Gericht | SG Frankfurt (Oder) 18. Kammer | Entscheidungsdatum | 28.07.2021 | |
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Aktenzeichen | S 18 U 46/19 | ECLI | ECLI:DE:SGFRANK:2021:0728.S18U46.19.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 7 SGB 7, § 8 SGB 7, § 56 SGB 7, § 72 SGB 7, § 54 SGG, § 128 SGG |
1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 26. September 2018 und des Widerspruchsbescheides vom 19. März 2019 verurteilt, dem Kläger beginnend ab dem 1. März 2010 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 von Hundert zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Die Beteiligten streiten nach Anerkennung einer weiteren Gesundheitsstörung als Unfallfolge noch um die Gewährung einer Verletztenrente.
Der 1983 geborene Kläger ist gelernter Land- und Baumaschinenschlosser. Seit dem 1. Juli 2007 war der Kläger als angestellter Landmaschinenmechaniker berufstätig. Seit dem Jahr 2009 ist der Kläger angestellter Elektrohelfer.
Am 14. August 2007 erlitt der Kläger den streitgegenständlichen Arbeitsunfall, als er auf dem Heimweg von der Arbeit mit dem Motorrad stürzte und sich dabei eine Schlüsselbeinfraktur links, eine AC – Gelenksprengung links, den Bruch der dritten und vierten Rippe links, eine Wunde im Bereich des linken Kniegelenks und multiple Prellungen im Bereich der linken Körperhälfte sowie ein Schädel – Hirn – Trauma zuzog. Die knöchernen Verletzungen im Bereich des AC – Gelenks und des Schlüsselbeines mussten operativ versorgt werden. In weiteren Operationen wurde das eingebrachte Operationsmaterial entfernt.
Ab dem 23. Februar 2008 war der Kläger wieder arbeitsfähig. Bis dahin erhielt er zu Lasten der Beklagten Verletztengeld. Der behandelnde Durchgangsarzt schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zu diesem Zeitpunkt auf Null. Die Behandlungsbedürftigkeit bestand auf Grund einer keloidartigen Narbenbildung sowie ab dem 1. März 2010 von Schwellungen im Bereich der linken Schulter und des linken Oberarms im Sinne eines Lymphödems fort. Im Jahr 2017 wurde ein Verschluss der Vena subclavicula links festgestellt.
Mit einer beratungsärztlichen Stellungnahme vom 19. Januar 2018 nahm der Arzt für Chirurgie und Gefäßchirurgie Dr. P dahingehend Stellung, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass es auf Grund des überschießenden Narbengewebes und der unfallbedingten Verbreiterung des Klavikulaschafts zu einem thorarcic outlet Syndrom (TOS) im Sinne einer venösen Kompression gekommen sei, die zu der Venenthrombose geführt habe.
Am 11. Juli 2018 erstellte Herr Prof. Dr. M in Auswertung von Röntgenuntersuchungen vom 26. Juni 2018 und einer CT – Untersuchung vom 11. Juli 2018 ein radiologisches Zusatzgutachten. In diesem stellte er zusammenfassend fest, dass die Schlüsselbeinfraktur und die AC – Gelenksprengung nach Entfernung des eingebrachten Klavikulaplatte und Hakenplatte ohne degenerative Anbauten ausgeheilt sei. Die ehemals thrombosierten V. axillaris und V. subclavia links seien äußert zartlumig rekanalisiert. Es bestehe konsekutiv eine Ausbildung kräftiger links pectoralen und links thorakalen venösen Kollateralen. Ein mittelbarer Unfallzusammenhang könne nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden.
