Gericht | OLG Brandenburg 1. Strafsenat | Entscheidungsdatum | 18.08.2021 | |
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Aktenzeichen | 1 Ws 82/21 | ECLI | ECLI:DE:OLGBB:2021:0818.1WS82.21.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
1. Der Haftbefehl des Landgerichts Neuruppin vom 26. Januar 2021 (Gz.: 24 KLs 7/20) wird außer Vollzug gesetzt.
2. Dem Angeklagten werden die folgenden Auflagen erteilt:
a) Er hat nach Haftentlassung unter der Anschrift G…-T…, … Str. 5 in … T… seinen Wohnsitz zu nehmen und die Wohnungsgeberbestätigung der Staatsanwaltschaft Potsdam durch Vorlage binnen drei Tagen nachzuweisen.
b) Er hat sich unverzüglich bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Meldebehörde ordnungsgemäß anzumelden und dies der Staatsanwaltschaft Potsdam durch Vorlage der Meldebescheinigung bis zum 01. September 2021 nachzuweisen.
c) Er hat jeden Wechsel des Wohnsitzes binnen 24 Stunden der Staatsanwaltschaft Potsdam anzuzeigen.
d) Er hat sich sofort nach Haftentlassung bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeidienststelle zu melden, und zwar an jedem Montag einer Woche.
e) Er hat unverzüglich bei der zuständigen Ausländerbehörde eine neue Duldung zu beantragen.
f) Er darf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht ohne Genehmigung des nach § 126 StPO zuständigen Gerichts, derzeit die 4. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam, verlassen.
g) Der Angeklagte hat allen Ladungen von Gerichten, insbesondere des Landgerichts Potsdam und des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten, der Staatsanwaltschaft und der Polizei unverzüglich Folge zu leisten.
h) Der Angeklagte wird darauf hingewiesen, dass der Vollzug des Haftbefehls wieder angeordnet wird, wenn er den ihm auferlegten Pflichten oder Beschränkungen zuwider handelt oder er Anstalten zur Flucht trifft, auf ordnungsgemäße Ladungen ohne genügende Entschuldigung ausbleibt, oder auf andere Weise zeigt, dass das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt war.
I.
1. Das Amtsgericht Brandenburg an der Havel hat zunächst am 14. Februar 2020 (AZ: 28 Gs 4/20) gegen den Angeklagten einen Haftbefehl erlassen, infolge dessen er in Untersuchungshaft in die Justizvollzugsanstalt … kam. Die Untersuchungshaft wurde vom 16. Juni 2020 bis zum 3. Juli 2020 zur Vollstreckung einer 16-tägigen Rest-Ersatzfreiheitsstrafe unterbrochen. Der Haftbefehl vom 14. Februar 2020 wurde am 3. August 2020 durch einen Unterbringungsbefehl des Landgerichts Potsdam (24 KLs 7/20) ersetzt, der dem Betroffenen am 11. August 2020 verkündet wurde und infolge dessen er am 11. August 2020 in die einstweilige Unterbringung im … Fachklinikum B… überführt wurde.
1. Mit Haftbefehl vom 14. Februar 2020 wurde dem Angeklagten vorgeworfen, am … Februar 2020 in K… versucht zu haben, ein Gebäude, das der Wohnung von Menschen dient, in Brand zu setzen.
Ihm wurde konkret zur Last gelegt, sich am Tattag um xx:xx Uhr in den Waschraum mit der Zimmernummer (1…) im Untergeschoss des bewohnten Übergangswohnheims für Asylbewerber in der …straße 25 in K… begeben zu haben, um dort Feuer zu legen. Dabei habe er billigend in Kauf genommen, dass wesentliche Gebäudeteile beschädigt würden. In dem Waschraum sollen sich acht Waschmaschinen befunden haben, wobei jeweils zwei Maschinen übereinander gestapelt aufgestellt seien. Der Beschuldigte habe mit offener Flamme die Oberseiten von zwei oben stehenden Waschmaschinen angezündet. Anschließend habe er den Raum wieder verlassen. Durch das Feuer seien vier Waschmaschinen beschädigt worden. Aufgrund der starken Rauchentwicklung sei das Haus vorübergehend evakuiert worden. Der Brand habe gelöscht werden können, bevor wesentliche Gebäudeteile von den Flammen erfasst worden seien. Das Gebäude sei weiterhin bewohnbar gewesen.
