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Entscheidung 9 UF 75/21


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 1. Senat für Familiensachen Entscheidungsdatum 23.09.2021
Aktenzeichen 9 UF 75/21 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2021:0923.9UF75.21.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Auf die Beschwerden der Kindeseltern wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Oranienburg vom 19.03.2021 (Az. 35 F 12/21) aufgehoben.

Die Eltern sind damit für das Kind L… P… S…, geboren am ….2008, wieder vollumfänglich sorgeberechtigt.

Gerichtskosten für beide Instanzen werden nicht erhoben. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten findet nicht statt.

Der Verfahrenswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 4.000 € festgesetzt.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Beteiligten zu 1. und 2. sind die Eltern des am ….2008 ehelich geborenen L… P… S…. Die Trennung erfolgte im Jahr 2016. Der Vater verließ seinerzeit das in B… gelegene Familienheim, das im gemeinsamen Eigentum der Eltern stand. Im Jahr 2019 kehrte er zurück. Die Mutter lebte mit dem Kind fortan im Erdgeschoss des gemeinsamen Hauses und der Vater im Obergeschoss. In der Folgezeit kam es zu massiven Konflikten zwischen den Eltern. Von April 2020 bis August 2020 hielt sich die Mutter mit dem Kind bei einer Cousine (Frau T… S…) in B… auf. Im Dezember 2020 oder Januar 2021 bezog sie eigenen Wohnraum in V…. Das Kind blieb beim Vater. Umgangskontakte zwischen Mutter und Kind gab es nur gelegentlich.

Das Scheidungsverfahren ist beim Amtsgericht rechtshängig und soll kürzlich abgeschlossen worden sein.

Die gemeinsame Immobilie der Eltern ist mittlerweile veräußert. Der Vater wohnt seit Mitte April dieses Jahres in V… zur Miete.

Die im März 1980 geborene Mutter arbeitet bei der …. Im Juni 2020 durchlief sie eine stationäre Alkoholentzugsbehandlung von mehreren Wochen. Hieran schlossen sich ambulante Maßnahmen an. In der Zeit vom 31.01.2021 bis zum 12.02.2021 absolvierte sie eine stationäre Intensivtherapie in einem Fachkrankenhaus für Psychotherapie in P…, wo die Mutter heute noch ambulant psychotherapeutisch behandelt wird.

Der im Mai 1972 geborene Vater ist seit 1992 bei der … beschäftigt. Er hat gesundheitliche Probleme infolge langjährigen Drogenkonsums und ist deshalb häufiger krankgeschrieben. Nach eigenen Angaben lebt er seit Dezember 2020 abstinent.

Mit Schriftsatz vom 21.01.2021 hat die Mutter das vorliegende Verfahren eingeleitet und zuletzt auf Übertragung der gesamten elterlichen Sorge angetragen. Die weitere Entwicklung des Kindes sei in der Obhut des Vaters gefährdet, was näher ausgeführt wurde.

Der Vater ist dem Sorgerechtsantrag mit näherer Begründung entgegengetreten und hat selbst Antrag auf Übertragung des alleinigen Aufenthaltsbestimmungsrechts gestellt.

In der Zeit von Januar bis März 2021 informierte die Schule die Eltern mit diversen E-Mails über Fehlzeiten und mangelnde Mitarbeit von L.... Seine Versetzung sei gefährdet. Es bestünde der Verdacht auf Drogen- und Alkoholmissbrauch. Der Jugendliche besuchte seinerzeit das private …-Gymnasium in O….

Mit Beschluss vom 19.03.2021 hat das Amtsgericht den Eltern wesentliche Teile der elterlichen Sorge für L... entzogen und auf das Jugendamt des Landkreises … als Ergänzungspfleger übertragen. Die Sorgerechtsanträge sind zurückgewiesen worden. Beide Eltern seien derzeit außerstande, die elterliche Sorge auszuüben. Das dreizehnjährige Kind weise erhebliche Fehlentwicklungen auf (Alkohol- und Drogenkonsum, Gefahr einer Spielsucht, Verweigern der Schule, Ritzen), die besondere Anforderungen an die Erziehung und Betreuung stellten. Aufgrund eigener Probleme und gesundheitlicher Einschränkungen könnten die Eltern zurzeit die Erziehungsaufgaben nicht bewältigen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des Beschlusses verwiesen.

Gegen diese Entscheidung hat die Mutter Beschwerde eingelegt, mit der sie zunächst ihr erstinstanzliches Begehren weiterverfolgt und sich zuletzt für die gemeinsame elterliche Sorge - unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses - ausgesprochen hat. Sie rügt Verfahrensfehler und Fehler bei der Anwendung materiellen Rechts, was näher ausgeführt wird.