Mit dem Gutachten vom 16. August 2018 haben Herr Prof. Dr. E, Frau Prof. Dr. S und Frau S ein unfallchirurgisch – orthopädisches Zusammenhangsgutachten erstellt. In diesem Gutachten stellten die Gutachter fest, dass bei dem Kläger unfallbedingt eine knöchern konsolidierte Klavikulafraktur und AC – Gelenksprengung links, operativ versorgt, Material bereits entfernt, eine aktiv endgradige Bewegungseinschränkung für Armseitwärts- und Armrückwärtsbewegung, ein Lymphödem im Bereich des Brustkorbes und des linken Armes mit Umfangsmehrung und Notwendigkeit der regelmäßigen Lymphdrainage sowie Narbenverhältnisse mit zeitweiser starker Keloidbildung, lasertherapeutisch behandelt, vorliegen. Der Verschluss der Vena subclavia und Vena axillaris mit kräftiger Ausbildung von Kollateralen, konservativ mit zeitweiter Antikoagulation therapiert, aktuell rekanalysiert sei nicht auf das Unfallereignis zurückzuführen, da zeitnah zum Unfallzeitpunkt weder in den Operations- noch in den Behandlungsberichten von einer Gefäßschädigung berichtet werde. Neben dem fehlenden zeitlichen Zusammenhang spreche auch das radiologische Bild gegen eine Unfallkausalität. Die MdE wurde auf weniger als 10 von Hundert geschätzt.
Mit Bescheid vom 26. September 2018 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente auf Grund der Folgen des Arbeitsunfalls vom 14. August 2007 ab. Der Zustand nach Venenverschluss im Jahr 2017 sei nicht auf das vorgenannte Unfallereignis zurückzuführen.
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 29. Oktober 2018 legte der Kläger gegen die vorgenannte Entscheidung Widerspruch ein. Dieser wurde von der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 19. März 2019 als unbegründet zurückgewiesen.
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 23. April 2019 hat der Kläger gegen die vorgenannte Entscheidung der Beklagten Klage erhoben. Im Nachgang reichte dieser eine Stellungnahme des behandelnden Internisten Dr. M ein, welcher einen Verschluss der Vena subclavia links als sicher mitteilte.
Die Beklagte hat im Verhandlungstermin vom 28. Juli 2021 den Verschluss der linken Schlüsselbeinvene im Sinne einer Verschlussthrombose als Folge des streitgegenständlichen Arbeitsunfalls anerkannt. Der Kläger hat dieses Anerkenntnis angenommen und das Klageverfahren im Übrigen fortgeführt.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 26. September 2018 und des Widerspruchsbescheides vom 19. März 2019 zu verurteilen, ihm eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 von Hundert zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat zur weiteren Sachverhaltsaufklärung ein Gesamtleistungsverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherung und Behandlungsunterlagen der behandelnden Ärzte des Klägers beigezogen sowie eine Begutachtung auf dem orthopädisch – unfallchirurgischen Fachgebiet durch den Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. S sowie eine Zusatzbegutachtung auf dem gefäßchirurgisch – phlebologischen Fachgebiet durch den Facharzt für Chirurgie, Gefäßchirurgie Dr. H veranlasst.
Dr. H stellte in seinem Gutachten vom 29. Februar 2020 fest, dass der Kläger auf seinem Fachgebiet unter einer Thrombose der Vena subklavia links, einem Armlymphödem links und einer Hyperhidrose leidet. Diese Gesundheitsstörungen seien mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das streitgegenständliche Unfallereignis zurückzuführen. Durch die Fraktur des Schlüsselbeins, die nachfolgende Osteosynthese sowie die anschließende Entfernung des Osteosynthesematerials sei es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Schädigung der unter dem Schlüsselbein verlaufenden Vene und des Gefäßnervenbündels gekommen. Nach einer Schlüsselbeinfraktur bestehe die Möglichkeit eines TOS oder einer kosto-klavikulären Enge durch die Ausbildung narbiger Strukturen. Das Lymphödem sei auch auf die durch das Rasanztrauma hervorgerufene Weichteilschädigung zurückzuführen.
Auf Grund dieser Unfallfolge bestehe bei dem Kläger eine temperatur- und belastungsabhängige Armschwellung links sowie eine linksseitige Armschwäche bei Über-Kopf-Arbeiten. Diese führe zu einer verminderten Belastbarkeit des linken Armes mit frühzeitiger Armschwäche und dem Zwang zum Pausieren nach körperlich kraftaufwändiger Armtätigkeit. Ferner bestehe eine schmerzhafte Narbenbildung und eine kosmetisch störende Ausbildung von Hautkolleraten der Venen. Die MdE wurde seit dem 23. Februar 2008 auf um 20 von Hundert geschätzt.
