Gericht | VG Cottbus 8. Kammer | Entscheidungsdatum | 06.10.2021 | |
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Aktenzeichen | 8 L 290/21 | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2021:1006.8L290.21.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 1 Abs 2 KitaG BB, § 123 Abs 1 S 2 VwGO, § 24 Abs 3 SGB 8, § 65 Abs 2 VwGO |
1. Der Antrag des Antragsgegners, die Gemeinde S... beizuladen, wird abgelehnt.
2. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren einen wohnortnahen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung mit einer Betreuungszeit von täglich sechs Stunden binnen drei Wochen nach Zustellung dieser Entscheidung nachzuweisen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt der Antragsgegner.
1. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist vorliegend die Gemeinde S... nicht notwendig beizuladen.
Notwendig beizuladen sind Dritte nach § 65 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) dann, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, dass die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich - nicht jedoch notwendig auch im gleichen Sinn - ergehen kann. Diese Voraussetzung liegt nur vor, wenn die begehrte Sachentscheidung des Gerichts nicht wirksam getroffen werden kann, ohne dass dadurch gleichzeitig unmittelbar und zwangsläufig Rechte des Beizuladenden betroffen, das heißt seine Rechte gestaltet, bestätigt oder festgestellt, verändert oder aufgehoben werden, sodass aus Rechtsgründen die Entscheidung den Hauptbetroffenen und dem Beigeladenen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Wann dies der Fall ist, ergibt sich aus dem materiellen Recht (vgl. Schenke in: Kopp / Schenke, VwGO Kommentar, 26. Auflage, 2020, § 65 Rn. 14 ff.).
Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht gegeben. Die von dem Antragsteller begehrte Sachentscheidung des Gerichts, namentlich die Verpflichtung des Antragsgegners zum Nachweis eines wohnortnahen Betreuungsplatzes, führt nicht dazu, dass in Rechte der Gemeinde S... eingegriffen wird.
Anders als beispielsweise im Fall von Verpflichtungsklagen auf Erlass sog. mehrstufiger Verwaltungsakte hat vorliegend zwar die Gemeinde S... aufgrund der Aufgabenübertragung gemäß § 12 Abs. 1 Satz 2 des Kindertagesstättengesetzes (KitaG) in Verbindung mit dem zwischen ihr und dem Antragsgegner als zuständigem Träger der öffentlichen Jugendhilfe geschlossenen öffentlich-rechtlichen Vertrages vom 10. November 2017 die Kompetenz auf ihrem Gebiet über den von dem Antragsteller geltend gemachten Anspruch eigenständig und unabhängig von der Zustimmung oder ähnlichen Mitwirkungshandlungen des Antragsgegners zu entscheiden und den entsprechenden Verwaltungsakt zu erlassen (vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin–Brandenburg, Beschluss vom 28. August 2017 – OVG 6 S 30.17- juris Rn. 8). Da der Landkreis aber weiterhin die Gesamtverantwortung für die Kindertagesbetreuung behalten hat, ist er auch weiterhin verpflichtet, einen ihm gegenüber geltend gemachten Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz zu erfüllen, ohne dass die Aufgabenübertragung auf die Gemeinde durch den öffentlich-rechtlichen Vertrag dieser Mitwirkungsrechte o. ä. einräumen würde, mit der Folge, dass solche durch eine entsprechende gerichtliche Verpflichtung des Antragsgegners auch nicht berührt sein können.
Da die Entscheidung aus Rechtsgründen nur als notwendig einheitliche Entscheidung möglich sein muss, ist es für die Annahme einer notwendigen Beiladung nicht ausreichend, wenn eine einheitliche Entscheidung nur angesichts der tatsächlichen Verhältnisse des Falls oder logisch notwendig erscheint (vgl. Schenke in: Kopp/ Schenke, VwGO Kommentar, 26. Auflage, 2020, § 65 Rn. 15).
2. Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig bis zu einer Entscheidung im Hauptsachverfahren einen wohnortnahen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung mit einer Betreuungszeit von täglich sechs Stunden nachzuweisen,
hat Erfolg.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der von einem Antragsteller geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, also eine besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) sind von ihm glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung. Erstrebt ein Antragsteller – wie hier – eine der Funktion des vorläufigen Rechtsschutzes grundsätzlich widersprechende teilweise oder gänzliche Vorwegnahme der Entscheidung der Hauptsache, kommt eine einstweilige Anordnung dabei nur ausnahmsweise in Betracht, wenn nämlich das Begehren in der Hauptsache schon auf Grund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes anzustellenden summarischen Prüfung des Sachverhaltes mit größter Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird und dem Antragsteller ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schlechthin unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstünden (vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Juni 2010 – 4 S 98.09 -, juris Rn. 17 ff.; Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 25. Juli 2012 – 1 M 65/12 -, juris Rn. 3).
Hier hat der Antragsteller das Vorliegen eines Anordnungsanspruches hinreichend glaubhaft gemacht.
Der am 20. April 2018 geborene Antragsteller mit Wohnsitz in der Gemeinde S... hat gegen den Antragsgegner aus § 24 Abs. 3 Satz 1 des Achten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VIII) i. V. m. § 1 Abs. 2 Satz 1 KitaG einen Anspruch auf Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer wohnortnahen Tageseinrichtung, der nicht bereits mit dem Platz in der von dem Antragsteller derzeit besuchten Kindertagesstätte der F... erfüllt ist.