Der Vater hat ebenfalls Beschwerde eingelegt, mit der er zunächst die Übertragung von wesentlichen Teilen der elterlichen Sorge erreichen wollte. Nunmehr erstrebt er die Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge.

Mitte April dieses Jahres wurde ein Erziehungsbeistand bestellt. Seit dem 12.05.2021 hielt sich L... - im Einvernehmen mit den Eltern - in einer stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung in L… auf. Die Hilfemaßnahme wurde Anfang August 2021 wegen der bestehenden Drogenproblematik beendet. Während der Fremdunterbringung war L... auch zweimal für mehrere Tage abgängig. Seit dem 03.08.2021 wird der Jugendliche von seinen Eltern im paritätischen Wechselmodell betreut. Die Eltern nehmen seit geraumer Zeit Eltern- und Erziehungsberatung in Anspruch. L... besucht seit einigen Wochen regelmäßig eine Drogenberatungsstelle.

Der Senat hat die Eltern und die zuständigen Mitarbeiter des Jugendamts am 29.07.2021 persönlich angehört. Die Anhörung des Jugendlichen L... ist am 30.08.2021 erfolgt. Der Verfahrensbeistand konnte an dem Termin urlaubsbedingt nicht teilnehmen und hat schriftliche Stellungnahmen eingereicht.

II.

Die Beschwerden der Eltern sind gemäß §§ 58 ff. FamFG zulässig. In der Sache führen sie zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.

Soweit das Amtsgericht den Eltern gemäß § 1671 Abs. 4 BGB in Verbindung mit § 1666 BGB wesentliche Teile der elterlichen Sorge entzogen und auf einen Ergänzungspfleger übertragen hat, kann das nicht von Bestand sein. Kinderschutzrechtliche Maßnahmen sind zurzeit nicht veranlasst.

Gemäß § 1666 BGB hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung einer Gefahr erforderlich sind, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Hierzu gehört auch die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB).

Eine Kindeswohlgefährdung im Sinne von § 1666 BGB liegt aber nur dann (und so lange) vor, wenn (wie) eine gegenwärtige, in einem solchem Maß vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit muss auf konkreten Verdachtsmomenten beruhen. Eine nur abstrakte Gefährdung genügt nicht (BGH, FamRZ 2019, 598; FamRZ 2017, 212).

Gemäß § 1696 Abs. 2 BGB sind kinderschutzrechtliche Maßnahmen aufzuheben, wenn eine Gefahr für das Wohl des Kindes nicht mehr besteht oder die Erforderlichkeit der Maßnahme entfallen ist. Letzteres ist hier der Fall.

Es ist zwar richtig, dass der dreizehnjährige L... zahlreiche Fehlentwicklungen aufweist. Er leidet an ADHS und einer Lese-Rechtschreibstörung. Zudem besteht bei ihm eine deutliche Drogenproblematik (Cannabis, Alkohol), verbunden mit der Tendenz, sich der Schule und Erziehungsbemühungen zu entziehen. Die weitere Entwicklung des Jugendlichen ist konkret gefährdet.

Die Eltern sind nunmehr aber willens und auch in der Lage, die zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung erforderlichen Hilfen anzunehmen und im wohlverstandenen Interesse des Kindes zu handeln. Seit Erlass des angefochtenen Beschlusses haben sich die Dinge weiterentwickelt. Die Eltern, die in der Vergangenheit im Wesentlichen mit ihren eigenen Problemen und Streitereien beschäftigt waren, haben offensichtlich die Brisanz der Situation erkannt. L... steht nun im Vordergrund ihres Denkens und Handelns. Sie wollen ihrer Elternverantwortung gemeinsam gerecht werden und eigene Befindlichkeiten hintanstellen. Abgesehen davon, dass beide Elternteile seit geraumer Zeit über eigenen Wohnraum verfügen, was zu einer gewissen Entspannung der Lage geführt hat, nehmen sie seit April 2021 diverse Beratungsangebote bei einem öffentlichen Hilfeträger in Anspruch und stehen mit dem Jugendamt in regelmäßigem Kontakt. Sie arbeiten an ihrer Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit und werden in Erziehungsfragen beraten. Laut Bericht des Jugendamts vom 12.05.2021 ist die nach Erlass der angefochtenen Entscheidung gewährte ambulante Hilfe (Bestellung eines Erziehungsbeistands) nicht an der fehlenden Mitwirkung der Eltern gescheitert; sie haben sich danach konstruktiv und kooperativ in den Hilfeprozess eingebracht. Vielmehr war es L..., der sich nicht helfen lassen wollte/konnte und durch sein massives Fehlverhalten eine Fremdunterbringung veranlasste. Beide Elternteile stimmten der stationären Hilfemaßnahme zu und erbrachten auch die notwendigen Mitwirkungshandlungen (siehe Bericht des Jugendamts vom 12.05.2021). Frau D…, Mitarbeiterin des Trägers der stationären Jugendhilfe, bestätigte dem Senat im Anhörungstermin vom 29.07.2021, dass die Eltern zuverlässig und kooperativ mitgearbeitet haben und sich um das Wohl ihres Sohnes sorgten. Es kann den Eltern nicht angelastet werden, dass L... wegen seiner Drogenproblematik in der stationären Jugendhilfeeinrichtung nicht länger bleiben durfte.

