Gericht | VG Frankfurt (Oder) 2. Kammer | Entscheidungsdatum | 14.07.2021 | |
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Aktenzeichen | 2 K 498/17.A | ECLI | ECLI:DE:VGFRANK:2021:0714.2K498.17.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 60 Abs 5 AufenthG, Art 3 MRK |
zur Frage des nationalen Abschiebungsschutzes bei Angehörigen eines Minderheitsclans (hier Madhiban) betr. Somalia
Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat. Im Übrigen wird die Beklagte unter Aufhebung der Regelungen in Ziffer 4, 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Januar 2017 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 5 AufenthG beim Kläger hinsichtlich Somalias vorliegen.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen die Beteiligten je zur Hälfte.
Der Kläger, der angibt, somalischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Minderheit der Madhiban zu sein, reiste nach seinem eigenen Vorbringen am 11. November 2016 nach Deutschland ein und stellte dort am 24. November 2016 einen förmlichen Asylantrag.
In seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) machte er zu seinem Verfolgungsschicksal im Wesentlichen die folgenden Angaben:
Er habe Somalia im September 2015 verlassen. Er sei in Afmadow geboren, wo auch seine Eltern lebten. Vor seiner Ausreise habe er zuletzt für neun Monate in der Stadt Banaadir bei seinem Onkel gelebt. In Banaadir sei er von einer Gruppe von Leuten angegriffen worden. Er sei gerade am Arbeiten gewesen, als sie ihn aufgefordert hätten, ihnen Geld zu geben. Er habe erwidert, dass er nichts habe. Er sei dann zum Haus seines Onkels gegangen, das abgebrannt worden sei. Dort sei er mit einem Gewehr an die Schläfe geschlagen worden. Dies sei im Juni 2015 gewesen. Die Angreifer, die von ihm das Geld verlangt hätten, seien diesselben gewesen, die ihn mit dem Gewehr geschlagen hätten. Es habe sich um Angehörige eines anderen Clans gehandelt. Zwei Nachbarn hätten ihn dann in ein Krankenhaus gebracht. Die Nachbarn hätten ihm auch Geld gegeben, um aus Banaadir wegzugehen. Mit diesem Geld habe er eine Reise nach Gaalkacyo finanziert. Dort sei er für eine Nacht geblieben. Dann sei er nach Hargeysa gereist. Dort habe er sich drei Monate aufgehalten, um auf das Geld, das ihm sein Bruder für die Flucht habe schicken wollen (1000 Dollar), zu warten.
Auf Nachfrage erläuterte der Kläger, dass es bereits in seiner Heimatstadt Afmadow zu Streitigkeiten mit Angehörigen des anderen Clans gekommen sei, weil er ein Kind dieses Clans in der Schule geschlagen habe. Sein Vater habe ihm dann geraten, zu seinem Onkel zu gehen.
Mit Bescheid vom 13. Januar 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers sowohl hinsichtlich des nationalen Asylanspruchs nach Art. 16a Abs. 1 GG als auch hinsichtlich des internationalen Schutzes ab, stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG fest, drohte dem Kläger die Abschiebung nach Somalia an und befristete das „gesetzliche“ Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sei wegen der fehlenden Intensität der Verfolgungshandlungen und des Vorhandenseins einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Hargeysa abzulehnen. Auch subsidiärer Schutz scheide aus, weil dem Kläger in Hargeysa polizeilicher Schutz zur Verfügung stehe und in Somaliland kein bewaffneter Konflikt herrsche. Schließlich könne der Kläger auch nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots beanspruchen, weil die derzeitigen humanitären Bedingungen nicht die erforderliche Erheblichkeitsschwelle für eine Verletzung von Art. 3 EMRK erreichten und auch keine Extremgefahr im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliege.
Der Bescheid wurde dem Kläger nach der entsprechenden Postzustellungsurkunde am 30. Januar 2017 zugestellt.
Mit seiner am 9. Februar 2017 erhobenen Klage hat der Kläger zunächst auch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise des subsidiären Schutzes geltend gemacht. In der mündlichen Verhandlung hat er die Klage insoweit zurückgenommen und begehrt er jetzt nur noch die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots. Hierzu trägt er zuletzt im Wesentlichen vor, dass er als Angehöriger der Madhiban in der Region Benaadir keinen Zugang zu existenznotwendigen Infrastrukturen habe. Eine Rückführung, in deren Folge er mit den fluchtauslösenden Umständen konfrontiert würde, würde ihn zudem mental restlos überfordern.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte insoweit unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Januar 2017 zu verpflichten festzustellen, dass bei ihm die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Somalias vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verteidigt ihren Bescheid und verweist hierzu auf dessen Begründung.
Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehört worden. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird ergänzend auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamtes verwiesen.
