuGH zu beurteilende Sachverhalt sei mit dem vorliegenden Sachverhalt nahezu identisch. Dort seien fiktive Verkäufe von Elektrizität in einer „zirkulären“ Art und Weise zwischen mehreren Händlern vorgenommen und deren Umsätze jeweils den dort zuständigen Finanzämtern erklärt und die Zahllasten aus der Umsatzsteuer erfüllt worden (soweit keine Verrechnungen mit anderen Umsatzsteuern vorgenommen worden seien). Der EuGH habe die dritte Vorlagefrage des zuständigen italienischen Gerichts wie folgt beantwortet: „(….), dass die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen sind, dass sie in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens einer nationalen Rechtsvorschrift, nach der der zu Unrecht vorgenommene Abzug der Mehrwertsteuer mit einer Geldbuße in Höhe des durchgeführten Vorsteuerabzugs bestraft wird, entgegenstehen.“
Im vorliegenden Verfahren sei nicht über eine straf- oder bußgeldrechtliche Sanktion zu entscheiden. Der Antwort des EuGHs auf die dritte Vorlagefrage sei jedoch zu entnehmen, dass das Mehrwertsteuersystem der Richtlinie 2006/112/EG auf den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer aufbaue. Der Staat solle nicht mehr Steueransprüche erwerben als bei einer ordnungsgemäßen Handlung (Überkompensationsverbot). Dieser Grundsatz sei nicht nur bei straf- oder bußgeldrechtlichen Sanktionen zu beachten, sondern auch bei vergleichbaren Sanktionen wie hier, der Haftungsinanspruchnahmen nach § 71 AO. Unabhängig von der tatsächlichen Situation, dass er, der Antragsteller, den festgesetzten Haftungsbetrag nicht ansatzweise entrichten könne, würde die Durchsetzung des Haftungsanspruchs dazu führen, dass die Finanzbehörden überkompensiert würden. Unstreitig sei, dass alle beteiligten steuerpflichtigen Unternehmen wie die B… AG, die H… AG und die O… GmbH die streitgegenständlichen Umsätze erklärt und die daraus folgenden Zahllasten erfüllt hätten. Eine Berichtigung nach § 14 c Abs. 2 Sätze 3 bis 5 UStG sei dauerhaft nicht mehr möglich, da über die Vermögen der B… AG und der H… AG Insolvenzverfahren eröffnet worden seien.
Außerdem würde eine sofortige Vollziehung des Haftungsbescheids für ihn, den Antragsteller, eine „unbillige Härte“ im Sinne von § 69 Abs. 2 Satz 2, 2. Alt. FGO darstellen. Er sei inzwischen Altersrentner und beziehe von der Deutschen Rentenversicherung Bund eine monatliche Rente in Höhe von 1 681,83 EUR sowie Honorare als Nachhilfelehrer in Höhe von monatlich ca. 250,00 EUR. Er verfüge über kein nennenswertes Vermögen (Hinweis auf seine „Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse“ vom 2. Juni 2021“).
Der Antragsteller beantragt,
den Rechtsstreit dem Europäischen Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV vorzulegen mit der Vorabfrage, ob die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer dahingehend auszulegen sind, dass sie in einer Situation wie der des hiesigen Verfahrens der Anwendung des § 71 AO entgegenstehen (rechnungsausstellendes Unternehmen erklärt tatsächlich vereinnahmte Umsatzsteuer aus fiktivem Leistungsaustausch gegenüber dem hierfür zuständigen Finanzamt),
hilfsweise,
die Vollziehung des Haftungsbescheids vom 12. August 2020 ab Fälligkeit bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung auszusetzen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Er verweist zunächst auf seine Ausführungen im angefochtenen Haftungsbescheid und in seinem Betriebsprüfungsbericht vom 30. Juni 2016 sowie ergänzend auf den strafrechtlichen Bericht des Finanzamtes W… vom 14. Juni 2018 und das Urteil des LG C… vom 8. Dezember 2020 (Az.: 22 KLs 5/19).
Ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH komme im vorliegenden Verfahren grundsätzlich nicht in Betracht, weil in dem Eilverfahren der Sachverhalt vom FG nur aufgrund präsenter Beweismittel ermittelt und die entscheidungserhebliche Rechtsfrage nicht abschließend geprüft werde (Hinweis auf Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 69 FGO sowie Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO).
