Gericht | VG Potsdam 3. Kammer | Entscheidungsdatum | 30.07.2021 | |
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Aktenzeichen | VG 3 K 3110/19 | ECLI | ECLI:DE:VGPOTSD:2021:0730.VG3K3110.19.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 81b Alt 2 StPO |
Die Anordnung zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen des Beklagten vom 4. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. November 2019 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Dem Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Kläger wendet sich gegen eine Anordnung zur Durchführung einer erkennungsdienstlichen Behandlung.
Am 24. Mai 2019 waren bei dem seinerzeit noch 16-jährigen Kläger im Zuge einer Kontrolle und einer anschließenden körperlichen Durchsuchung u. a. 12 Cliptütchen mit jeweils etwa 1,25 g Cannabis einzeln verpackt in einem größeren Beutel sowie eine Feinwaage gefunden worden. Daraufhin eingeleitete strafrechtliche Ermittlungen ergaben, dass der Kläger größtenteils in seinem Freundeskreis ausschließlich Cannabis in geringer Menge abgegeben hatte. Darüber hinaus soll er als Kurier (sog. „Läufer") fungiert haben, um Cannabis für andere zu verkaufen.
Weil er am 1. Juni 2019 unter Androhung von Gewalt Schulden in Höhe von 50 € aus dem Verkauf von Betäubungsmitteln eingetrieben haben soll, war gegen den Kläger ein weiteres Ermittlungsverfahren – wegen Verdachts der räuberischen Erpressung – eingeleitet worden.
Aus Anlass des erstgenannten Ermittlungsverfahrens erließ der Beklagte unter dem 4. Juli 2019 gegen den Kläger eine Anordnung zur Durchführung einer erkennungsdienstlichen Behandlung gemäß § 81 b 2. Alt. StPO. Darin heißt es zur Begründung, der Kläger verkaufe seit Januar 2019 nachweislich Cannabis in geringer Menge. Die erkennungsdienstlichen Maßnahmen dienten dazu, zukünftige Straftaten aufzuklären bzw. die Tatbegehung durch den Kläger auszuschließen.
Dagegen legte der Kläger am 11. Juli 2019 Widerspruch ein im Wesentlichen mit der Begründung, der Beklagte verkenne die Schwere des Eingriffs, die die Maßnahme für ihn als Jugendlichen bedeute. Ihm drohe eine Stigmatisierung.
Mit Widerspruchsbescheid vom 12. November 2019, zugestellt am 14. November 2019, wies der Beklagte den Widerspruch zurück u. a. mit der Erwägung, auch angesichts des Alters des Klägers lasse die diesem zur Last gelegte Straftat (Anlasstat) nicht auf ein lediglich typischerweise vorübergehendes jugendliches Fehlverhalten schließen. Im Bereich der Betäubungsmitteldelikte bestehe eine statistisch signifikant erhöhte Rückfallquote. Selbst bei erstmaliger Begehung – wie hier durch den Kläger – liege die Annahme einer Wiederholungsgefahr nahe.
Daraufhin hat der Kläger am 13. Dezember 2019 Klage erhoben.
Er trägt vor, der Anordnung der erkennungsdienstlichen Maßnahmen fehle es an der erforderlichen besonders sorgfältigen Abwägung zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an vorbeugender Verbrechensbekämpfung im Bereich der Jugendkriminalität und der Gefahr, der ein jugendlicher Beschuldigter durch die Maßnahmen im Hinblick darauf ausgesetzt sei, dass die störungsfreie Entwicklung der Persönlichkeit erheblich nachteilig beeinflusst werden könne.
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger Gelegenheit erhalten, zu seinem weiteren Werdegang vorzutragen. Wegen seiner diesbezüglichen Ausführungen wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift verwiesen.
Der Kläger beantragt,
die Anordnung zur Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen des Beklagten vom 4. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. November 2019 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt unter Verweis auf seine Ausführungen im Widerspruchsbescheid,
die Klage abzuweisen.
Im Laufe des Klageverfahrens haben die beiden eingangs genannten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren folgenden Ausgang genommen:
Wegen des Vorwurfs des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 5 Fällen ist der weiterhin noch minderjährige Kläger vor dem Amtsgericht Potsdam angeklagt worden. In der Hauptverhandlung vom 25. Juni 2020 hat er die ihm zur Last gelegten Taten eingeräumt. Daraufhin hat das Amtsgericht das Verfahren unter Erteilung der Auflage, einen sozialen Hilfsdienst von 30 Stunden abzuleisten, zunächst vorläufig und sodann, nach Erfüllung der Auflage durch den Kläger, endgültig eingestellt.