I. Soweit der Kläger die Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen hat, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
II. Soweit über die Klage noch zu entscheiden ist, ist sie zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Nr. 4 des angegriffenen Bescheids sowie die an das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten anknüpfenden Folgeentscheidungen in den Nummern 5 und 6 desselben Bescheids können deshalb keinen Bestand haben.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EGMR) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 –, juris, Rn. 11). Bei der Auslegung dieser Bestimmung ist maßgeblich auf die hierzu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15/12 –, juris, Rn. 22). Nach dieser Rechtsprechung kann die Abschiebung durch einen Konventionsstaat dessen Verantwortlichkeit nach der Konvention begründen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. In einem solchen Fall ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung, die Person nicht in dieses Land abzuschieben. Der EGMR stellt insoweit auf die Verhältnisse im gesamten Zielstaat der Abschiebung ab, prüft aber zunächst die Verhältnisse am konkreten Zielort der Abschiebung. Dies ist im Fall des Klägers Mogadischu, da nach den vorliegenden Erkenntnismitteln Abschiebungsflüge aus Deutschland nach Somalia stets dort enden.
Der nach der EGMR-Rechtsprechung anzulegende Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr entspricht dem vom Bundesverwaltungsgericht für das Flüchtlingsrecht entwickelten Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, juris, Rn. 32). Hierbei ist ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent und kann daher nicht ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis verlangt werden, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 – 1 B 2/19 –, juris, Rn. 6).
Gemessen an diesen Grundsätzen ist dem Kläger ein Abschiebungsverbot zuzuerkennen.
Zwar ist die Sicherheitslage in Mogadischu nicht derart prekär, dass jedermann bei einer Rückkehr dorthin tatsächlich Gefahr läuft, eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung zu erfahren (dazu 1.). Für Rückkehrer, die - wie der Kläger - nicht aus Mogadischu stammen oder dort länger gelebt haben und die zudem einem Minderheitenclan angehören, besteht hingegen grundsätzlich die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass sie dort humanitären Verhältnissen ausgesetzt wären, die nicht mit Art. 3 EMRK zu vereinbaren sind (dazu 2.). Eine Schutzalternative in anderen Landesteilen Somalias besteht für den Kläger mangels sicherer Erreichbarkeit nicht (dazu 3.).
1. Die Sicherheitslage in Mogadischu steht Abschiebungen nach dort derzeit nicht generell entgegen. Eine allgemeine Situation der Gewalt im Abschiebungszielstaat kann nach der Rechtsprechung des EGMR für sich genommen nämlich nur in Fällen ganz extremer allgemeiner Gewalt („in the most extreme cases of general violence“) eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nach sich ziehen. In Süd- bzw. Zentralsomalia kämpfen die somalischen Sicherheitskräfte mit Unterstützung der Militärmission der Afrikanischen Union AMISOM zwar immer noch gegen die Al-Shabaab-Miliz. Die Gebiete befinden sich teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle der Al-Shabaab-Miliz oder anderer Milizen. Die meisten größeren Städte einschließlich Mogadischus sind jedoch schon seit längerer Zeit in der Hand der Regierung. Al-Shabaab verübt zwar auch in den „befreiten“ Gebieten immer wieder Sprengstoffattentate auf bestimmte Objekte und Personen, bei denen auch Unbeteiligte verletzt oder getötet werden. In Mogadischu ist das Gewaltniveau allerdings insgesamt kontinuierlich gesunken, seit al-Shabaab um 2011/2012 aus der Stadt vertrieben wurde (vgl. Landinfo, Somalia: Violence in Mogadishu and developments since 2012, 30. Oktober 2020, S. 3, 7 u. 9). Während der EGMR im Juni 2011 zur allgemeinen Situation in Mogadischu noch festgestellt hatte, die Gewalt dort sei so intensiv, dass jedem in der Stadt tatsächlich die Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Misshandlung drohe (vgl. EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 – Nrn. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich –, Rn. 250), ist er dementsprechend bereits im September 2013 zum gegenteiligen Ergebnis gekommen (vgl. EGMR, Urteil vom 5. September 2013 – Nr. 886/11, K.A.B./Schweden –, Rn. 91). Die Sicherheitslage in der Stadt sei zwar ernst und fragil sowie in vielerlei Hinsicht unberechenbar, doch nicht so, dass jedermann dort tatsächlich der Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung ausgesetzt wäre. Al-Shabaab habe in der Stadt nicht mehr die Macht, es gebe dort keine Frontkämpfe und keinen Beschuss mehr und die Zahl der zivilen Opfer sei zurückgegangen. An dieser Einschätzung hat der EGMR im September 2015 festgehalten (vgl. EGMR, Urteil vom 10. September 2015 – Nr. 4601/14, R.H./Schweden –, Rn. 68). Dass sich die Lage in Mogadischu seitdem deutlich verschlechtert hat, ergibt sich aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln nicht. Vielmehr hat sich die Situation offenbar weiter verbessert (s.o.).