Diese Handlung sei mit Strafe bedroht nach §§ 306a Abs. 1 Nr. 1, 22, 23 StGB. Der dringende Tatverdacht ergebe sich aus den Videoaufnahmen einer Überwachungskamera, die den Beschuldigten beim Betreten und Verlassen des Waschmaschinenraums aufgenommen habe. Der Beschuldigte sei die einzige Person gewesen, die den Waschraum im Zuge der Brandsetzung betreten und verlassen habe.
Das Amtsgericht hat den Haftbefehl auf den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) gestützt.
Die gegen den Haftbefehl erhobene Haftbeschwerde hat die 5. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam als Beschwerdekammer am 31. März 2020 als unbegründet verworfen und die dagegen erhobene weitere Beschwerde hat der Senat mit Entscheidung vom 18. Mai 2020 zurückgewiesen.
2. Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat unter dem Datum des 28. Mai 2020 gegen den Angeklagten Anklage vor dem Amtsgericht – Schöffengericht – Brandenburg an der Havel erhoben und ihm ebenfalls eine versuchte schwere Brandstiftung nach §§ 306a Abs. 1 Nr. 1, 22, 23 StGB vorgeworfen. Der konkrete Tatvorwurf wird dabei im Wesentlichen identisch wie im Haftbefehl vom 14. Februar 2020 geschildert und dahin konkretisiert, dass das Feuer durch die Wachschutzmitarbeiter T… S… und A…H… habe gelöscht werden können, bevor wesentliche Gebäudeteile von den Flammen erfasst worden seien; jedoch seien Wände, Fußboden und Decke durch Rußanhaftungen beschädigt worden.
In der Anklageschrift ist weiter ausgeführt, dass der Zeuge M… K…, Bereichsleiter für Migration und Asyl bei dem Verein „Soziale … e. V.“, dem Betreiber der Unterkunft, den Angeklagten als fremd- und selbstgefährdend sowie drogenaffin einschätze. Der Angeklagte sei hochgradig impulsiv und stünde häufig unter Drogeneinfluss. Die Zeugin C… W… habe angegeben, der Beschuldigte gehöre zu einer Gruppe von drei Bewohnern, die mit der Unterbringung in K… sehr unzufrieden seien. Dabei sei auch mit der Inbrandsetzung des Heimes gedroht worden.
3. Mit Beschluss vom 22. Juni 2020 hat die Vorsitzende des Schöffengerichts am Amtsgericht Brandenburg an der Havel die Begutachtung des Angeklagten auf seine Schuldfähigkeit und auf eine etwaige Unterbringung im Maßregelvollzug angeordnet und den Arzt N… I… vom … Fachklinikum … zum Sachverständigen bestellt. Mit Verfügung vom selben Tag vermerkt die Richterin, dass Termine zur Hauptverhandlung mit dem Verteidiger vorbehaltlich des Ergebnisses der forensisch-psychiatrischen Begutachtung ab dem 28. Juli 2020 bereits abgestimmt seien.
In seinem Gutachten vom 12. Juli 2020 kommt der Sachverständige zu dem Ergebnis, dass der Angeklagte unter einer drogeninduzierten Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis mit wiederkehrenden psychotischen Phasen (ICD-10: F. 23.1) leide (S. 24, 28 Gutachten), dabei auch unter einem Alkoholmissbrauch (ICD 10-F10.1), einem multiplen Drogenmissbrauch (ICD 10-F 19.1) sowie an psychischen und Verhaltensstörungen durch Sedativa oder Hypnotika infolge einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD 10-F43.1) mit Depression und Angststörungen, die insgesamt dem ersten Eingangsmerkmal des § 20 StGB zuzuordnen seien. Im Zeitpunkt der versuchten schweren Brandstiftung am 10. Februar 2020 habe sich der Angeklagte in einer Akutphase der Erkrankung befunden. Er sei zu dieser Zeit aufgrund einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung nicht in der Lage gewesen, das Unrecht von Taten einzusehen oder entsprechend zu handeln, so dass die Voraussetzungen einer Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB gegeben seien. Die Aufnahme einer Therapie in einer geeigneten Therapieeinrichtung sei dringend erforderlich und stelle die einzige Möglichkeit dar, um künftige Exazerbationen zu vermeiden. Die medizinischen Voraussetzungen einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB seien erfüllt.
