Gericht | VG Frankfurt (Oder) 1. Kammer | Entscheidungsdatum | 13.09.2021 | |
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Aktenzeichen | 1 L 298/21 | ECLI | ECLI:DE:VGFRANK:2021:0913.1L298.21.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Sohn der Antragsteller, E..., zum Schuljahr 2021/22 vorläufig in die Jahrgangsstufe 7 des E...-Gymnasiums N...aufzunehmen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.
2. Der Streitwert wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
1. Der als einstweilige Anordnung in Form der Regelungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag ist begründet.
Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind ferner zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, um – vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen – wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder wenn eine Regelung aus anderen Gründen nötig erscheint (Satz 2). Der Erlass einer solchen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund dargelegt und glaubhaft gemacht werden (§ 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 1 und 2, § 294 der Zivilprozessordnung). Wird – wie hier – mit der begehrten Regelung eine (zumindest teilweise) Vorwegnahme der Hauptsache begehrt, kann eine einstweilige Anordnung nur ergehen, wenn sie zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist und ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg im Hauptsacheverfahren spricht.
Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
a. Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Nach der hier nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Rechts- und Sachlage besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Antragsteller einen Anspruch gegen den Antragsgegner auf die begehrte Aufnahme ihres Sohnes an der Schule des Antragsgegners haben.
aa. Gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Schulen im Land Brandenburg (Brandenburgisches Schulgesetz – BbgSchulG) sind für die Aufnahme in eine weiterführende allgemein bildende Schule neben dem Wunsch der Eltern die Fähigkeiten, Leistungen und Neigungen (Eignung) der Schülerin oder des Schülers maßgebend. Der Besuch eines Bildungsgangs setzt gemäß § 53 Abs. 3 Satz 1 BbgSchulG die dafür erforderliche Eignung voraus. Der Sohn der Antragsteller verfügt unbestritten über die für den Bildungsgang zum Erwerb der allgemeinen Hochschulreife erforderliche Eignung.
bb. Die Aufnahme in eine Schule kann aber gemäß § 50 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BbgSchulG abgelehnt werden, wenn ihre Aufnahmekapazität erschöpft ist. Übersteigt die Zahl der Anmeldungen für eine Schule die Aufnahmekapazität, wird gemäß § 53 Abs. 3 Satz 2 BbgSchulG ein Auswahlverfahren durchgeführt. Die Auswahl erfolgt gemäß § 53 Abs. 3 Satz 3 BbgSchulG an Gymnasien nach besonderen Härtefällen gemäß § 53 Abs. 4 BbgSchulG (Nr. 1), dem Vorrang der Eignung gemäß § 53 Abs. 5 BbgSchulG (Nr. 2) und dem Vorliegen besonderer Gründe (Nr. 3). Die nähere Ausgestaltung des Aufnahmeverfahrens ist auf Grundlage der Ermächtigung in § 56 Satz 1 BbgSchulG durch die Verordnung über die Bildungsgänge in der Sekundarstufe I (Sekundarstufe I-Verordnung – Sek I-V –) erfolgt.
Durch Bescheid des Antragsgegners vom 16. April 2021 wurde die Aufnahme des Sohnes der Antragsteller im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, dass die Zahl der Anmeldungen (2...) die Aufnahmekapazität (1...) übersteige. Weil keine Umstände ersichtlich seien, die für ihn den Besuch einer anderen Schule als unzumutbar erscheinen lassen, ein besonderer Härtefall also nicht vorliege, seien im Rahmen des Auswahlverfahrens andere gleich geeignete Schülerinnen und Schüler entsprechend der Leistungsbeurteilungen des Halbjahreszeugnisses vorrangig zu berücksichtigen gewesen.
cc. Die angefochtene Auswahlentscheidung des Antragsgegners erweist sich als höchstwahrscheinlich rechtswidrig. Der Sohn der Antragsteller war nach summarischer Prüfung gemäß § 53 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1, Abs. 4 BbgSchulG vorrangig aufzunehmen.