2. Der Kläger gehört allerdings der berufsständischen Minderheit der Madhiban an und stammt weder aus Mogadischu noch hat er dort länger gelebt (a). Ihn erwarten deshalb in Mogadischu humanitäre Verhältnisse, die nicht mit Art. 3 EMRK zu vereinbaren sind (b).
a) Die Kammer nimmt dem Kläger ab, dass er der berufsständischen Minderheit der Madhiban angehört. Zwar soll es vorkommen, dass sich auf Grund der wahrgenommenen Bevorzugung der berufsständischen Gruppen auch andere Somalis in Asylverfahren als deren Angehörige ausgeben (vgl. Staatssekretariat für Migration, Focus Somalia: Clans und Minderheiten, 31. Mai 2017, S. 16 und 25). Da andere Somalis aber im Durchschnitt gebildeter als die Angehörigen berufsständischer Gruppen und deshalb in der Lage seien, sich mehr Wissen über die berufsständischen Gruppen anzueignen als diese selbst hätten, komme es dazu, dass tatsächliche Angehörige solcher Gruppen aufgrund vergleichsweise mangelhafter Kenntnisse nicht als solche anerkannt würden (vgl. Staatssekretariat für Migration, a.a.O., S. 25). Vor diesem Hintergrund spricht es nicht gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers, dass er in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, dass er sich nicht gut mit Clans auskenne.
Die Kammer geht ferner davon aus, dass der Kläger tatsächlich aus Afmadow stammt. So konnte er die Stadt in der mündlichen Verhandlung glaubhaft beschreiben. Dass er nur wenig Besonderes über die Stadt berichten konnte, steht der Glaubhaftigkeit der Angaben des Klägers nicht entgegen, da Afmadow nur über etwa 12.000 Einwohner verfügt (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Afmadow) und die Angaben zum Viehmarkt sowie zur Hauptstraße („Autobahn“) zutreffen.
b) Vor diesem Hintergrund würde der Klage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unter besonders schlechten humanitären Verhältnissen in Mogadischu zu leben haben.
aa) Im Hinblick auf Abschiebungen in Länder mit schlechten Lebensverhältnissen haben sich in der Rechtsprechung des EGMR zwei unterschiedlich strenge Maßstäbe für die Frage entwickelt, wann solche Lebensverhältnisse einer Abschiebung wegen Art. 3 EMRK entgegenstehen. Im Ausgangspunkt betont der EGMR, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend seien, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention ziele hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen könnten daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend" seien (EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 – Nrn. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich –, Rn. 278 m.w.N.). Nur wenn die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Armut oder fehlende staatliche Mittel beim Umgang mit Naturereignissen, wie einer Dürre, zurückzuführen sind, sondern durch Handlungen oder Unterlassungen des Empfangsstaats oder nichtstaatlicher Akteure in diesem Staat verursacht werden, etwa in Form von direkten und indirekten Aktionen von Parteien eines (innerstaatlichen) bewaffneten Konflikts, hält der EGMR das im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland entwickelte Kriterium für besser geeignet, nach dem die Fähigkeit des Betroffenen berücksichtigt werden muss, seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, weiter seine Verletzlichkeit für Misshandlungen und seine Aussicht auf eine Verbesserung der Lage in angemessener Zeit (vgl. EGMR, a.a.O., Rn. 279 ff. m.w.N.; vgl. zur Abgrenzung der beiden Maßstäbe ferner ausführlich: EGMR, Urteil vom 29. Januar 2013 – Nr. 60367/10, S.H.H./Vereinigtes Königreich –, Rn. 74 ff. und 88 ff.).
bb) Diese Differenzierung ist entgegen einer verbreiteten Tendenz in der deutschen Rechtsprechung (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 –, juris, Rn. 12; anders noch: BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15/12 –, juris, Rn. 23 ff.) jedenfalls in Bezug auf die – hier im Fokus stehende - Abschiebung eines abgelehnten Asylbewerbers in seinen Herkunftsstaat nicht durch die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu der Frage entbehrlich geworden, wann die Abschiebung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union mit schlechten Lebensverhältnissen einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh darstellt. Der EuGH geht von einem solchen Verstoß aus, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, juris, Rn. 92). Hierbei handelt es sich der Sache nach um eine bloße Bestätigung des im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland vom EGMR entwickelten Kriteriums. Denn zum einen verweist der EuGH ausdrücklich (allein) auf jene Rechtsprechung des EGMR. Zum anderen betrifft die Rechtsprechung des EuGH die Abschiebungen von Asylbewerbern bzw. anerkannt Schutzberechtigten, für die nach dem jeweils einschlägigen Unionsrecht eine gesteigerte Schutzpflicht der Mitgliedstaaten besteht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 – 1 B 25/18 –, juris, Rn. 10 f.). Genau diese Umstände waren auch für die Entscheidung des EGMR im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland maßgebend. Denn er hat im Verfahren S.H.H. gegen Vereinigtes Königreich betont, dass er im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland gerade auch deshalb von einer Verletzung des Art. 3 EMRK ausgegangen sei, weil es Griechenland trotz entsprechender Verpflichtungen nach dem Unionsrecht unterlassen habe, Asylsuchenden ausreichende Unterkunftsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Ferner sei in jenem Fall für den EGMR entscheidend gewesen, dass die Verelendung, die der dortige Beschwerdeführer geltend gemacht habe, damit zusammengehangen habe, dass es sich bei ihm um einen Asylbewerber gehandelt habe und sein Asylantrag bisher nicht von griechischen Behörden geprüft worden sei (vgl. EGMR, a.a.O., Rn. 90). Folglich kann der Maßstab des EuGH nicht unbesehen auf Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern in ihren Herkunftsstaat übertragen werden, zumal wenn es sich - wie hier - bei dem Herkunftsstaat nicht um einen Konventionsstaat handelt. Vielmehr kommt es in einem solchen Fall weiterhin entscheidend auf die Ursache für die schlechten humanitären Verhältnisse an.