Der orthopädisch – unfallchirurgische Gutachter Dr. S stellte in seinem Hauptgutachten vom 11. Juni 2020 fest, dass bei dem Kläger unfallbedingt ein stabiler Ausheilungszustand nach Knochenbruchverletzung des Schafts des linken Schlüsselbeins und Sprengung des linken Schultereckgelenks, eine überschießende Narbenbildung – Keloid – mit einzelnen artrophen Hautanteilen an der Vorderseite des linken Schultergürtels nach operativer Behandlung und eine Verschluss – Thrombose – der linken Schlüsselbeinvene mit chronisch vermehrter Flüssigkeitseinlagerung der linken Schulterregion und des linken Arms bestehen.
Die MdE des Klägers schätzte Dr. S ab dem 23. Februar 2008 auf etwa 20 von Hundert ein. Zur Begründung dieser Einschätzung führte der Gutachter aus, dass der Kläger bis zur vollständigen knöchernen Konsolidierung und Entfernung des Osteosynthesematerials, zuletzt am 20. November 2008 und danach noch etwa für einen Zeitraum von einem Vierteljahr stärkere Belastungen einschließlich Erschütterungen des Schultergürtels oder entsprechende gefahrgeneigte Tätigkeiten zu unterlassen hatte. Seit März 2009 hätten Probleme mit einer überschießenden Narbenbildung mit entsprechender Behandlungsbedürftigkeit und Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit bestanden. Ab März 2010 sei eine anhaltende vermehrte Flüssigkeitseinlagerung des Gewebes am linken Arm und der Schulterregion (Lymphödem) mit der Notwendigkeit einer regelmäßigen Lymphdrainage und Kompressionsbehandlung belegt. Bei Anerkennung des durch den Venenverschluss hervorgerufenen chronischen Lymphödems als Unfallfolge erscheine eine Bewertung der MdE auf unter 10 von Hundert als deutlich zu niedrig.
Mit Schriftsatz vom 11. Januar 2021 wandte die Beklagte ein, dass der Nachweis eines Gefäßvenenverschlusses erstmals im Jahr 2017 geführt worden sei. Es sei weiterhin nicht erkennbar, welche Befunde aus heutiger Sicht eine MdE von 20 von Hundert rechtfertigen sollen. Die Beweglichkeit im Bereich des linken Schultergelenks sei nur endgradig eingeschränkt. Krafteinbußen habe der Kläger explizit verneint. Als MdE – relevante Funktionseinschränkungen verbliebe daher nur eine Schwellneigung sowie eine schnelle Ermüdung bei Über – Kopf – Arbeiten. Vergleichsweise sehe die Literatur eine rentenberechtigende MdE erst dann vor, wenn der Arm nicht über die Horizontale gehoben werden könne.
Mit der ergänzenden Stellungnahme vom 8. Februar 2021 hat der Gutachter Dr. S an seiner bisherigen MdE – Einschätzung festgehalten. Zur Begründung führte Dr. S aus, dass die MdE sich im Wesentlichen nicht aus der mechanischen oder funktionellen Bewegungseinschränkung im Schultergelenk sondern aus der Bedrängung des Gefäßsystems am linken Schultergürtel und den Folgen des thrombotischen Verschlusses der linken Schlüsselbeinvene ergeben. Als Unfallfolge bestehe eine vermehrte Flüssigkeitseinlagerung (Lymphödem) mit vermehrter Schweißsekretion (Hyperhidrose) des linken Arms und der linken Schulterregion mit der Notwendigkeit einer dauerhaften Kompressionsbehandlung und daraus resultierend eine Minderung der Dauerbelastbarkeit einschließlich einer Kraftminderung des linken Armes. Diese Gesundheitsstörung sei in gewisser Weise mit einer tiefen Venenthrombose am Bein und im Beckenbereich vergleichbar. Abhängig vom Ausmaß der Stauungszeichen seien die Auswirkungen an den oberen Gliedmaßen sogar noch ausgeprägter, da durch eine Hochlagerung keine Besserung der Stauungszeichen erreicht werden könne. Die im Bereich des Schultergürtels lokalisierte venöse Abflussbehinderung wirke sich sowohl bei manuellen Tätigkeiten vor dem Körper als auch in Schulterhöhe aus. Ein Anheben des Armes bis an die Horizontale und darüber hinaus führe in der Regel zu einer weiteren Kompromittierung des ohnehin bedrängten und teilweise verschlossenen venösen Systems in der Umgebung des Schlüsselbeines und des Schultergelenks und damit eher zu einer Verschlechterung als einer Verbesserung des venösen Abflusses. Auch eine vermehrte aktive Muskelarbeit (sog. Muskelpumpe) führe anders als bei den unteren Extremitäten in dem vorgenannten Bereich eher zu einer Zunahme der Stauungserscheinungen wegen der damit einhergehenden aktivitätsbedingten vermehrten arteriellen Durchblutung. Unter Bezugnahme auf die Referenzwerte für die unteren Gliedmaßen sowie der am Arm eher deutlicheren und weniger kompensierbaren Auswirkungen sei die MdE auf 20 von Hundert geschätzt worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 28. Juli 2021, die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen.