Das gegen den Kläger eingeleitete weitere Ermittlungsverfahren – wegen Verdachts der räuberischen Erpressung – ist am 17. April 2020 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden mit der Begründung, es fehlten belastbare Hinweise auf eine rechtswidrige Bereicherungsabsicht, da das Handeln ersichtlich auf die Beitreibung einer vermeintlich bestanden habenden Geldschuld gerichtet gewesen sei. Für eine weiter in Betracht kommende Nötigung wurde das öffentliche Strafverfolgungsinteresse verneint.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten – darunter die beiden Akten der Staatsanwaltschaft Potsdam (4...) – verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
I. Die zulässige Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 VwGO) ist begründet. Die Anordnung der Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen durch den Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Als Rechtsgrundlage für die Anordnung kommt allein § 81b 2. Alt. StPO in Betracht. Danach dürfen Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden, soweit es für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist. Diesen Anforderungen wird die angefochtene Anordnung nicht gerecht.
1. Allerdings erfüllt der Kläger die Beschuldigteneigenschaft. Er war im Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung Beschuldigter in einem Strafverfahren wegen des Verdachts des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Da in diesem Zusammenhang zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anordnung ausschließlich auf den Zeitpunkt ihres Erlasses abzustellen ist, kommt es nicht darauf an, welchen Ausgang das Strafverfahren in der Folgezeit genommen hat (vgl. die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, ausführlich zuletzt Urteil vom 27. Juni 2018 – 6 C 39.16 –, juris, Rn. 14 ff., m. w. N.).
2. Die angefochtene Anordnung erweist sich jedoch nicht (mehr) als notwendig.
Das Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff voller gerichtlicher Kontrolle. Diese hat nicht (nur) auf den Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung, sondern auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Vornahme der Maßnahmen abzustellen. Bei einer noch nicht vollzogenen Anordnung kommt es deshalb für die Notwendigkeit erkennungsdienstlicher Maßnahmen auf die Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz an (vgl. BVerwG, a. a. O., Rn. 20 f., m. w. N.).
Die Notwendigkeit von Maßnahmen bemisst sich danach, ob der anlässlich des gegen den Betroffenen gerichteten Strafverfahrens festgestellte Sachverhalt nach kriminalistischer Erfahrung angesichts aller Umstände des Einzelfalls – insbesondere angesichts der Art, Schwere und Begehungsweise der dem Betroffenen im strafrechtlichen Anlassverfahren zur Last gelegten Straftaten, seiner Persönlichkeit sowie unter Berücksichtigung des Zeitraums, während dessen er strafrechtlich nicht (mehr) in Erscheinung getreten ist – Anhaltspunkte für die Annahme bietet, dass der Betroffene künftig oder anderwärts gegenwärtig mit guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis potentieller Beteiligter an einer noch aufzuklärenden strafbaren Handlung einbezogen werden könnte und dass die erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen - den Betroffenen schließlich überführend oder entlastend - fördern könnten. Liegen dahingehende Anhaltspunkte nicht (mehr) vor, so ist die Aufbewahrung bereits erhobener Unterlagen nicht (mehr) zulässig und demgemäß auch die Aufrechterhaltung einer noch nicht vollzogenen angefochtenen Anordnung zur Aufnahme von erkennungsdienstlichen Unterlagen rechtswidrig (vgl. BVerwG, a. a. O., Rn. 22).
Hiervon ausgehend stellt sich die Aufrechterhaltung der noch nicht vollzogenen angefochtenen Anordnung als nicht mehr notwendig dar.
Zwar teilt die Kammer die Einschätzung des Beklagten, dass die Anlasstat des Klägers alles andere als ein „typischerweise vorübergehendes jugendliches Fehlverhalten“ darstellt, also ein Verhaltensmuster zeigt, das sich gleichsam von selbst auswächst. Bei einer Prognose des künftigen Verhaltens des – seinerzeit zudem selbst Cannabis konsumierenden – Klägers ist zu dessen Lasten der Umstand in Rechnung zu stellen, dass es sich bei Betäubungsmitteldelikten der von ihm verübten Art um typische „Milieutaten“ handelt. Den Eindruck, dass er in ein szenetypisches Umfeld abgeglitten war, aus dem man sich nur schwerlich zu lösen vermag, verstärkt der Umstand, dass der Kläger nur wenige Tage nach der Anlasstat mittels Gewaltandrohung Geldforderungen aus Geschäften mit Betäubungsmitteln eintrieb. Angesichts dieser und der weiteren Umstände des Einzelfalls boten sich zum Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung des Beklagten nach kriminalistischer Erfahrung genügende Anhaltspunkte für die Annahme, der Kläger werde auch weiterhin als Verdächtiger in den Kreis potentieller Beteiligter an einer noch aufzuklärenden strafbaren Handlung einbezogen werden können.