Als besonderer Härtefall sind gemäß § 53 Abs. 4 Satz 1 BbgSchulG im Umfang von bis zu 10 vom Hundert der Gesamtplätze Schülerinnen und Schüler vorrangig zu berücksichtigen, wenn Umstände vorliegen, die den Besuch einer anderen als der gewünschten Schule unzumutbar erscheinen lassen. Dieses trifft gemäß § 53 Abs. 4 Satz 2 BbgSchulG insbesondere zu, wenn aufgrund einer Behinderung lediglich eine bestimmte Schule erreichbar ist oder notwendige bauliche Ausstattungen oder räumliche Voraussetzungen nur an der gewählten Schule vorhanden sind (Nr. 1), durch besondere familiäre oder soziale Situationen Belastungen entstehen, die das üblicherweise Vorkommende bei weitem überschreiten (Nr. 2) oder aufgrund der Verkehrsverhältnisse eine ansonsten in Betracht kommende Schule nur unter unzumutbaren Schwierigkeiten erreicht werden kann (Nr. 3). Letzteres ist hier der Fall.
(1) Das ausweislich des Schreibens des Staatlichen Schulamts vom 18. Mai 2021 im Hinblick auf freie Kapazitäten einzig in Betracht kommende und sodann mit Bescheid vom 1. Juni 2021 zugewiesene Gymnasium i... ist für den Sohn den Antragsteller mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur unter unzumutbaren Schwierigkeiten im Sinne von § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 BbgSchulG erreichbar.
Das Brandenburgische Schulgesetz enthält keine näheren Angaben zur Frage, wann eine Schule nur unter unzumutbaren Schwierigkeiten erreicht werden kann. Die –zum Schulrecht und Schülerbeförderungsrecht einheitlich ergangene – oberverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung nimmt allgemein an, dass eine Schulwegzeit von bis zu 60 Minuten für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I grundsätzlich zumutbar ist. Dabei umfasst der Schulweg auch die Fußwege von der Wohnung zur nächstgelegenen Haltestelle des öffentlichen Nahverkehrs und von der der Schule nächstgelegenen Haltestelle zur Schule. Eine absolute Obergrenze von 60 Minuten besteht jedoch nicht. Ausnahmsweise kann eine längere Schulwegzeit zumutbar sein, wenn besondere Umstände dies rechtfertigen. Dies ist zum Beispiel der Fall bei einer atypischen Wohnsituation, die einen längeren Fußweg zur nächsten Haltestelle erfordert, oder – im Bereich des Schülerbeförderungsrechts – wenn eine (nicht nächstgelegene) Schule mit einem besonderen überregionalen Angebot besucht wird. Jedoch ist auch in diesen Fällen eine Schulwegzeit von 90 Minuten unter pädagogischen Gesichtspunkten als äußerste Grenze für die einfache Strecke anzusehen (vgl. zu alledem, jeweils m. w. N.: OVG Lüneburg, Beschluss vom 27. März 2019 – 2 ME 729/18 –, juris Rn. 15 unter Bezugnahme auf BVerwG, Beschluss vom 15. Januar 2009 – 6 B 78/08 –; Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 16. September 2015 – 7 B 1594/15 –, juris Rn. 38; Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 12. November 2010 – 2 B 248/10 –, juris Rn. 9).
Vor dem Hintergrund dieses Maßstabs nicht missverstanden werden darf die in der Rechtsprechung der Brandenburgischen Verwaltungsgerichte gelegentlich verwendete Formulierung, dass ein Schulweg erst unzumutbar ist, wenn er „deutlich mehr als eine Stunde“ dauert. Dieses Abgrenzungskriterium wäre mangels Bestimmbarkeit untauglich und findet sich, soweit ersichtlich, zudem nur in Entscheidungen, denen eine Schulwegzeit von entweder weniger oder eben deutlich mehr als 60 Minuten zugrunde lag (zum Beispiel den nicht veröffentlichten Beschluss der Kammer vom 20. August 2021 – VG 1 L 285/21 [49 Minuten] sowie die über juris abrufbaren Beschlüsse des VG Potsdam vom 30. August 2017 – 12 L 878/17 – [80 bzw. 97 Minuten], vom 29. August 2017 – 12 L 696/17 – [zwischen 45 und 49 Minuten] und vom 1. August 2013 – 12 L 355/13 – [mindestens 73 Minuten]).