I.
Die Klage ist in zulässiger Weise als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs.1 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erhoben worden.
II.
1.
Die Klage ist weit überwiegend begründet. Die Beklage war in Abänderung des Bescheides vom 26. September 2018 und des Widerspruchsbescheides vom 19. März 2019 zu verurteilen, dem Kläger für den Zeitraum ab dem 1. März 2010 eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 von Hundert zu gewähren, da bei dem Kläger ab diesem Zeitpunkt eine rentenberechtigende MdE in der vorgenannten Höhe bestand. Die streitgegenständliche Entscheidung ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Sie war somit wie im Tenor erfolgt abzuändern. Nur bezüglich des Zeitraums bis zum 28. Februar 2010 verblieb die Klage erfolglos.
Der Kläger hat für den Zeitraum ab dem 1. März 2010, ab dem erstmalig eine Schwellung im Bereich der linken Schulter und des linken Oberarmes im Sinne eines Lymphödems festgestellt wurde, gestützt auf § 56 Abs.1 SGB VII einen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 von Hundert der Vollrente.
Nach §§ 7 Abs. 1 1. Alt. und 56 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben in der gesetzlichen Unfallversicherung Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Arbeitsunfalls über die 26. Woche nach dem Arbeitsunfallereignis hinaus um wenigstens 20 von Hundert gemindert ist. Rentenbeginn ist gemäß § 72 Abs.1 1. Alt. SGB VII jedoch frühestens der Tag, der auf den Tag folgt, an dem die Verletztengeldbewilligung endet. Dieses ist vorliegend der 23. Februar 2008.
Gemäß § 56 Abs.2 S.1 SGB VII richtet sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Bei jugendlichen Versicherten wird die Minderung der Erwerbsfähigkeit gemäß § 56 Abs.2 S.2 SGB VII nach den Auswirkungen bemessen, die sich bei Erwachsenen mit gleichem Gesundheitsschaden ergeben würden. Bei der Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit werden gemäß § 56 Abs.2 S.3 SGB VII Nachteile berücksichtigt, die die Versicherten dadurch erleiden, dass sie bestimmte von ihnen erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Versicherungsfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen können, soweit solche Nachteile nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung ihnen zugemutet werden kann, ausgeglichen werden.
Bei der Bewertung der MdE kann es sich nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts grundsätzlich nur um eine Schätzung handeln, bei welcher der Grad der unfallbedingten MdE nicht völlig genau, sondern nur annäherungsweise feststellbar ist. An Einschätzungen der in der Regel zur Ermittlung der für die Schätzung notwendigen medizinischen Anknüpfungstatsachen heranzuziehenden ärztlichen Gutachter sind die Unfallversicherungsträger und Gerichte nicht gebunden. Sie haben die MdE vielmehr in eigener Verantwortung zu prüfen und gegebenenfalls die seitens der Gutachter vorgeschlagene MdE zu korrigieren, weil es um eine Rechtsfrage geht (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 17. Dezember 1975, Aktenzeichen 2 RU 35/75, Rn 18).
Um das Vorliegen einer MdE beurteilen zu können, ist zunächst zu fragen, ob das aktuelle körperliche oder geistige Leistungsvermögen beeinträchtigt ist. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang dadurch die Arbeitsmöglichkeiten der versicherten Person auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vermindert werden. Die Bemessung des Grades der MdE erfolgt als Tatsachenfeststellung des Gerichts, das diese gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Die zur Bemessung der MdE in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind dabei zu beachten. Sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen ständigem Wandel (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 18. Januar 2011, Aktenzeichen B 2 U 5/10 R, Rn 15f.). |
Die MdE des Klägers beträgt nach diesen Vorgaben ab dem 1. März 2010 durchgehend 20 von Hundert. Die Kammer folgt insoweit der Einschätzung der Gerichtsgutachter Dr. S und Dr. H in ihren jeweils für das Gericht erstellten Gutachten.
