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Entscheidung VG 16 L 1084/19.A


Metadaten

Gericht VG Potsdam 16. Kammer Entscheidungsdatum 28.09.2021
Aktenzeichen VG 16 L 1084/19.A ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 29 Abs 1 Nr 5 AsylVfG 1992, § 36 Abs 1 AsylVfG 1992, § 36 Abs 3 AsylVfG 1992, § 36 Abs 4 AsylVfG 1992, § 71a Abs 1 AsylVfG 1992, § 71a Abs 4 AsylVfG 1992, § 75 Abs 1 AsylVfG 1992, § 60 Abs 1 AufenthG, § 60 Abs 2 AufenthG

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage mit dem Az. VG 16 K 3175/19.A wird hinsichtlich der zu Nummer 4 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Dezember 2019 mit dem Az. verfügten Abschiebungsandrohung angeordnet.

2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

3. Dem Antragsteller wird unter Beiordnung von Rechtsanwältin Inken Stern aus Berlin für das Eilverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt.

Gründe

I.

Der Antragsteller ist russischer Staatsangehöriger, nach eigenen Angaben tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Er stellte in Polen am 30. Oktober 2007 einen Asylantrag. Mit Bescheid vom 13. Oktober 2008 lehnte die zuständige polnische Behörde die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab, erkannte aber subsidiären Schutz zu. Der Antragsteller erhielt eine bis zum 16. August 2013 gültige polnische Aufenthaltskarte.

Der Antragsteller reiste im Juni 2012 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 19. Juni 2012 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag. Das Bundesamt richtete am 13. Februar 2013 ein Wiederaufnahmeersuchen an Polen. Am 18. Februar 2013 erklärte Polen seine Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Antragstellers. Mit Bescheid vom 13. März 2013 stellte das Bundesamt fest, dass der Asylantrag des Antragstellers nach § 27a AsylVfG unzulässig sei, und ordnete die Abschiebung nach Polen an. Polen sei gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. e der Dublin II-Verordnung zuständig. Deutschland sei verpflichtet, die Überstellung nach Polen als zuständigem Mitgliedstaat innerhalb der in Art. 19 Abs. 3, 4 bzw. Art. 20 Abs. 2 Dublin II-Verordnung festgesetzten Fristen durchzuführen. Der Antragsteller erhob hiergegen Klage. Mit Bescheid vom 24. September 2013 hob das Bundesamt den Bescheid vom 13. März 2013 mit der Begründung auf, dass Deutschland wegen Ablaufs der Überstellungsfrist gemäß Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 20 Abs. 2 Dublin II- Verordnung zuständig geworden sei. Das Klageverfahren wurde am 8. Oktober 2013 eingestellt.

Am 18. November 2013 wurde der Antragsteller zu seinem Verfolgungsschicksal angehört. Am 20. Dezember 2013 teilten die polnischen Behörden mit, dass der Antragsteller am 13. Oktober 2008 ein subsidiäres Abschiebeverbot in Polen zugesprochen bekommen hat. Daraufhin stellte das Bundesamt mit Bescheid vom 7. Januar 2014 fest, dass dem Antragsteller auf Grund seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein internationaler Schutz und kein Asylrecht zustünde, und ordnete die Abschiebung nach Polen an. Der Antragsteller könnte sich aufgrund seiner Einreise aus Polen gemäß § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht auf Art. 16a Abs. 1 GG berufen. Ausnahmen nach § 26 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG lägen nicht vor.