Überdies habe der EuGH in seinem vom Antragsteller zitierten Urteil vom 8. Mai 2019 – C 712/17 in Rz. 25 klargestellt, dass es kein Recht auf Vorsteuerabzug bei fiktiven Lieferungen gebe. Außerdem gebe es keinerlei Verbindung zwischen versteuerten (Ausgangs-) Umsätzen und der Frage nach der Berechtigung zum Vorsteuerabzug bei fiktiven Rechnungen (Rz.24). In Rz. 36 habe der EuGH zudem festgestellt, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie „einer nationalen Regelung nicht entgegenstehe, die den Abzug der auf fiktive Umsätze entfallenden Mehrwertsteuer ausschließe und zugleich Personen, die die Umsätze auf einer Rechnung ausweisen, verpflichtet seien, diese Steuer auch für fiktive Umsätze zu entrichten, sofern das nationale Recht erlaube, die sich aus dieser Verpflichtung ergebende Steuerschuld zu berichtigen, wenn der Aussteller dieser Rechnung nicht gutgläubig gewesen sei und die Gefährdung des Steueraufkommens nicht rechtzeitig und vollständig beseitigt habe …..“
Würde man der Auffassung des Antragstellers folgen, so wäre es unerheblich, ob geltend gemachten Vorsteuerbeträgen tatsächliche Leistungen zugrunde liegen würden, solange und soweit den Vorsteuerbeträgen identische Umsatzsteuerzahlungen seitens der rechnungsausstellenden Unternehmen gegenüberstünden. Diese Auffassung entspreche jedoch weder der Rechtsprechung des BFH zur Haftung nach § 71 AO im Falle eines unberechtigten Vorsteuerabzugs (Hinweis auf Urteil vom 26. September 2012, VII R 3/11, BFH/NV 2013, 337) noch der Rechtsprechung des EuGH (Hinweis auf Urteil der 1. Kammer des EuGH vom 8. Mai 2019, aaO).
Dem Senat haben bei seiner Entscheidung die Gerichtsakte 9 K 9115/19 des FG Berlin-Brandenburg (= Klage des Antragstellers gegen den Haftungsbescheid vom 29. Mai 2018 wegen rückständiger Umsatzsteuer 2010 betr. die H… AG), Kopien aus der Ermittlungsakte im Verfahren 1700 Js 33108/18 der Staatsanwaltschaft C… betr. den Antragsteller, das Urteil des LG C… vom 8. Dezember 2020 (Az.: 22 KLs 5/19) sowie sieben Bände Haftungs- und Steuerakten betr. die B… AG (StNr.: …) vorgelegen, auf deren Inhalt wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Beteiligtenvorbringens Bezug genommen wird.
II.
1. Sowohl der Haupt- als auch der Hilfsantrag sind unbegründet.
Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 FGO soll die Vollziehung eines angefochtenen Steuerverwaltungsakts ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen nach der ständigen Rechtsprechung des BFH vor, wenn neben den für die Rechtmäßigkeit des Steuerverwaltungsakts sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheiten in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (BFH-Beschluss vom 19. März 2014 – III B 74/13, BFH/NV 2014, 1032 Rz. 7; Stapperfend, in: Gräber, FGO, 9. Aufl., § 69 Rz. 160). Bei der notwendigen Abwägung der im Einzelfall entscheidungsrelevanten Umstände und Gründe sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bzw. des Rechtsmittels zu berücksichtigen. Irgendeine vage Erfolgsaussicht genügt nicht (BFH-Beschluss vom 17. Dezember 1998 – I B 101/98, BFH/NV 1999, 753; Stapperfend, aaO m. w. N.).
Dabei ist es im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung als summarischem Verfahren Sache der Beteiligten, die entscheidungserheblichen Tatsachen darzulegen und glaubhaft zu machen. Die Regeln über die Feststellungslast gelten auch für das Verfahren betr. die Aussetzung der Vollziehung. Das Finanzgericht ist nicht gehalten, eigene Sachverhaltsermittlungen anzustellen, aus den möglicherweise umfangreichen Akten Feststellungen zu treffen oder auf ungesicherter Tatsachenbasis Rechtsfragen zu klären, die sich nach weiterer Aufklärung des Sachverhaltes im Hauptsacheverfahren möglicherweise nicht stellen (Stapperfend, aaO, Rz. 196 f.).
a.) Bei Anwendung dieser Grundsätze bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids vom 12. August 2020. Es besteht auch kein sachlicher Grund, das Eilverfahren auszusetzen und die vom Antragsteller formulierte Rechtsfrage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.