Für eine solche Prognose bestehen aber mit zunehmendem zeitlichem Abstand – zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind bereits mehr als zwei Jahre seit Erlass der Anordnung verstrichen – und aufgrund zwischenzeitlich eingetretener Entwicklungen keine genügenden Anhaltspunkte mehr, so dass sich die Anordnung nicht mehr als notwendig rechtfertigen lässt.
Dafür spricht zum einen, dass es sich bei den in den beiden Ermittlungsverfahren berücksichtigten Verstößen nur um ein zeitlich punktuelles kriminelles Verhalten des Klägers handelt, also gerade keine durch weitere Tatsachen belegbare Verfestigung seines Handelns über einen längeren Zeitraum hinweg feststellbar ist. Einen Beleg dafür, dass der Kläger in der Folgezeit erneut als Tatverdächtiger von strafrechtlichen Ermittlungen betroffen gewesen sein könnte, stellt auch nicht der vom Beklagten angeführte Umstand dar, dass der Kläger am Abend des 23. Dezember 2019 als Teil einer feiernden Gruppe auf dem P... von Zivilbeamten auf einen in der Nähe begangenen Diebstahl eines Weihnachtsbaums angesprochen worden war. Der Beklagte vermochte lediglich die Tagebuch-Nummer, unter welcher der Vorgang bei der Polizei geführt worden war, anzugeben, aber nichts dazu, dass anschließend überhaupt Ermittlungen gegen den Kläger aufgenommen worden wären. Angesichts dessen hat die Kammer keinerlei Zweifel an der Darstellung des Klägers, dass die seinerzeitige Überprüfung durch Zivilbeamte ohne jede Auswirkung für ihn geblieben ist.
Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass der Kläger sich seit Erlass der angefochtenen Anordnung in einem Lebensabschnitt befindet, der typischerweise von starken Veränderungen der Lebensumstände geprägt ist, die geeignet sind, eine deutliche Zäsur in der Persönlichkeitsentwicklung eines Jugendlichen bzw. Heranwachsenden zu bewirken. Insoweit schlägt zu Gunsten des Klägers aus, dass er zum Zeitpunkt der Anlasstat noch das Gymnasium besucht hatte, in dessen Umfeld er den Betäubungsmittelhandel im Wesentlichen betrieb, dieses aber nach Absolvierung des Abiturs im Jahr 2020 verließ. Inzwischen steht er, nachdem er zunächst bei einer Kaufhauskette gejobbt hat, kurz davor, eine Lehrstelle bei der Deutschen Bahn in S... anzutreten. Dies vermochte er der Kammer ebenso glaubhaft zu vermitteln wie den Umstand, dass sich sein Freundeskreis erheblich verändert hat.
Der sich danach aufdrängende Eindruck, dass der Kläger seinen Lebenswandel und seine Einstellung in wesentlichem Maße geändert hat, wird dadurch verstärkt, dass ferner Anhaltspunkte dafür bestehen, dass bei ihm schon im Zuge der gegen ihn geführten strafrechtlichen Ermittlungen ein Sinneswandel stattgefunden hat. Dies ergibt sich allerdings weniger aus seiner – im Protokoll über Hauptverhandlung vom 25. Juni 2020 festgehaltenen – pauschalen und womöglich lediglich verfahrenstaktischen Einlassung: „Ich bin jetzt von den Drogen weg“, als vielmehr aus der Aussage des im Ermittlungsverfahrens wegen räuberischer Erpressung als Zeuge vernommenen Geschädigten, der, danach befragt, inwieweit die Beschuldigten in jenem Verfahren die Drogengeschäfte weiterbetrieben hätten, wörtlich zu Protokoll gab: „Und Jan ist raus aus der Nummer. Der fässt das Zeug nicht mal mehr an.“
Nach alledem bestehen bei einer Gesamtschau keine genügenden Anhaltspunkte mehr dafür, dass der Kläger dem szenetypischen Umfeld der Drogenkriminalität noch dergestalt verhaftet geblieben wäre, dass er als Verdächtiger einer noch aufzuklärenden strafbaren Handlung erneut auffällig werden könnte.
II. Die Nebenentscheidungen beruhen hinsichtlich der Kosten auf 154 Abs. 1 VwGO, im Übrigen auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Ein Grund, die Berufung nach § 124a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO zuzulassen, liegt nicht vor.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt (§ 52 Abs. 1 und 2 GKG; vgl. auch Nr. 35.5 des Streitwertkatalogs 2013).