cc) Der EGMR ist im Juni 2011 davon ausgegangen, dass im Hinblick auf Somalia das im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland entwickelte Kriterium anzuwenden sei. Er hat seine Ansicht damit begründet, dass Trockenheit zwar zu der humanitären Krise in Somalia beigetragen habe, sie aber überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehe, die rücksichtslose Methoden der Kriegsführung in dicht besiedelten ländlichen Gebieten ohne Rücksicht auf die Sicherheit der Zivilbevölkerung angewendet hätten. Das allein habe die verbreitete Vertreibung und den Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur zur Folge gehabt. Außerdem habe die Weigerung von al-Shabaab, internationale Hilfsorganisationen in den Gebieten unter ihrer Kontrolle tätig werden zu lassen, die Lage erheblich verschlechtert (EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 – Nrn. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich –, Rn. 282). In Abgrenzung hierzu hat er im Januar 2013 hinsichtlich Afghanistans angenommen, dass das Kriterium der zwingenden humanitären Gründe anzuwenden sei. Er hat hierzu ausgeführt, dass die Situation in Afghanistan nicht mit der in Süd- und Zentralsomalia vergleichbar sei, weil Afghanistan, im Unterschied zu Somalia, weiterhin über eine funktionierende Zentralregierung und intakte Infrastrukturen verfüge. Ferner stehe Afghanistan und insbesondere Kabul, der Zielort der Abschiebung, weiterhin unter der Kontrolle der Regierung, anders als der größte Teil Süd- und Zentralsomalias, der seit 2008 unter der Kontrolle von Rebellen gestanden habe. Zudem bestehe in Afghanistan eine signifikante Präsenz von internationalen Hilfsorganisationen, wohingegen solchen Organisationen in mehreren Gebieten Somalias der Zutritt verwehrt worden sei (vgl. EGMR, Urteil vom 29. Januar 2013 – Nr. 60367/10, S.H.H./Vereinigtes Königreich –, Rn. 91).
Gemessen hieran ist die Rechtsprechung des EGMR zu Somalia vom Juni 2011 überholt und heute stattdessen im Allgemeinen zu prüfen, ob ein ganz außergewöhnlicher Fall vorliegt, in dem die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend" sind. Denn es ist derzeit nicht mehr ersichtlich, dass die schlechten humanitären Verhältnisse in Somalia noch überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückzuführen sind. Offene Kämpfe in dicht besiedelten Gebieten finden heute in Somalia in der Regel nicht mehr statt. Ein Vordringen größerer Kampfverbände der al-Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur noch in seltenen Fällen vor. Die Kriegsführung der al-Shabaab erfolgt heute vielmehr weitgehend asymmetrisch mit sog. hit-and-run-attacks, Attentaten, Sprengstoffanschlägen und Granatangriffen. Das Gros der Angriffe wird dabei mit niedriger Intensität bewertet (vgl. zum Ganzen: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Somalia, Stand: 18. Mai 2021 [im Folgenden: BFA], S. 27 m.w.N.). Die verbreitete Vertreibung ist heute überwiegend durch Dürre und Überflutungen bedingt. Nur 14 Prozent der Binnenvertriebenen sind zuletzt noch wegen Unsicherheit oder Konflikten geflohen (vgl. zum Ganzen: BFA, S. 163 m.w.N.). Auch erreichen humanitäre Organisationen die Menschen in Somalia heute in der Regel, obschon es punktuell immer wieder zu Behinderungen kommt (vgl. BFA, S. 187 m.w.N.). Des Weiteren hat Somalia auch bei der Bildung eines funktionierenden Bundesstaates Fortschritte erzielt und staatliche sowie regionale Regierungsstrukturen wurden etabliert. Es wird deshalb nicht mehr als failed state angesehen (vgl. BFA, S. 10 f. m.w.N.). Insbesondere steht Mogadischu, der Zielort der Abschiebung, heute unter Regierungsgewalt (s.o.).
dd) Im Fall des Klägers ist allerdings von einem ganz außergewöhnlichen Fall im vorgenannten Sinn auszugehen. Er läuft nämlich tatsächlich Gefahr, in einem Lager für Binnenvertriebene zu enden. Seine Lage wäre dort noch deutlich schlimmer als die des Beschwerdeführers im Verfahren M.S.S. gegen Belgien und Griechenland.