Mit Beschluss vom 13. Juli 2020 hat das Amtsgericht Brandenburg das Verfahren gemäß § 225 StPO dem Landgericht Potsdam zur Übernahme vorgelegt. Mit Verfügung vom 21. Juli 2020 hat der Vorsitzende der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Potsdam gegenüber der Staatsanwaltschaft die Rücknahme der Anklageschrift gemäß § 156 StPO angeregt. Mit Verfügung vom 27. Juli 2020 hat die Staatsanwaltschaft die Anklage von 28. Mai 2020 zurückgenommen.
4. Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat unter dem Datum des 27. Juli 2020 eine Antragsschrift im Sicherungsverfahren an das Landgericht Potsdam gerichtet. Dabei wird der Tatvorwurf hinsichtlich der im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen versuchten schweren Brandstiftung im Wesentlichen identisch wie im Haftbefehl vom 14. Februar 2020 und in der voraufgegangen Anklageschrift vom 28. Mai 2020 geschildert. Darüber hinaus wird dem Angeklagten vorgeworfen, am 30. September 2019 durch eine weitere selbständige Handlung, ebenfalls im Zustand der Schuldunfähigkeit, eine Sachbeschädigung begangen zu haben, indem er mehrfach mit einem Fahrradkettenschloss im Asylbewerberheim in der …straße 25 in K… in Beschädigungsabsicht gegen die Tür des Zimmers (2…) geschlagen habe, wodurch ein Sachschaden von 105,91 € entstanden sei.
5. Am 3. August 2020 hat die 4. große Strafkammer des Landgerichts Potsdam nach Maßgabe der Antragsschrift einen Unterbringungsbefehl erlassen, der dem Angeklagten am 11. August 2020 verkündet worden ist. Auf Grund des Unterbringungsbefehls, der die Vorwürfe aus der Antragsschrift vom 27. Juli 2020 übernommen hat, wurde der Angeklagte in das psychiatrische Krankenhaus des … Klinikums in B… überführt.
6. Die 4. große Strafkammer hat nach vorangegangener Aussetzung des Verfahrens am 13. April 2021 mit der (erneuten) Hauptverhandlung im Sicherungsverfahren begonnen. Infolge des rechtlichen Hinweises vom 18. November 2020, dass die Kammer den Angeklagten nach den sachverständigen Ausführungen für schuldfähig halte, wurde das Verfahren nunmehr als Strafverfahren durchgeführt. Zuvor hat die Kammer unter dem 26. Januar 2021 wegen der vorgenannten Tatvorwürfe einen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehl erlassen, weshalb der Angeklagte in die Justizvollzugsanstalt …, überführt wurde. Die Untersuchungshaft wurde vom 18. März 2021 bis zum 06. April 2021 zur Vollstreckung einer 20-tägigen Ersatzfreiheitsstrafe unterbrochen (Strafbefehl des Amtsgerichts Potsdam vom 16. Oktober 2019 - 83 Cs 249/19).
Mit Urteil vom 09. Juni 2021 hat die Kammer den Angeklagten nach entsprechendem rechtlichen Hinweis unter Einbeziehung der mit Strafbefehl des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel vom 10. August 2020 (Gz.: 28 Cs 4101 Js 30439/20 (64/29)) erkannten Geldstrafe wegen Brandstiftung in Tateinheit mit fahrlässiger Brandstiftung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und einem Monat verurteilt.
Zugleich hat die Kammer aus den Gründen der Verurteilung den Haftbefehl vom 26. Januar 2021 aufrecht und in Vollzug erhalten.
Der Angeklagte hat mit Verteidigerschriftsatz vom 14. Juni 2021 gegen das Urteil Revision und gegen den Haftfortdauerbeschluss Beschwerde eingelegt.
Die Kammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Unter dem Datum des 1. Juli 2021 hat die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg die Akten dem Brandenburgischen Oberlandesgericht zur Entscheidung über die Haftbeschwerde des Angeklagten übersandt, wo sie am 08. Juli 2021 eingegangen sind. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde als unbegründet zu verwerfen. Dem Angeklagten ist zum Antrag der Generalstaatsanwaltschaft über seinen Verteidiger rechtliches Gehör gewährt worden. Mit Anwaltsschriftsatz vom 16. Juli 2021 hat der Angeklagte insbesondere eingewendet, dass infolge der seit mehr als 17 Monate andauernden Inhaftierung bzw. Unterbringung eine „hohe Freiheitsstrafe“ zur Begründung der Fluchtgefahr nicht mehr vorliege. Der Senat hat daraufhin ergänzende Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt, der Staatsanwaltschaft, des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten und des Sozialamtes des Landkreises P… eingeholt. Das schriftliche Urteil der Kammer liegt dem Senat zwischenzeitlich vor.