b.) Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zweigliedrig (vgl. BFH-Urteil vom 20. September 2016 – X R 36/15, BFH/NV 2017, 593 m. w. N.). Das Finanzamt hat zunächst zu prüfen, ob in der Person oder den Personen, die es heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschrift erfüllt sind. Dabei handelt es sich um eine vom Gericht in vollem Umfang überprüfbare Rechtsentscheidung. Daran schließt sich die nach § 191 Abs. 1 AO zu treffende Ermessensentscheidung des Finanzamtes an, ob und wen es als Haftenden in Anspruch nehmen will. Diese auf der zweiten Stufe zu treffende Entscheidung ist gerichtlich nur im Rahmen des § 102 Abs. 1 FGO auf Ermessensfehler (Ermessensüberschreitung, Ermessensfehlgebrauch) überprüfbar. Prüfungsmaßstab hierfür ist allein die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (hier: der Einspruchsentscheidung). Werden während des Einspruchsverfahrens Tatsachen vorgetragen oder Umstände bekannt, die für die Ermessensausübung von Bedeutung sind, muss das Ermessen folglich auch bei einer ursprünglich fehlerfrei getroffenen Ermessensentscheidung überprüft und ggf. erneut ausgeübt werden (vgl. BFH-Urteil vom 5. März 1993 – VI R 79/91, Bundessteuerblatt – BStBl - II 1993, 692). Erstmals nach der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vorgetragene Umstände können hingegen bei der Überprüfung der Ermessensentscheidung des Finanzamtes durch das Gericht nicht mehr berücksichtigt werden.
Der Antragsgegner hat den Antragsteller zu Recht als Haftungsschuldner gemäß § 191 i. V. m. § 71 AO in Anspruch genommen, weil der Antragsteller als gesetzlicher Vertreter der B… AG im Sinne von § 34 Abs. 1 AO durch den mehrfachen Vorsteuerabzug, der auf Scheinrechnungen der O… GmbH beruhte, in 18 Fällen Steuerhinterziehungen im Sinne von § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO zugunsten der B… AG begangen hat.
Gemäß § 71 AO haftet, wer eine Steuerhinterziehung begeht, für die verkürzten Steuern und die zu Unrecht gewährten Steuervorteile. Voraussetzung der Haftungsinanspruchnahme ist mithin zunächst die Feststellung, dass eine Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO vorliegt. Dem Finanzamt müssen vorsätzlich unrichtige Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen gemacht und dadurch Steuern verkürzt, d. h. nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt worden sein (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 370 Abs. 4 Satz 1 AO). Die Steuerhinterziehung muss tatbestandsmäßig, rechtswidrig und vorsätzlich schuldhaft verwirklicht worden sein (vgl. BFH-Urteil vom 6. März 2001 – VII R 17/00, BFH/NV 2001, 1100). Diesbezüglich nimmt der Senat auf die zutreffenden Feststellungen des LG C… zum Sachverhalt sowie die überzeugenden Ausführungen des Strafgerichts zur strafrechtlichen Würdigung dieses Sachverhalts in der Person des Antragstellers im Urteil vom 8. Dezember 2020 (Az.: 22 KLs 5/19) Bezug.
Gegen die wesentlichen Feststellungen zum Sachverhalt sowie gegen die wesentlichen Rechtsausführungen des LG C… im vorgenannten Urteil (z. B. dass es sich bei den streitgegenständlichen Rechnungen, die dem Vorsteuerabzug seitens der B… AG zugrunde gelegen haben, um sog. „Scheinrechnungen“ gehandelt hat, denen kein tatsächlicher Leistungsaustausch zugrunde gelegen hat sowie dass der Antragsteller die streitgegenständlichen Steuerverkürzungen „vorsätzlich“ begangen hat) hat der Antragsteller im hiesigen Antragsverfahren keine inhaltlichen Einwendungen erhoben, sodass die diesbezügliche Bezugnahme des FG auf die Erkenntnisse zum Sachverhalt und Rechtsausführungen des LG C… zulässig ist (vgl. dazu allgemein nur BFH-Urteil vom 23. April 2014 – VII 41/12, BStBl II 2015, 117 m. w. N.).
Die Steuerhinterziehungen waren jeweils mit der Abgabe der unrichtigen Steuererklärungen bzw. Umsatzsteuervoranmeldungen vollendet, da die Voranmeldungen nach § 168 i. V. m. § 164 AO zu Steuerfestsetzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung geführt haben. Die begangenen Straftaten sind nicht rückwirkend dadurch entfallen, dass der Antragsgegner die streitgegenständlichen Eingangsrechnungen zu einem späteren Zeitpunkt als Scheinrechnungen eingestuft und den gewährten Vorsteuerabzug in Änderungsbescheiden rückgängig gemacht hat (vgl. dazu allgemein: BFH-Urteil vom 26. September 2012 – VII R 3/11, aaO m. w. N.).