Mit Bescheid vom 24. März 2014 hob das Bundesamt den Bescheid vom 7. Januar 2014 auf und erließ am 23. Juni 2014 einen weiteren Bescheid, in dem es wiederum feststellte, dass dem Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland kein Asylrecht zusteht, und ordnete die Abschiebung nach Polen an. Zur Begründung führte es aus, dass der Antragsteller keinen Anspruch auf Feststellung subsidiären Schutzes in Deutschland hätte, da er einen Schutzstatus bereits in Polen zuerkannt bekommen hätte. Er könne sich aufgrund seiner Einreise aus Polen, einem sicheren Drittstaat, gemäß § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht auf Art. 16a Abs. 1 GG berufen. Hiergegen erhob der Antragsteller am 2. Juli 2014 Klage, die mit Urteil vom 19. Mai 2015 durch das Verwaltungsgericht Potsdam abgewiesen wurde. In dem darauffolgenden Berufungsverfahren hob das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg den angefochtenen Bescheid mit Urteil vom 21. April 2016 auf (OVG 3 B 16.15). Im Rahmen des im Anschluss daran durch die Antragsgegnerin eingeleiteten Revisionsverfahrens ersuchte das Bundesverwaltungsgericht den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zur Klärung unionsrechtlicher Zweifelsfragen bei der Prüfung von Folgeanträgen mit dem Ziel der "Aufstockung", wenn dem Antragsteller bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat (hier: Polen) subsidiärer Schutz gewährt worden ist, um Vorabentscheidung. Nach dem Urteil des EuGHs vom 19. März 2019 (C-297/17) nahm die Antragsgegnerin die Revision zurück.

Am 26. November 2019 hörte die Antragsgegnerin den Antragsteller zur Zulässigkeit seines Asylantrags gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 – 4 AsylG und zum Zwecke der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 – 3 VwVfG an.

Mit Bescheid vom 6. Dezember 2019 lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag hinsichtlich der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig ab (Nummer 1), lehnte die Zuerkennung subsidiären Schutzes ab (Nummer 2), stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation und der Republik Polen nicht vorliegen (Nummer 3), forderte den Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, drohte für den Fall des Nichteinhaltens der Ausreisfrist die Abschiebung in die Russische Föderation oder die Republik Polen an und stellte fest, dass der Antragsteller auch in einen anderen Staat abgeschoben werden könne, in den er einreisen dürfe bzw. der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei (Nummer 4).

Am 19. Dezember 2019 hat der Kläger gegen den vorbezeichneten Bescheid Klage erhoben und hat das Gericht zugleich um einstweiligen Rechtsschutz ersucht. Seiner Ansicht nach sei § 71a AsylG europarechtswidrig, jedenfalls tatbestandlich nicht einschlägig, da internationaler Schutz in der Republik Polen nicht komplett, sondern nur partiell versagt worden sei. In jedem Falle habe der Antragsteller einen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG. Die Abschiebungsandrohung sei ebenfalls rechtswidrig. Dies sei bereits deshalb der Fall, da die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht worden sei, obwohl der Antragsteller im Besitz eines europäischen subsidiären Schutztitels sei.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Gesch.-Z: 5551640 – 160) vom 6. Dezember 2019, zugestellt am 12. Dezember 2019, anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf den angegriffenen Bescheid.

Am 30. Dezember 2019 hat die Antragsgegnerin die in dem Bescheid verfügte Ausreisfrist von 30 Tagen auf eine Woche verkürzt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin im Klage- und Eilverfahren Bezug genommen.

II.

1. Der Eilantrag hat Erfolg.

Der Antrag ist nach §§ 122 Abs. 1, 88 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zweckmäßig dahingehend auszulegen, dass beantragt wird, die aufschiebende Wirkung der Klage mit dem Az. VG 16 K 3175/19.A nur bezüglich der zu Nummer 4) des streitgegenständlichen Bescheides verfügten Abschiebungsandrohung anzuordnen. Denn der Klage kommt vor dem Hintergrund der zu Nummer 1) des Bescheides ergangenen Unzulässigkeitsentscheidung insoweit gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. §§ 36, 71a Abs. 4 und 75 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) keine aufschiebende Wirkung zu.

Der so verstandene Antrag ist nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig und begründet.

Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag als unzulässigen Zweitantrag ab, darf die Aussetzung der Abschiebung gemäß § 71a Abs. 4 AsylG i. V. m. § 36 Abs. 4 S. 1 AsylG nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO nur dann angeordnet werden,
wenn – nach Maßgabe der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) – ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Angegriffener Verwaltungsakt und damit alleiniger Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Prüfung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ist gemäß § 36 Abs. 3 S. 1 AsylG die nach § 71a Abs. 4 AsylG i. V. m. § 36 Abs. 1, §§ 34, 35 AsylG erlassene Abschiebungsandrohung. Der Antrag ist mithin begründet, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1516/93 – juris, Leits. 2). Die Abschiebungsandrohung ist allerdings auch dann zu suspendieren, wenn die Entscheidung des Bundesamtes, den Asylantrag nach § 71a Abs. 1 AsylG als unzulässig abzulehnen im Klageverfahren voraussichtlich der Aufhebung unterliegt, weil die Abschiebungsandrohung in diesen Fällen jedenfalls verfrüht ergangen ist (vgl. dazu Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4.16 – juris, Rn. 21).