Gegenwärtig wird gegen den Angeklagten bis zum 23. August 2021 die Ersatzfreiheitsstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Brandenburg an der Havel vom 10. August 2020 (28 Cs 64/20) vollstreckt.
II.
Der Haftbefehl des Landgerichts Potsdam vom 26. Januar 2021 ist aufrechtzuerhalten.
Bei einer Haftentscheidung eines erkennenden Gerichts aufgrund einer vorangegangenen Hauptverhandlung ist die Nachprüfung durch das Beschwerdegericht darauf beschränkt, ob die Entscheidung auf die in der Hauptverhandlung gewonnenen wesentlichen Tatsachen gestützt ist und auf einer vertretbaren Bewertung des Beweisergebnisses beruht (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 21. Januar 2019 -1 Ws 204/18-, juris; BGH, Beschluss vom 16. August 1991, Az.: StB 16/91, in: juris). Unter Beachtung dieser Grundsätze ist auch die Höhe der erkannten Freiheitsstrafe angesichts der festgestellten Tatmodalität durch das Beschwerdegericht hinzunehmen.
Ist - wie hier - bereits eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung erfolgt, hat auch das Beschwerdegericht für die Beurteilung des dringenden Tatverdachts in erster Linie das Ergebnis der Beweisaufnahme heranzuziehen. Dazu kann es auf die Würdigung im Urteil zurückgreifen, wenn ein solches bereits vorliegt, oder auf Ausführungen des erkennenden Gerichts in der Haftfortdauerentscheidung oder in der Nichtabhilfeentscheidung.
Bei seiner Prüfung hat das Beschwerdegericht zu berücksichtigen, dass die Hauptverhandlung in der Regel eine bessere Erkenntnisgrundlage vermittelt als der Akteninhalt (vgl. Senatsbeschluss vom 30. März 2016, 1 Ws 34/16; Senatsbeschluss vom 11. Januar 2016, 1 Ws 206/15; Senatsbeschluss vom 10. April 2015, 1 Ws 50/15; Senatsbeschluss vom 11. Juli 2013, 1 Ws 124/13). Nach den oben aufgeführten Grundsätzen ist die Aufrechterhaltung des Haftbefehls des Landgerichts Potsdam durch die Strafkammer unter der Maßgabe des verkündeten Urteils nicht zu beanstanden.
Bereits dieses Urteil spricht trotz der noch nicht eingetretenen Rechtskraft für eine hohe Wahrscheinlichkeit im Sinne dringenden Tatverdachts dahin, dass der Beschwerdeführer jedenfalls eine versuchte schwere Brandstiftung in Tateinheit mit einer fahrlässigen Brandstiftung (§§ 306 a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 306 d Abs. 1, 2. Halbsatz, § 52 StGB) in der festgestellten Weise begangen hat (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 13. April 2010, Az.: 2 Ws 70/10, in: BeckRS 2010, 9862).
Der Senat ist auch der Auffassung, dass gegen den Angeklagten weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 3 StPO besteht. Angesichts der grundsätzlich vorhandenen Beziehungen des Angeklagten in das Ausland kann eine Fluchtgefahr nicht ausgeschlossen werden.
Der Senat ist jedoch der Auffassung, dass in Anbetracht der inzwischen verbüßten Dauer der Untersuchungshaft und der eingetretenen Nähe zu einem möglichen 2/3-Zeitpunkt von ca. 7 Monaten (vgl. VGH Berlin, StV 2018, 381) der bestehenden Fluchtgefahr nunmehr durch weniger einschneidende Maßnahmen i.S.d. § 116 Abs. 1 StPO begegnet werden kann. Dementsprechend kann der Haftbefehl des Landgerichts Potsdam vom 26. Januar 2021 gemäß § 116 Abs. 1 StPO unter Anordnung der im Tenor genannten Maßnahmen außer Vollzug gesetzt werden.
Durch diese kann der fortbestehenden Fluchtgefahr in ausreichender Form entgegengewirkt werden.