Vorliegend überschreiten bereits die vom Antragsteller zum Erreichen des zugewiesenen Gymnasiums ermittelten Wegzeiten von 65 Minuten für den Hinweg bzw. 71 Minuten für den Rückweg die regelmäßige Obergrenze der Zumutbarkeit. Weil auch keine besonderen Umstände ersichtlich sind, die ausnahmsweise die Zumutbarkeit eines längeren Schulwegs rechtfertigen könnten, bedarf es keines Eingehens mehr auf das Vorbringen der Antragsteller zum vermeintlich länger dauernden Schulweg (90 bzw. 118 Minuten laut Schriftsatz vom 1. September 2021). Insbesondere kann die Wohnsituation des Sohnes der Antragsteller nicht als atypisch bezeichnet werden. Er wohnt im direkten Umland Berlins und in seinem Wohnort befindet sich in 350 Metern Entfernung eine Bushaltestelle, die der Schulwegberechnung des Antragsgegners als nächstgelegene Haltestelle zugrunde liegt.
(2) Der Geltendmachung des Härtefalls im Sinne von § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 BbgSchulG steht nicht entgegen, dass die Antragsteller in dem Anmeldeformular zum Besuch einer weiterführenden allgemein bildenden Schule in der Sekundarstufe I bei der Frage nach dem Vorliegen eines besonderen Härtefalls (Ziffer 8a des Anmeldeformulars) nicht an der dafür vorhergesehenen Stelle das Kästchen „Ja“ angekreuzt haben, sondern nur bei dem Härtefall gemäß § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 BbgSchulG (Belastungen durch besondere familiäre oder soziale Situationen).
Die Eltern sind gemäß § 5 der hier einschlägigen Verordnung über die Bildungsgänge in der Sekundarstufe I gehalten, der Schulleiterin oder dem Schulleiter zur Überprüfung eines Rechtsanspruchs auf Aufnahme in eine weiterführende allgemeinbildende Schule die erforderlichen Angaben zu machen (Satz 1). Ebenso haben sie alle Tatsachen darzulegen, die eine Aufnahme wegen besonderer Härtefälle und besonderer Gründe begründen können (Satz 2).
Die Frage, ob ein Bewerber an der gewünschten Schule aufgenommen wird, beurteilt sich nach der ständigen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Aufnahmeentscheidung, die als verbindlicher Abschluss des bei einer Übernachfrage durchzuführenden Aufnahmeverfahrens ergeht. Nachträglich erstmals geltend gemachte tatsächliche Umstände sind im verwaltungsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich nicht mehr zu berücksichtigen. Inhaltlich muss sich aus der Schulanmeldung eindeutig ergeben, dass ein besonderer Härtefall geltend gemacht wird. Ein bloßer Hinweis oder Wunsch erfüllt diese Voraussetzungen nicht, wenn weder aus den Angaben selbst noch mangels beigefügter Unterlagen erkennbar ist, dass der Besuch einer anderen als der gewünschten Schule nicht zumutbar sein soll (vgl. ausführlich und jeweils m. w. N. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 8. Oktober 2020 – OVG 3 S 92/20 –, juris Rn. 9, und vom 22. August 2019 – OVG 3 S 52.19 –, juris Rn. 2 f.).
Diese inhaltlichen Anforderungen sind vorliegend erfüllt.