(1) Laut dem aktuellsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes heben Menschenrechtsorganisationen die prekäre Situation der Rückkehrenden in Somalia hervor. Es bestehe die Gefahr, dass die Rückkehrenden in Lagern für Binnenvertriebene enden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia [im Folgenden: AA], 18. April 2021, S. 22). Dies gilt erst Recht für Rückkehrer, die - wie der Kläger - nicht über ein Netzwerk am Ort der Rückkehr verfügen, da eine erfolgreiche Rückkehr in erheblichem Maß von der Clanzugehörigkeit und den lokalen Beziehungen der rückkehrenden Person abhängt (vgl. BFA, S. 192 m.w.N.).
Binnenvertriebene zählen neben Angehörigen der Minderheiten und zurückkehrenden Flüchtlingen - der Kläger würde im Falle seiner Abschiebung nach Mogadischu in alle drei dieser Kategorien fallen - zu den am stärksten verwundbaren Gruppen in Somalia (vgl. EGMR, Urteil vom 23. Mai 2007 – Nr. 1948/04, Salah Sheekh/Niederlande –, Rn. 140). Sie sind andauernden schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, ihre besondere Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit werden von allerlei nichtstaatlichen, aber auch staatlichen Stellen ausgenutzt und missbraucht. Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmittelhilfen, Bewegungseinschränkungen und Diskriminierung aufgrund von Clan-Zugehörigkeiten sind an der Tagesordnung (vgl. AA, S. 21). Dies trifft in erster Linie Bewohner von Binnenvertriebenenlagern und in Mogadischu, vor allem jene Binnenvertriebene, die - wie der Kläger - nicht über Clanbeziehungen in der Stadt verfügen (vgl. BFA, S 164 m.w.N.).
Bei den Lagern für Binnenvertriebene handelt es sich in der Regel um informelle Siedlungen auf privaten Grundstücken in städtischen oder stadtnahen Gebieten (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Somalia: Mogadischu: Sozioökonomische Lage [insbesondere für RückkehrerInnen], 31. Januar 2020, S. 31). Von diesen informellen Siedlungen gibt es mehr als 500 in Mogadischu (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note Somalia [South and Central]: Security and humanitarian situation, November 2020, S. 33). Sie werden von sog. Gatekeepern verwaltet (vgl. UK Home Office, a.a.O., ebd). Diese verhandeln mit lokalen Grundbesitzern oder traditionellen Autoritäten den Zugang zu Grundstücken und im Anschluss den Zugang zu Unterkünften, insbesondere für Binnenvertriebene aber auch für arme städtische BewohnerInnen, Flüchtlinge und Rückkehrer (ACCORD, a.a.O., S. 21).
Die in diesen Lagern herrschenden humanitären Verhältnisse gelten als besonders schlimm. Insbesondere in neueren Lagern fehlt es häufig an simplen Notwendigkeiten, wie etwa Toiletten. Landesweit fehlen in 80 Prozent der Lager Wasserstellen – v.a. in Banaadir, dem SWS und Jubaland. Die Rate an Unterernährung ist hoch, der Zugang zu grundlegenden Diensten eingeschränkt. Es mangelt den Bewohnern zumeist an einem Zugang zu genügend Lebensmitteln und akzeptablen Unterkünften (vgl. BFA, S. 165 m.w.N.). Anschaulich werden die Lebensbedingungen in den Lagern für Binnenvertriebene von Jutta Bakonyi, Professorin für Entwicklung und Konflikt in der School of Government and International Affairs an der Universität Durham, in ihrem Vortrag zur Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrern im Rahmen eines von ACCORD veranstalteten COI-Webinars am Beispiel eines Lagers in Puntland wie folgt näher beschrieben (ACCORD, Somalia: Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und RückkehrerInnen; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure, 31. Mai 2021, S. 22):
Die Unterkünfte sind absolut unzureichend, sie sind nicht vor Regen geschützt. [...] Es werden Plastikfolien über die Hütten gespannt, die auch oft nicht ausreichend sind. Viele Menschen haben auch keine Plastikplanen. [Bei den Toiletten handelt es sich um] Plumpsklos. Wenn die voll sind, ist oft kein Platz vorhanden, um ein neues zu errichten. Geleert werden die Klos in der Regel nicht. In vielen Camps, die wir besucht haben, gab es auch gar keine Toiletten. Das ist oft der Fall, wenn keine humanitäre Hilfe kommt. Das führt zu offener Defäkation, die natürlich nicht gerade hygienisch ist. Die Gesundheitsversorgung [...] ist miserabel. [...] Häusliche Gewalt ist sehr häufig. Viele Leute reden davon, wie Stresssituationen zu häuslicher Gewalt führen. Es ist ein Alltagsphänomen, dass man geschlagen wird. Kinder werden geschlagen, Frauen werden geschlagen, Männer werden geschlagen. Das wird kaum wirklich zur Kenntnis genommen. Gleichzeitig wird aber auch viel von Gewalt von außerhalb berichtet, also Diebstahl, Raubüberfälle etc. Die Leute sagen, wir können uns nicht schützen. Die Zeltwände halten niemanden ab, es können Diebe oder Vergewaltiger reinkommen. Und das passiert dann wohl auch relativ häufig. Die Wasserversorgung ist absolut unzureichend und Wasser ist ganz sicher nicht sauber. Deswegen gibt es auch sehr hohe Durchfallraten und hohe Kindersterblichkeit. Der größte Stressfaktor der Menschen war, als wir mit ihnen geredet haben, Zwangsräumungen. [...] Keine Sicherheit zu haben, wo man morgen ist, ist für die Menschen sehr schwer. Sie bauen Beziehungsnetzwerke auf, beginnen zu arbeiten. Das so Erarbeitete kann man durch eine Zwangsräumung sehr schnell wieder verlieren.“
Dass die Situation in den Lagern in Mogadischu deutlich besser wäre, ist für die Kammer nicht ersichtlich. Im Gegenteil deutet der neueste Bericht des Finnish Immigration Service zu seiner Fact-Finding-Mission in Mogadischu auf vergleichbare Verhältnisse dort hin (vgl. FIS, S. 34 ff.).