Bei dem Kläger liegen unter Einbeziehung des am heutigen Tage abgegebenen Teilanerkenntnisses des Beklagten folgende unfallbedingte Gesundheitsstörungen vor:
- stabiler Ausheilungszustand nach Knochenbruchverletzung des Schafts des linken Schlüsselbeins und Sprengung des linken Schultereckgelenks
- überschießende Narbenbildung – Keloid – mit einzelnen artrophen Hautanteilen an der Vorderseite des linken Schultergürtels nach operativer Behandlung
- Verschluss der linken Schlüsselbeinvene im Sinne einer Venenthrombose
Weitere unfallbedingte Gesundheitsstörungen bestehen entsprechend den schlüssigen Gutachten von Dr. S und Dr. H nicht. Es werden auch von keinem Beteiligten weitere Gesundheitsstörungen des Klägers als unfallbedingt geltend gemacht.
Entsprechend den nachvollziehbaren und schlüssigen Ausführungen des Hauptgutachters Dr. S sind die körperlichen Einschränkungen des Klägers, denen er auf Grund der unfallbedingten Verschlussthrombose der linken Schlüsselbeinvene unterliegt und die zu einer chronisch vermehrter Flüssigkeitseinlagerung der linken Schulterregion und des linken Arms im Sinne eines Lymphödems mit der Notwendigkeit einer regelmäßigen Lymphdrainage und Kompressionsbehandlung, temperatur- und belastungsabhängige Armschwellung links sowie einer linksseitige Armschwäche bei Über-Kopf-Arbeiten, einer verminderten Belastbarkeit des linken Armes mit frühzeitiger Armschwäche und dem Zwang zum Pausieren nach körperlich kraftaufwändiger Armtätigkeit wie auch zu vermehrtem Schwitzen im Ödem – Bereich führen, führend. Die geringfügigen Bewegungseinschränkungen des Klägers im Schultergelenksbereich, sowie die Narbenbildung spielen bei der Bewertung der MdE hingegen keine wesentliche Rolle. Die hierdurch hervorgerufenen Einschränkungen werden durch die Folgen des Venenverschlusses mit erfasst.
Für die Bewertung einer MdE auf Grund des Verschlusses einer Schlüsselbeinvene gibt es keinen eigenständigen Erfahrungswert als allgemeinen Erfahrungssatz, auf den die Kammer bei ihrer Entscheidung zurückgreifen könnte. Vor diesem Hintergrund schätzt die Kammer die MdE des Klägers unter Berücksichtigung bestehender Erfahrungswerte für vergleichbare körperliche Funktionseinschränkungen sowie der tatsächlichen Gegebenheiten des Einzelfalls des Klägers (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 15. März 2011, Aktenzeichen L 3 U 72/09, Rn 42 m.w.N., zu recherchieren unter www.juris.de).
Um eine Vergleichbarkeit mit anderen Unfallverletzten zu garantieren, gibt es zunächst den Anhaltspunkt, sich an den Erfahrungswerten bezüglich orthopädisch bedingter Einschränkungen der Beweglichkeit des Schultergelenks zu richten, da es sich um das auch beim Kläger im Wesentlichen betroffenen Körperteil handelt. Gemäß diesen Vorgaben läge eine MdE von 20 von Hundert erst ab einer Bewegungseinschränkung bis 90 Grad (vorwärts / seitwärts) vor. Der linke Arm dürfte daher unfallbedingt nicht mehr über die Horizontalebene gehoben werden können, um eine rentenberechtigtende MdE zu begründen. Davon ist der Kläger entsprechend den gutachterlichen Feststellungen der Dr. S in seinem orthopädisch – unfallchirurgischen Gutachten mit nur leicht eingeschränkten Bewegungsmaßen von 150 Grad in der Seitwärtsbewegung und 145 Grad in der Vorwärtsbewegung deutlich entfernt. Diese Werte würde eine MdE von unter 10 von Hundert ergeben.