Aus den Angaben im Anmeldeformular ergibt sich unzweifelhaft die Geltendmachung eines Härtefalls. Dies wird bereits daraus ersichtlich, dass die Antragsteller die Schule des Antragsgegners nicht nur als Erstwunsch angeben, sondern auch als Zweitwunsch, versehen mit einem Verweis auf Ziff. 8a) des Formulars (Vorliegen eines besonderen Härtefalls) und die hierzu eingereichte Anlage. Ausweislich der als Anlage beigefügten Begründung geht die in erster Linie geltend gemachte unzumutbare familiäre Belastung vor allem auf die weite Entfernung des – dort noch in den Blick genommenen – Gymnasiums i... vom Wohnort zurück, die in etwa der Entfernung des Gymnasiums i... einschließlich der Wegzeiten mit dem öffentlichen Nahverkehr entspricht.
Die hier für die Geltendmachung eines Härtefalls im Sinne von § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 BbgSchulG mitzuteilenden tatsächlichen Umstände erschöpfen sich im Wesentlichen in der Angabe des Wohnsitzes des Sohnes der Antragsteller. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Anmeldeformular. Ausgehend hiervon unterfällt es der behördlichen Prüfung im Aufnahmeverfahren, welche Schule anstatt der Wunschschule – vor allem aus Kapazitätsgründen – überhaupt in Betracht kommt und, ob diese aufgrund der Verkehrsverhältnisse nur unter unzumutbaren Schwierigkeiten erreicht werden kann.
Sofern – wie hier – die den Härtefall begründenden tatsächlichen Umstände aus der Anmeldung erkennbar werden, bedarf es darüber hinaus keiner zutreffenden Bezeichnung der rechtlich einschlägigen Tatbestandsvariante des § 53 Abs. 4 Satz 2 BbgSchulG. Denn diese Norm enthält nur einen nicht abschließenden Katalog von Regelbeispielen für Umstände, die den Besuch einer anderen als der gewünschten Schule nach § 53 Abs. 4 Satz 1 BbgSchulG unzumutbar erscheinen lassen. Diese gesetzliche Systematik greift auch das Anmeldeformular mit der Formulierung auf, „Ich/Wir machen einen besonderen Härtefall geltend, insbesondere…“.
Im Übrigen sind hier ausnahmsweise auch die substantiierten Ausführungen der Antragsteller im Widerspruch vom 4. Juni 2021 (dort unter Ziff. 4. und 8.) zum Vorliegen eines Härtefalls gemäß § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 BbgSchulG zu berücksichtigen, weil es sich hierbei nicht um höchstpersönliche Gründe handelt und dem Antragsgegner bekannt sein musste, dass nur das Gymnasium i... für den Sohn der Antragsteller in zumutbaren Weise erreichbar ist (vgl. zu dieser Ausnahme: VG Potsdam, Beschluss vom 5. Juli 2019 – 12 L 455/19 –, juris Rn. 21).
(3) Nach dem Vorstehenden kommt es hier nicht entscheidungserheblich darauf an, ob (auch) die Voraussetzungen eines bereits im Anmeldeformular geltend gemachten Härtefalls gemäß § 53 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 BbgSchulG (Belastungen durch besondere familiäre oder soziale Situationen) erfüllt sind.
b. Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Das Abwarten einer Entscheidung im noch anhängig zu machenden Hauptsacheverfahren kann den Antragstellern unter Beachtung des Gebotes effektiven Rechtsschutzes nicht zugemutet werden. Es ist ernsthaft zu befürchten, dass der mit dem Verfahren verfolgte Rechtsanspruch auf Schulaufnahme nicht rechtzeitig verwirklicht werden kann.
c. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs.1 VwGO.
2. Die Streitwertfestsetzung entspricht der Bedeutung der Sache für die Antragsteller (§ 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 des Gerichtskostengesetzes). Das Gericht hat sich insofern an den Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 angelehnt (vgl. www.bverwg.de/informationen/streitwertkatalog.php; dort Nr. 38.4). Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren ist der Wert auf die Hälfte ermäßigt worden (vgl. Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013, dort Nr. 1.5).