Gericht | OLG Brandenburg 2. Strafsenat | Entscheidungsdatum | 16.09.2021 | |
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Aktenzeichen | 2 Ws 147/21 | ECLI | ECLI:DE:OLGBB:2021:0916.2WS147.21.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
1. Auf die Beschwerde des Angeschuldigten werden der Haftbefehl des Amtsgerichts Cottbus vom 16. August 2019 (22 Qs 120/19) sowie der Außervollzugsetzungsbeschluss der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Cottbus vom 9. Dezember 2019 (22 Qs 159/19) in der Fassung des Beschlusses der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Cottbus vom 15. Dezember 2021 (21 Kls 2/20) aufgehoben.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dem Angeschuldigten insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
I.
Aufgrund des in dieser Sache erlassenen Haftbefehls des Amtsgerichts Cottbus vom 16. August 2019 befand sich der Angeschuldigte seit diesem Tag bis zum 9. Dezember 2019 in Untersuchungshaft. Am 9. Dezember 2019 wurde der auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützte Haftbefehl aufgrund der Beschwerde des Angeschuldigten durch die 2. große Strafkammer des Landgerichts Cottbus außer Vollzug gesetzt. Dem Angeschuldigten wurden unter anderem eine tägliche Meldeauflage bei dem für ihn zuständigen Polizeirevier, eine Kautionszahlung sowie ein Kontaktverbot zu näher genannten Personen auferlegt.
Die Staatsanwaltschaft hat am 15. Januar 2020 gegen den Angeschuldigten Anklage wegen unerlaubten Handelns mit Betäubungsmittel in nicht geringer Menge in acht Fällen erhoben, wobei er in einem Fall eine Schusswaffe oder sonstige Gegenstände mit sich geführt haben soll, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen geeignet und bestimmt sind.
In der Folgezeit wurde durch die nunmehr zuständige 1. große Strafkammer des Landgerichts Cottbus der Umfang der Meldeauflage mehrfach geändert, mehrere Wohnsitzwechsel des Angeschuldigten wurden genehmigt.
Nach früherer Antragstellung im November 2020 beantragte der Angeschuldigte am 29. Juni 2021 erneut die Aufhebung des Haftbefehls. Mit Beschluss vom 30. Juli 2021 lehnte die Strafkammer die Aufhebung wiederum ab unter Hinweis darauf, dass angesichts der Strafandrohung der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz weiterhin gewahrt sei und die Meldeauflage der Begegnung der Wiederholungsgefahr dienen solle.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der Angeschuldigte mit seiner Beschwerde, in der er die Auffassung vertritt, dass der Haftbefehl ungeachtet der Außervollzugsetzung nicht mehr verhältnismäßig sei.
Die Strafkammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde des Angeschuldigten aus den zutreffenden, durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräfteten Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zu verwerfen.
In einem am 15. September 2021 geführten Telefonat seitens der Senatsvorsitzenden mit dem Vorsitzenden der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Cottbus teilte dieser mit, dass angesichts vorrangiger Sachen derzeit nicht absehbar sei, wann in vorliegender Sache über die Eröffnung entschieden und Termine anberaumt werden könnten.
II.
Das Rechtsmittel des Angeschuldigten hat Erfolg und führt zur Aufhebung des Haftbefehls, obgleich der Haftbefehl derzeit nicht vollstreckt wird, § 120 StPO Abs. 1 Satz 1 StPO.
Der weitere Bestand des Haftbefehls ist trotz seiner Außervollzugsetzung nicht mehr verhältnismäßig und verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. GG Artikel 2 Absatz Satz 2 GG.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Kammerbeschluss vom 29. November 2005 2 BvR 173/05) darf eine Freiheitsentziehung nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten. Zu solchen Belangen, gegenüber denen der Freiheitsanspruch eines Beschuldigten unter Umständen zurücktreten muss, gehören die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafrechtspflege. Ein vertretbarer Ausgleich des Widerstreits dieser für den Rechtsstaat wichtigen Grundsätze lässt sich im Bereich des Rechts der Untersuchungshaft nur erreichen, wenn den Freiheitsbeschränkungen, die vom Standpunkt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege aus erforderlich sind, ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten als Korrektiv entgegengehalten wird, was bedeutet, dass zwischen beiden Belangen abzuwägen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer auch unabhängig von der dort zu erwartenden Strafe Grenzen setzt und sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößern wird.
Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben gelten nicht nur für den vollstreckten Haftbefehl. Sie sind darüber hinaus auch für einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl von Bedeutung (vgl. BVerfGE 53, S. 152). Beschränkungen, denen der Beschuldigte durch Auflagen und Weisungen nach §116 STPO ausgesetzt ist, dürfen nicht länger andauern, als es nach den Umständen erforderlich ist. Denn auch wenn die Untersuchungshaft nicht vollzogen wird, kann allein schon die Existenz eines Haftbefehls für den Beschuldigten eine erhebliche Belastung darstellen, weil sich mit ihm regelmäßig die Furcht vor einem (erneuten) Vollzug verbindet und mit dem Fortbestand des Haftbefehls vor allem auch unter Berücksichtigung der freiheitsbeschränkenden Auflagen nach wie vor eine schwerwiegenden Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit verbunden ist (vgl. BVerfGE 53, 152 OLG Dresden, BeckRs 2014, 3545 mwN.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 121, Rn. 5 mwN.).
Auch unabhängig von der Höhe einer zu erwartenden Strafe ist daher auch ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl aufzuheben ist, wenn in Folge einer vom Beschuldigten nicht zu vertretenden Verletzung des Beschleunigungsgebots das Verfahren bereits längere Zeit nicht gefördert wurde und darüber hinaus ungewiss ist, wann das Hauptsacheverfahren eröffnet und Termin zur Hauptverhandlung anberaumt werden kann.
Vor diesem Hintergrund kann der vorliegende Haftbefehl keinen Bestand mehr haben. Angesicht der Bedeutung und Tragweite des Freiheitsanspruchs des Angeschuldigten kann bei dem in vorliegender Sache vollkommen ungewissen Hauptverhandlungsbeginn der außer Vollzug gesetzte Haftbefehl mit seit nunmehr über einem Jahr und acht Monaten bestehenden Auflagen nicht mehr aufrecht erhalten werden.
III.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens waren mangels eines anderen Kostenschuldners der Staatskasse aufzuerlegen. Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1.