Unter Zugrundlegung dieses Maßstabs ist die zu Nummer 4) des streitgegenständlichen Bescheides ergangene Abschiebungsandrohung zu suspendieren. Denn die zu Nummer 1) des Bescheides ergangene Unzulässigkeitsentscheidung ist voraussichtlich aufzuheben. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag u. a. dann unzulässig, wenn im Falle eines Zweitantrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Ein Zweitantrag liegt nach § 71a Abs. 1 AsylG vor, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat, für den u. a. Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten, im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt. Er hat zur Folge, dass ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen ist, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) vorliegen. Da nach der maßgeblichen Rechtslage der Asylantrag bzw. Antrag auf internationalen Schutz auch das Begehren auf subsidiären Schutz umfasst (§ 13 AsylG), liegt ein erfolglos abgeschlossenes Asylverfahren nicht vor, wenn – wie im Falle des Antragstellers – in einem anderen EU-Mitgliedstaat (hier: Republik Polen) subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist (siehe dazu BVerwG, Urteil vom 21. November 2017 – 1 C 42/16 – juris, Rn. 41).

Ob sich die Androhung der Abschiebung in die Russische Föderation auch vor dem Hintergrund als rechtswidrig erweist, dass dem Antragsteller in der Republik Polen subsidiärer Schutz gewährt worden ist, ist aus Sicht des Gerichts offen. Zwar darf ein Ausländer, der außerhalb des Bundesgebiets als ausländischer Flüchtling nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt ist, gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht in den Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit nach dem Ergebnis der ausländischen Prüfung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bedroht ist. Für die den subsidiären Schutz betreffende Regelung in § 60 Abs. 2 AufenthG gilt dies nach dem Wortlaut der Norm wiederum nicht, denn § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ordnet lediglich die entsprechende Geltung des § 60 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG, nicht jedoch des § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG an (siehe dazu VG Göttingen, Urteil vom 18. August 2021
– 2 A 74/21 – juris, Rn. 35). Die Frage, ob § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG im Fall der Gewährung (lediglich) subsidiären Schutzes im Ausland entsprechend anwendbar ist muss vorliegend nicht geklärt werden, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung aus dem vorbezeichneten Grund bestehen.

Ob das Bundesamt vor dem Hintergrund des Urteils des EuGHs vom 19. März 2019 in Sachen C-297/17 berechtigt war, den Antrag des Antragstellers auf subsidiären Schutz erneut zur Sache zu prüfen und welche Bindungswirkung die Gewährung subsidiären Schutzes durch einen Mitgliedstaat (hier: Polen) hat, wenn in dem anderen Mitgliedstaat (hier: Deutschland) eine Unzulässigkeitsentscheidung ausgeschlossen ist (siehe zu dieser Problematik: BVerwG, Beschluss vom 24. April 2019 – 1 C 37/16 – juris, Rn. 4; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21. Januar 2021 – 11 A 1564/20.A – juris, Rn. 101; VG Aachen, Urteil vom 9. Juni 2021 – 1 K 1646/20.A – juris, Rn. 16 ff.), bedurfte angesichts der voraussichtlich aufzuhebenden Unzulässigkeitsentscheidung zu Nummer 1) des Bescheides ebenfalls keiner Entscheidung.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die sachliche Gerichtskostenfreiheit resultiert aus § 83b AsylG.

3. Dem Antragsteller ist nach § 166 VwGO i. V. m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwältin Stern mit Sitz in Berlin beizuordnen (§ 121 ZPO), weil er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann und die beabsichtigte Rechtsverfolgung in dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 26. April 2010 - OVG 5 M 11.10 – juris, Rn. 6) aus den vorbezeichneten Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).