Seit Anfang August dieses Jahres wird der Jugendliche von seinen Eltern in einem paritätischen Wechselmodell betreut. Er hält sich eine Woche bei der Mutter und eine Woche beim Vater auf. Für dieses Betreuungsmodell hatte er sich bereits erstinstanzlich ausgesprochen. Anlässlich seiner Anhörung am 30.08.2021 hat sich L... mit dem eingeschlagenen Weg zufrieden gezeigt. Beide Eltern würden ihm helfen und ihn unterstützen. Mit Hilfe des Jugendamts seien für beide Haushalte feste Regeln erarbeitet worden, an die er sich halten müsse, anderenfalls gebe es Strafpunkte und am Ende des Monats eventuell eine Strafe. Auch für die Eltern gäbe es Regeln, an die sie sich halten müssten und das auch einhielten. Es sei jetzt alles besser als vorher. Die Eltern würden wieder normal miteinander reden. Der Jugendliche zeigt sich zu einem ambulanten Drogenentzug motiviert. Der Aufenthalt in der stationären Jugendhilfeeinrichtung sei ihm eine Lektion gewesen. Die Eltern haben L... einen Platz in einer Drogenberatungsstelle besorgt, die er seit einigen Wochen auch besucht. Er wird dort regelmäßig auf Drogen getestet. Die Eltern haben den Jugendlichen auch in einer neuen Schule angemeldet, um ihm einen Neustart (fern seiner „Drogenkumpels“) zu ermöglichen. Seit dem 13.08.2021 besucht L... die …-Oberschule in H…. Er wiederholt die 7. Klasse. Nach Angaben der Klassenlehrerin, Frau W…-S…, erscheint L... pünktlich zum Unterricht und ist bestrebt, den schulischen Anforderungen gerecht zu werden (siehe Stellungnahme des Verfahrensbeistands vom 21.09.2021). Die Eltern zeigten in der Schule Präsenz.

Festzuhalten bleibt, dass die Eltern aktuell alle Maßnahmen ergriffen haben, um einer Kindeswohlgefährdung entgegenzuwirken. Sie nehmen fachliche Hilfe an, wirken an ambulanten öffentlichen Hilfemaßnahmen mit und arbeiten im wohlverstandenen Interesse des Kindes zusammen. Bei diesen Gegebenheiten sind kinderschutzrechtliche Maßnahmen nicht länger gerechtfertigt. Entgegen der Ansicht des Verfahrensbeistands kann mit der Aufhebung der familiengerichtlichen Maßnahmen nicht zugewartet werden. Der Staat darf in die elterliche Sorge nur solange eingreifen, wie die Eltern ihrer Pflicht zur Gefahrabwendung nicht nachkommen. Die Frage, ob die getroffenen ambulanten Hilfemaßnahmen letztlich von Erfolg sein werden, steht zwar im Raum, rechtfertigt aber unter dem Gesichtspunkt des Vorrangs der elterlichen Sorge unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Eingreifens das Aufrechterhalten des Sorgerechtsentzugs nicht. Der Ausgang eines Hilfeprozesses ist immer ungewiss, derzeit spricht aber viel dafür, dass die Eltern ihrer Verantwortung nachkommen.

Nach alledem war die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die gemeinsame elterliche Sorge wieder vollumfänglich herzustellen. Weitergehendes ist nicht veranlasst. Die Eltern begehren keine Entscheidung nach § 1671 Abs. 1 BGB mehr. Nach ihrem Willen soll es bei dem gemeinsamen Sorgerecht bleiben. Das Sorgerechtsverfahren hat sich damit erledigt.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 FamFG.

Die Festsetzung des Beschwerdewerts ist nach §§ 40, 45 Abs. 1 Nr. 1 FamGKG erfolgt.

Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 70 Abs. 2 FamFG) liegen nicht vor.