Soweit der Antragsteller geltend macht, seine persönliche Haftungsinanspruchnahme nach § 71 AO sei mit der Rechtsprechung des EuGH zum Umsatzsteuerrecht nicht vereinbar, vermag der Senat ihm nicht zu folgen. Denn die 1. Kammer des EuGH hat auch in dem vom Antragsteller angeführten Urteil vom 8. Mai 2019 – C 712/17, HFR 2019, 626 in Rz. 25 eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass ein Vorsteuerabzug aus sog. Scheinrechnungen auch europarechtlich nicht zulässig ist. Somit durfte der Antragsgegner bei der B… AG die in deren Umsatzsteuererklärungen bzw. Umsatzsteuervoranmeldungen zu niedrig erklärten Umsatzsteuern nachfordern. Wenn aber die B… AG selbst diese Umsatzsteuern wegen ihrer Insolvenzreife nicht mehr entrichten kann, ist es rechtmäßig, dass der Antragsgegner statt ihrer deren damaligen alleinigen gesetzlichen Vertreter, den Antragsteller, persönlich auf Zahlung in Anspruch nimmt.
Die Haftung nach § 71 AO umfasst nach dem Wortlaut der Haftungsnorm die verkürzten Steuern bzw. die zu Unrecht gewährten Steuervorteile einschließlich der Nachzahlungszinsen in voller Höhe (vgl. dazu allgemein: BFH-Urteil vom 23. April 2014 – VII R 41/12, BStBl II 2015, 117; Jatzke, in: Gosch, AO/FGO, § 71 AO Rz. 14, Boeker, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 71 AO Rz. 20; Loose, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 71 AO Rz. 17, jeweils m. w. N.). Mit der Haftung nach § 71 AO soll der dem Fiskus entstandene Vermögensschaden ausgeglichen werden. § 71 AO ist keine Sanktionsnorm. Da die Norm Schadensersatzcharakter hat, ergibt sich die Höhe der Haftung unabhängig vom Maß des Verschuldens daraus, inwieweit die Pflichtverletzung für den Steuerausfall ursächlich gewesen ist (vgl. dazu allgemein: BFH-Urteil vom 26. September 2012, aaO m. w. N.). Durch die vom Antragsteller begangenen Steuerhinterziehungen ist beim Antragsgegner ein Steuerschaden eingetreten, weil durch die unberechtigten Vorsteuerabzüge rechtsgrundlos ungetilgte Steuerschulden der B… AG entstanden sind.
Der von der Haftung umfasste Steuerschaden durch die unberechtigte Geltendmachung der Vorsteuerbeträge aus den Rechnungen der O… GmbH wird nach ständiger Rechtsprechung des BFH, der der Senat folgt, durch die Entrichtung der in den Rechnungen ausgewiesenen Umsatzsteuer durch die O… GmbH nicht kompensiert. Nach der BFH Rechtsprechung bemisst sich der für die Haftung nach § 71 AO maßgebliche Schaden allein nach dem Umfang der tatsächlichen Erfüllung der Steuerschuld, zu deren rechtzeitiger Begleichung der zur Haftung Herangezogene verpflichtet gewesen ist. Die abgabenrechtlichen Haftungsnormen ähneln zwar den zivilrechtlichen Schadensersatzvorschriften, gleichen ihnen aber nicht in jeder Hinsicht. Der im Schadensersatzrecht anerkannte Grundsatz des Vorteilsausgleichs kann auf die steuerliche Haftung nach Ansicht des BFH ebenso wenig uneingeschränkt übertragen werden wie die Berücksichtigung des Mitverschuldens nach § 254 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), eines hypothetischen Kausalverlaufs oder die Lehre vom Schutzzweck der verletzten Norm. Denn der Haftungsanspruch nach § 71 AO entsteht, wenn die Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift erfüllt sind. Für die Berücksichtigung von dort nicht genannten Umständen fehlt es an einer Rechtsgrundlage (vgl. dazu BFH-Urteil vom 26. September 2012, aaO).