Jedoch überzeugt aus Sicht der Kammer die Argumentation des Gutachters Dr. S, dass diese MdE – Einschätzung den im Fall des Klägers bestehenden Funktionseinschränkungen auf Grund des Venenverschlusses nicht gerecht würde. Dr. S zieht für die Kammer auf Grund der vergleichbaren Folgen der Einschränkung der Dauerbelastbarkeit des Klägers sowie der Zunahme der unfallbedingten Beschwerden bei Ausnutzung der noch bestehenden Kraft und Beweglichkeit der linken oberen Extremität daher im Ergebnis durchaus überzeugend den Vergleich zu den Erfahrungswerten für eine tiefe Venenthrombose im Bereich des Oberschenkels, auch wenn es sich hierbei um eine andere Extremität handelt. Für diesen Fall gelten als Erfahrungswerte nach Schönberger / Mehrtens / Valentin bei einem chronischem Stauungsödem mit indiziertem Kompressionsstrumpf mit gut beherrschbarer Schwellung eine MdE von 10 von Hundert, bei Schwellung und leichter trophischer Störung eine MdE von 20 von Hundert und bei Schwellung mit ausgeprägter trophischer Störung einem MdE von 30 mit getragenem Kompressionsstrumpf. Dabei wird darauf verwiesen, dass auch bei getragenem Kompressionsstrumpf bestimmte berufliche Körperhaltungen venöse Stauungen bewirken können. Bei einer therapieresistenden Stauungssymptomatik, insbesondere bei Unverträglichkeit einer Kompressionsstrumpfproblematik, ist die MdE höher einzuschätzen als bei therapierbaren Fällen (Schönberger / Mehrtens / Valentin, a.a.O., Seite 640). In dem Werk von Mehrhoff / Ekkernkamp / Wich wird für ein chronisches Ödem eines Beines eine MdE von 10 bis 30 von Hundert vorgeschlagen, bei hinzutretenden trophischen Störungen und Geschwürbildungen beträgt die MdE bei Betroffenheit eines Beines bis zu 40 von Hundert (Mehrhoff / Ekkernkamp / Wich, Unfallbegutachtung, 14. Auflage 2019, Seite 206).
Der Kläger trägt mit Rücksicht auf das Stauungsödem einen Kompressionsstrumpf im Bereich des rechten Oberarms. Diesen kann der Kläger auf Grund des bestehenden unfallbedingten Venenverschlusses nur noch begrenzt belasten, was sich erheblich auf die von ihm noch zumutbar zu verrichtenden Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes auswirkt. Diesbezüglich führt der Gutachter Dr. S wie auch zuvor schon der phlebologische Fachgutachter Dr. H nachvollziehbar aus, dass das chronische Lymphödem im Bereich der linken Schulter und des linken Armes des Klägers belastungsabhängig zunimmt. Dieses wirkt sich sowohl auf die dem Kläger noch zumutbare Arbeitsschwere, die Dauer der zumutbaren Arbeitsbelastung als auch die Art der noch zumutbaren Bewegungen im Schultergelenk aus. Auf Grund der gutachterlichen Feststellungen von Dr. S und Dr. H sowie den nachvollziehbaren Äußerungen des Klägers im Verhandlungstermin vom 28. Juli 2021 ist die Kammer davon überzeugt, dass der Kläger nur noch mit geringen Anteilen der täglichen Arbeitszeit körperlich schwere und auch nur noch deutlich begrenzt körperlich mittelschwere Tätigkeit verrichten kann, da ein höherer Anteil dieser Arbeiten zu einer Zunahme der Beschwerdesymptomatik führt. Der Kläger kann arbeitstäglich auch nur selten Arbeiten verrichten, bei denen er den linken Arm über die Horizontalebene von 90 Grad anheben muss, da es hierdurch zu einer zusätzlichen Einengung des ohnehin gestörten venösen Abflusses im Bereich des linken Armes kommt. Ganz besonders macht sich dieses bei Überkopfarbeiten bemerkbar, die der Kläger nach wenigen Minuten abbrechen muss. Der Kläger ist auch in der zeitlichen Dauer seiner Belastbarkeit für körperliche Tätigkeiten eingeschränkt. So trägt der Kläger unter Berücksichtigung der gutachterlichen Äußerungen glaubhaft vor, dass die Kraft im linken Arm im Verlauf des Arbeitstages nachlässt und er den Kompressionsstrumpf nicht über einen ganzen Arbeitstag tragen kann, da er das Gefühl entwickelt, als würde ihm der Arm abgeschnürt. Der Kläger hat weiterhin tatsächlich einen zusätzlichen Pausenbedarf von etwa 10 Minuten pro Stunden, damit er seine Arbeit als Elektrohelfer verrichten kann. Diese Einschränkungen bestehen, obwohl der Kläger zwei mal wöchentlich durch Lymphdrainage behandelt wird. Weitere Möglichkeiten, dem unfallbedingten Lymphödem und dessen Folgen zu begegnen und damit seine Erwerbsfähigkeit zu sichern, hat der Kläger nach den Ausführungen des Gutachters Dr. S nicht. Insofern ist er diesbezüglich sogar schlechter gestellt als eine Person mit einem chronischen Lymphödem im Bereich eines Beines auf Grund venöser Durchflusstörungen, da diese ihr Bein durch Hochlagerung oder Muskelpumpe entlasten kann.