Zu dieser Situation tragen die Gatekeeper wesentlich bei (vgl. UK Home Office, a.a.O, ebd.). So vereinnahmen sie für ihre „Dienste“ 30 bis 50 Prozent der von humanitären Hilfsorganisationen für die Bewohner erbrachten Unterstützungsleistungen (vgl. ACCORD, a.a.O., ebd.). Wenn sich Bewohner weigern, ihre „Gebühr“ zu begleichen, kann es sogar passieren, dass der Gatekeeper die gesamte Hilfsleistung einbehält (vgl. Finnish Immigration Service, Somalia: Fact-Finding-Mission to Mogadishu in March 2020, 7. August 2020 [im Folgenden: FIS], S. 37).
(2) Der Kläger hätte keine realistische Aussicht, sich außerhalb der Lager für Binnenvertriebene niederlassen zu können.
Nach dem im September 2019 veröffentlichten Bericht des International Institute for Environment and Development (IIED) über die Bereitstellung von Unterkünften in Mogadischu (auf Deutsch zitiert nach ACCORD, Anfragebeantwortung zu Somalia: Mogadischu: Sozioökonomische Lage [insbesondere für RückkehrerInnen], 31. Januar 2020, S. 22) würden formale Mietvereinbarungen erfordern, dass der Mieter über einen Bürgen verfüge, der die Akzeptanz des Mieters seitens der lokalen Gemeinschaft erleichtere. Dies hänge hauptsächlich mit Sicherheitsbedenken zusammen, da sich die Menschen weiterhin sicherer fühlen würden, wenn sie an Orten leben würden, die von Personen dominiert würden, die ihrem eigenen Clan, Subclan oder ihrer eigenen ethnischen Gruppe angehören würden. Mieter müssten zudem einen Ausweis vorweisen sowie eine Gebühr von 10 US-Dollar an die Regionale Verwaltung Banaadirs (Banaadir Regional Administration, BRA) und eine Vorauszahlung in Höhe der dreifachen Monatsmiete leisten. Dies schaffe Hindernisse hinsichtlich formeller Anmietung für jene, die keinen Zugang zu einem Bürgen hätten (Minderheitengruppen und jene, die aus anderen Landesteilen stammen würden), sowie für Arme. Der Kläger würde im Falle seiner Abschiebung nach Mogadischu in beide Kategorien fallen und könnte deshalb nicht auf einen Bürgen, der vor Ort bekannt sein muss (vgl. FIS, S. 32), zurückgreifen.