Schon nach dem Wortlaut des § 71 AO könnten Umsatzsteuerzahlungen der O… GmbH die Haftung des Antragstellers nicht beeinflussen. Die Vorschrift normiert nach Auffassung des BFH, der der Senat folgt, täterbezogen die Haftung für die durch Steuerhinterziehung verkürzten Steuern. Der Steuerhinterzieher haftet in Höhe der aufgrund seiner Tat verkürzten bzw. hinterzogenen Beträge. Der Tatbeitrag des Antragstellers liegt in der Geltendmachung der Vorsteuern aus den Rechnungen der O… GmbH in den streitgegenständlichen Umsatzsteuererklärungen bzw. –voranmeldungen. Da die Haftung „für die verkürzten Steuern und die zu Unrecht gewährten Steuervorteile“ nach § 71 AO mit der Begehung der mehrfachen Steuerhinterziehungen entstanden ist, wäre die Abführung der nämlichen Umsatzsteuer durch den fiktiven Lieferanten, auch wenn sie in einem Gesamtplan zur Vermeidung eines Steuerschadens vorgesehen sein sollte, unbeachtlich (vgl. BFH-Urteil vom 26. September 2012, aaO).
Der Vorhalt, ein Schaden des Fiskus werde ungerechtfertigt überkompensiert, wenn bei der Ermittlung der Haftungssumme die vom fiktiven Lieferanten abgeführte Umsatzsteuer unberücksichtigt bleibe, geht fehl. Denn eine solche Überkompensation hätte – läge sie vor – nach Ansicht des BFH, der der Senat folgt, ihre Ursache nicht im Haftungs-, sondern im Umsatzsteuerrecht und müsste ggf. mit den dort vorgesehenen Instrumentarien korrigiert werden (vgl. dazu allgemein: BFH-Beschluss vom 12. September 2014 – VII B 99/13, BFH/NV 2015, 161 m. w. N). Im Fall des unberechtigten Steuerausweises ist das Gebot der Umsatzsteuerneutralität kraft Gesetzes – zunächst – aufgehoben. Einerseits wird die in Rechnung gestellte Umsatzsteuer allein wegen dieses Steuerausweises geschuldet (vgl. § 14 c UStG), andererseits kann Vorsteuer nicht allein deshalb abgezogen werden, weil sie in einer Rechnung ausgewiesen ist (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG). Die dem Neutralitätsprinzip geschuldete Korrekturmöglichkeit bieten die Sätze 3 ff. des § 14 c Abs. 2 UStG, indem sie ein gesondertes Verfahren zur Berichtigung der geschuldeten Umsatzsteuer vorsehen, soweit die Gefährdung des Steueraufkommens – etwa durch Rückzahlung der geltend gemachten Vorsteuer – beseitigt worden ist (vgl. dazu allgemein: BFH-Urteil vom 26. September 2012, aaO m. w. N.). Eine solche Rückzahlung der geltend gemachten Vorsteuer ist vorliegend im Umfang der streitgegenständlichen Haftungsforderungen nach § 71 AO gegenüber dem Antragsteller gerade nicht erfolgt.
Der Senat sieht daher keinen sachlichen Grund, das vorliegende Eilverfahren auszusetzen und die vom Antragsteller formulierte Rechtsfrage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen (vgl. zu dieser ausnahmsweise auch in einem Eilverfahren bestehenden Möglichkeit allgemein: Birkenfeld, aaO, § 69 FGO Rz. 1308 m. w. N.).
Form- oder Ermessensfehler des angefochtenen Haftungsbescheids sind nicht ersichtlich. Die Ermessensentscheidung im Fall des Vorliegens einer Steuerhinterziehung im Sinne von § 370 AO – wie hier gegeben – ist nach der ständigen BFH-Rechtsprechung dahingehend „vorgeprägt“, dass es in jedem Fall rechtens ist, den Täter der Steuerhinterziehung persönlich in Haftung zu nehmen (vgl. dazu allgemein nur BFH-Urteil vom 26. September 2012, aaO m. w. N.).
b.) Die sofortige Vollziehung des Haftungsbescheids vom 12. August 2020 stellt auch keine „unbillige Härte“ im Sinne von § 69 Abs. 2 Satz 2, 2. Alt. FGO dar. Eine solche wäre nach der ständigen Rechtsprechung des BFH, der der Senat folgt, nur dann beachtlich, wenn zusätzlich Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen (vgl. dazu nur BFH-Beschluss vom 24. Mai 2016 - V B 123/15, BFH/NV 2016, 1253; Stapperfend, aaO, § 69 Rz. 172 m. w. N.). Dies ist nach dem oben Gesagten vorliegend nicht der Fall.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.