Die Kammer schätzt daher die unfallbedingte MdE des Klägers in Anschluss an die Gutachter Dr. S und Dr. H auf 20 von Hundert. Ausschlaggebend hierfür sind die Einschränkungen des Klägers bezüglich Arbeitsschwere, Arbeitsdauer, der zusätzliche Pausenbedarf, der noch zumutbaren Körperhaltungen wie auch der stark einschränkten Therapiemöglichkeiten zur Sicherung beziehungsweise Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers. Diese Entscheidung ist auch in Bezug auf Personen, die in der Beweglichkeit der unfallverletzten Schulter stärker eingeschränkt sind als der Kläger zu rechtfertigen. Das deutlich bessere Bewegungsausmaß des Klägers wird dadurch relativiert, dass Arbeiten unter Heben des linken Armes über die Horizontale zwar grundsätzlich möglich, auf Grund der hierdurch herbeigeführten Verschlimmerung der venösen Stauung im Bereich der linken Schulter und des linken Armes aber kontraindiziert und in größerem zeitlichem Umfang auch nicht zumutbar sind. Hinzu treten bei dem Kläger ein verletzungsbedingtes Nachlassen der Kraft im Verlauf des Arbeitstages und ein häufiger zusätzlicher Pausenbedarf, was nach Einschätzung der Kammer nicht in den Erfahrungswerten für orthopädisch bedingte Einschränkungen der Schulterbeweglichkeit erfasst ist.
Der Nachweis für das Vorhandensein eines therapiebedürftigen Lymphödems im Bereich der linken Schulter und des linken Arms, das zur Überzeugung der Kammer bereits ab diesem Zeitpunkt auf den unfallbedingten Verschluss der Schlüsselbeinvene zurückzuführen ist, ist ab dem 1. März 2010 geführt. Ab diesem Zeitpunkt ist der MdE – Einschätzung von Dr. S bezüglich einer MdE von 20 von Hundert zu folgen.
Nicht gefolgt werden kann hingegen der MdE – Einschätzung ab dem 23. Februar 2008. Der behandelnde Durchgangsarzt hatte den Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit des Klägers für dessen körperlich fordernde Tätigkeit festgestellt und die MdE bei geringen Bewegungseinschränkungen der linken Schulter auf null von Hundert eingeschätzt. Dass der Kläger auf Grund des verbliebenen Osteosynthesematerials beziehungsweise nach dessen Entfernung noch in der Belastbarkeit der Schulter bezüglich der Arbeitsschwere noch etwa bis März 2009 einschränkt, war, ist nachvollziehbar, begründet zur Überzeugung der Kammer aber keine MdE von 20 von Hundert. Auch bezüglich der nach den Ausführungen von Dr. S ab März 2009 führenden Problematik der behandlungsbedürftigen keloidartigen Narbenfehlbildungen, fehlt es sowohl an einschlägigen Erfahrungswerten wie an nachvollziehbaren unfallbedingten Funktionsstörungen, welche eine rentenberechtigende MdE begründen könnten. Insofern war die Klage abzuweisen.
2.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Hauptsacheverfahrens.