Hinzu kommt, dass für den Kläger als Angehörigen eines Minderheitenclans kaum Beschäftigungschancen in Mogadischu bestehen. Nach den Erkenntnismitteln leiden nämlich insbesondere Angehörige von Minderheiten an Arbeitslosigkeit und unter Diskriminierungen am Arbeitsmarkt (vgl. BFA, S. 119 und 124). Denn der Clan spielt auch im Arbeitsleben eine herausragende Rolle. Die Rekrutierung für offene Stellen geschieht größtenteils auf der Basis von Clanbeziehungen. Personen, die eine Arbeitskraft anstellen, haben die moralische Verpflichtung, hauptsächlich aus dem eigenen Clan heraus zu rekrutieren. Auch für die Gründung einer Firma braucht es eines Clannetzwerkes (vgl. BFA, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Somalia, Höhe von Einkommen, Rolle des Clans am Arbeitsmarkt, 2. November 2020, S. 3 f.). Zwar stehen im Bausektor Jobs zur Verfügung, die meist von Angehörigen marginalisierter Gruppen übernommen werden und mit denen sich etwa 100 Dollar im Monat verdienen lassen (vgl. BFA, a.a.O., S. 6). Unabhängig von der Frage, ob ein solcher Verdienst angesichts der gestiegenen Immobilienpreise in Mogadischu (vgl. dazu allgemein BFA, S. 193 m.w.N.), die dazu geführt haben, dass auch viele arme Stadtbewohner, die keine Binnenvertrieben i.e.S. sind, in die Binnenvertriebenenlager gedrängt werden (vgl. Bryld u.a., Shelter provision in Mogadishu: Understanding politics for a more inclusive city, September 2019, S. 13), überhaupt genügen würde, um sich eine Existenz außerhalb der Lager für Binnenvertriebene aufbauen zu können, ist nicht ersichtlich, dass solche Jobs in ausreichender Zahl vorhanden sind. Dagegen spricht vielmehr entschieden, dass sich in Mogadischu allein 700.000 Angehörige der Minderheit der Bantu aufhalten (vgl. FIS, S. 42), die zwangsläufig untereinander und mit Angehörigen anderer Minderheiten um die Jobs im Bausektor konkurrieren werden. Den meisten Angehörigen von Minderheitengruppen wird demnach allenfalls die Arbeit als Tagelöhner möglich sein. Sie dürften damit zu den 77 Prozent der Bevölkerung zählen, die mit weniger als 1,9 Dollar pro Tag auskommen müssen (vgl. BFA, S. 179 m.w.N.). Selbst wenn es nicht völlig ausgeschlossen erscheint, sich damit ein Leben außerhalb der Lager für Binnenvertriebene finanzieren zu können, so spricht doch zur Überzeugung der Kammer Überwiegendes und somit eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für das Gegenteil.
(3) Andere Formen von Clan-, Familien- oder sozialer Unterstützung in Mogadischu, die ihm ein Leben außerhalb der Lager ermöglichen könnten, sind im Fall des Klägers nicht ersichtlich. Zwar hat er berichtet, dass er für neun Monate in Mogadischu bei seinem Onkel gelebt habe. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt des Vortrags des Klägers, dass der Onkel von Angehörigen eines anderen Clans getötet worden sei, ist jedenfalls nichts dafür ersichtlich, dass der Onkel heute noch in Mogadischu lebt. Zudem bezweifelt die Kammer, dass der Onkel allein den Kläger jetzt noch ausreichend (mit-)versorgen könnte. Denn anders als 2015 hat die somalische Wirtschaft derzeit mit dem dreifachen Schock aus Covid-19, einer Heuschreckenplage und Überschwemmungen zu kämpfen (vgl. BFA, S. 168). Ein Aufenthalt von neun Monaten, der zudem mehr als sechs Jahre zuückliegt, reicht gerade für einen Angehörigen einer berufsständischen Minderheit zudem zur Überzeugung der Kammer nicht aus, um sich in Mogadischu (anderweitig) ein tragfähiges soziales Netzwerk aufgebaut zu haben, das noch heute tragfähig ist.
Schließlich können auch Rückkehrhilfeprogramme den Kläger nicht davor bewahren, dass er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in einem Lager für Binnenvertriebene in Mogadischu enden würde. Die ERRIN-Reintegrationshilfen für Somalia sind wegen fehlender Vertragspartner ab dem 1. August 2021 eingestellt (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/erin/). Das REINTEG-Programm bietet zwar unter anderem Unterstützung bei Unterkunft und anderen grundlegenden Bedürfnissen (vgl. BFA, S. 193). Der Zugang zu einer Unterkunft wird von Rückkehrern im REINTEG-Programm gleichwohl als problematisch beschrieben (vgl. BFA, ebd.). Zudem ist nicht ersichtlich, dass dem Kläger dauerhaft eine Unterkunft außerhalb der Lager für Binnenvertriebene zur Verfügung gestellt werden könnte, zumal es keine eigenen Lager für Rückkehrer in Mogadischu gibt (vgl. BFA, S. 193 m.w.N.).
3. Der Kläger kann der tatsächlichen Gefahr eines mit Art. 3 EMRK nicht zu vereinbarenden Lebens in einem Lager für Binnenvertriebene in Mogadischu schließlich auch nicht dadurch entgehen, dass er sich in einem anderen Landesteil Somalias niederlässt. Angesichts der großen Bedeutung eines funktionierenden sozialen Netzwerks für das wirtschaftliche Überleben in Somalia käme als Fluchtalternative für den Kläger allenfalls sein Heimatort Afmadow in Betracht. Andernorts müsste er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ebenfalls in einem Lager für Binnenvertriebene Zuflucht suchen (ähnlich EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 – Nrn. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich –, Rn. 267).
Zwar hatte sich der Kläger nach seinen eigenen Angaben auch für etwa drei Monate in Hargeysa aufgehalten. Dort sei er nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung aber von dem Autofahrer, der ihn nach Hargeysa gebracht habe (mutmaßlich ein Schlepper), mit einer Unterkunft versorgt worden, wobei der Bruder offenbar für ihn gebürgt hat. Dass der Bruder willens und vor allem fähig wäre, den Kläger erneut und vor allem dauerhaft in Hargeysa zu versorgen, vermag die Kammer allerdings nicht anzunehmen.
Afmadow ist von Mogadischu aus nicht sicher für den Kläger erreichbar (vgl. zu dieser Voraussetzung einer innerstaatlichen Schutzalternative im Kontext von Art. 3 EMRK: EGMR, a.a.O., Rn. 266). Er müsste hierzu nämlich durch von al-Shabaab kontrolliertes Gebiet reisen. Zwar ist nicht ersichtlich, dass er dort einer tatsächlichen Gefahr einer Misshandlung allein auf Grund einer generellen Gewaltsituation im Rahmen des Bürgerkriegs ausgesetzt wäre. Allerdings hat der EGMR im Verfahren Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich ausgeführt, dass die generelle Gewaltsituation [in Süd- und Zentralsomalia] nicht die einzige Gefahr für einen Rückkehrenden darstelle. Eine reale Gefahr einer Misshandlung könne sich vielmehr auch aus der menschenrechtlichen Lage ergeben. In den von ihr kontrollierten Gebieten verfolge Al-Shabaab nämlich eine besonders drakonische Version der Scharia. Die strenge Auslegung der Sharia finde auch auf Personen Anwendung, die lediglich auf der Durchreise seien. Die Gefahr, in das Blickfeld von Al-Shabaab zu rücken, sei umso größer für Somalier, die lange genug im Ausland gelebt haben, um verwestlicht zu sein. Sanktionen könnten Steinigung, Amputation, Auspeitschen oder körperliche Züchtigung sein. Das Ausmaß hänge von der Schwere der Tat ab, doch es gebe Hinweise auf Schläge und Auspeitschung bereits bei relativ leichten Vergehen (vgl. EGMR, a.a.O., Rn. 273 ff.). Der EGMR kam deshalb zu dem Ergebnis, dass ein Rückkehrender, der keine aktuellen Erfahrungen mit einem Leben in Somalia habe, in einem von Al-Shabaab kontrollierten Gebiet – ob er nun dort seine Heimat habe oder das Gebiet durchqueren müsse, um seine Heimat zu erreichen – der tatsächlichen Gefahr einer von Art. 3 EMRK verbotenen Behandlung ausgesetzt wäre (vgl. EGMR, a.a.O., Rn. 277).
Diese Einschätzung des EGMR teilt die Kammer im Lichte der aktuellen Erkenntnismittel, die auf eine insoweit unveränderte Situation hindeuten. So besteht außerhalb der tatsächlich von der Regierung und ihren Alliierten kontrollierten Gebieten eine große Wahrscheinlichkeit, auf eine Straßensperre von Al-Shabaab zu stoßen. Zwar müssen in erster Linie jene Reisenden Angst vor Al-Shabaab haben, die tatsächlich Verbindungen zur Regierung haben oder aber diesbezüglich verdächtigt werden, was beides auf den Kläger nicht zutrifft. Auch Reisende, die - wie der Kläger - im Gebiet der Reisebewegung weder über Familien- noch Clanverbindungen verfügen, können aber von Al-Shabaab unter Umständen als Spione verdächtigt werden, außer sie haben Bürgen (wofür im Fall des Klägers wiederum nichts ersichtlich ist). Zudem verhält sich Al-Shabaab an Straßensperren unberechenbar. Menschen können nicht voraussehen, wie sie dort behandelt werden (vgl. zum Ganzen: BFA, S. 158 m.w.N.). Generell begeht Al-Shabaab in den Gebieten unter ihrer Kontrolle systematisch Menschenrechtsverletzungen. Al-Shabaab verhängt Bestrafungen wie Amputationen und Exekutionen. Außerdem richtet al-Shabaab regelmäßig und ohne ordentliches Verfahren Menschen hin, denen Kooperation mit Regierung, internationalen Organisation oder westlichen Hilfsorganisation vorgeworfen wird. Mitunter kommt es bei Al-Shabaab auch zu Zwangsarbeit (vgl. zum Ganzen: BFA, S. 100 m.w.N.).
Als sicherste Art des Reisens in Süd-/Zentralsomalia gilt deshalb das Fliegen. Von Mogadischu aus können jedoch nur Baidoa, Kismayo, Garoowe, Galkacyo, Bossaso, Hargeysa, Dhobley und Doolow mit Linienflügen erreicht werden (vgl. BFA, S. 159 m.w.N.), nicht aber Afmadow. Auch vom nächstgelegenen Flughafen in Kismayo aus müsste der Kläger noch über 100 Kilometer durch ein Gebiet zurücklegen, in dem mit Kontakt zu Al-Shabaab zu rechnen ist.
Auf den ohnehin nicht glaubhaften Vortrag des Klägers zu seiner vorgeblichen psychischen Erkrankung, die nicht ansatzweise in einer den Vorgaben des § 60a Abs. 2c Satz 2 bis 4 AufenthG entsprechenden Weise nachgewiesen ist, kommt es nach alledem nicht mehr an.
III. Die gerichtliche Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 und Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.