Nach § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII i. V. m. § 1 Abs. 4 Satz 1 KitaG sollen Art und Umfang der Erfüllung des Anspruchs dem Bedarf des Kindes entsprechen. Ein im Sinne dieser Vorschriften bedarfsgerechter Betreuungsplatz bezieht sich nicht nur auf die Betreuungsform, den Umfang und die Lage der Betreuungszeiten, sondern er muss auch in zumutbarer Zeit erreichbar sein (vgl. Verwaltungsgericht München, Urteil vom 18. September 2013 – M 18 K 13.2256 –, juris Rn. 63, Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 22. Juli 2016 – 12 BV 15.719 –, juris Rn. 46; Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26. Oktober 2017 – 5 C 19.16 –, juris Rn. 41).
Den Rechtanspruch des Antragstellers auf Erziehung, Bildung, Betreuung und Versorgung im Umfang von 6 Stunden täglich ab dem 1. Juni 2021 hat die Gemeinde S... mit Bescheid vom 28. Mai 2021 antragsgemäß festgestellt. Dies steht zwischen den Beteiligten nicht im Streit. Unstreitig ist auch, dass die von dem Antragsteller besuchte Kindertageseinrichtung den bescheinigten Betreuungsbedarf in zeitlicher Hinsicht abdeckt.
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist diese Kindertageseinrichtung für den Antragsteller jedoch nicht in zumutbarer Zeit erreichbar.
Zu der Frage, wann ein Weg zu bzw. von einer Betreuungseinrichtung als zumutbar angesehen werden kann, sind in der Rechtsprechung und Kommentarliteratur folgende Maßstäbe herausgebildet worden:
In der Regel ist von der am nächsten gelegenen Einrichtung am Wohnort des Kindes auszugehen. Wünschenswert ist eine fußläufige Erreichbarkeit, allerdings ist es den Kindern und ihren Eltern regelmäßig zumutbar, für den Weg zur Kindertageseinrichtung öffentliche Verkehrsmittel bzw. ihren bereits vorhandenen privaten PKW zu benutzen. Welche Entfernung zwischen Wohnort und Tagesstätte noch zumutbar ist, lässt sich nicht abstrakt-generell im Wege starrer zeitlicher oder räumlicher Grenzen festlegen, sodass die in der Rechtsprechung für die Frage der Wohnortnähe teilweise angenommene Höchstgrenze von 30 bzw. 20 Minuten für einen kombinierten Fuß- und Busweg lediglich ein Richtwert sein kann. Vielmehr ist eine Prüfung der Zumutbarkeit in jedem konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung der jeweiligen örtlichen, aber auch Eltern-Kind-bezogenen Umstände erforderlich. So ist einerseits die Zumutbarkeit für das Kind selbst und andererseits auch der Zeitaufwand für den begleitenden Elternteil zu berücksichtigen. Einzubeziehen sind dabei auch die Entfernung zur Arbeitsstätte und der damit verbundene gesamte zeitliche Aufwand für die Eltern bzw. den nach Absprache primär betreuenden Elternteil. Insofern kann nach den Umständen des konkreten Einzelfalls auch ein Betreuungsplatz, der nicht in Wohnortnähe, dafür aber auf dem Weg zur Arbeitsstätte der Eltern bzw. eines Elternteils liegt, zumutbar und damit bedarfsgerecht sein (vgl. Oberverwaltungsgericht Münster, Beschluss vom 14. August 2013 – 12 B 793/13 –, juris Rn. 17 u. 19; Verwaltungsgericht München, Urteil vom 18. September 2013 – M 18 K 13.2256 –, juris Rn. 64 ff.; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 22. Juli 2016 – 12 BV 15.719 –, juris Rn. 47 ff.; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 04. Februar 2021 – 6 S 58/20 –, juris Rn. 4).
Die Kindertageseinrichtung in Berlin ist für den Antragsteller unter dem Gesichtspunkt der Wohnortnähe nicht in zumutbarer Zeit zu erreichen, mithin nicht bedarfsgerecht.
Für den Weg von der A... gelegenen Wohnung des Antragstellers und seiner Eltern zur Kindertagesstätte in der R... stehen morgens mit dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) Verbindungen mit einer Fahrtzeit von 46 bzw. 51 Minuten zur Verfügung, für den Rückweg am Nachmittag eine Verbindung mit einer Fahrtzeit von 56 Minuten, sodass der Orientierungswert für die zeitliche Zumutbarkeitsgrenze von 30 Minuten auf den Hinwegen um regelmäßig 16 bis 21 Minuten und auf den Rückwegen regelmäßig um 26 Minuten, mithin jedenfalls insoweit erheblich überschritten ist. Die Kammer stützt sich hinsichtlich der Fahrtzeiten auf das Ergebnis der Suchfunktion „Routenplaner & Fahrplanauskunft des ÖPNV Berlin-Brandenburg“ der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Mit dem privaten PKW beträgt die Fahrtzeit nach Angaben des Antragstellers circa 45 Minuten, laut Google Maps je nach Uhrzeit und Verkehrslage zwischen 35 und 75 Minuten pro Strecke, wobei aufgrund der gerichtsbekannten örtlichen Verkehrssituation zu den Zeiten des Berufsverkehrs am Morgen stadtein- und am Nachmittag stadtauswärts insbesondere im Hinblick auf die regelmäßige Belastung der in Betracht kommenden Strecken mit Staus eine durchschnittliche Fahrtzeit von 60 Minuten realistisch erscheint.
Gemessen an den oben dargestellten Maßstäben zur zumutbaren Erreichbarkeit einer Kindertagesstätte ist die von dem Antragsteller besuchte Kindertageseinrichtung ungeachtet des Umstandes, dass sie auf dem Arbeitsweg des Vaters liegt, damit jedenfalls für den Antragsteller selbst nicht in zumutbarer Zeit zu erreichen. Insoweit ist vorliegend vielmehr maßgeblich einzustellen, dass eine tägliche Fahrtzeit mit dem ÖPNV von insgesamt 102 Minuten (ausgehend von einem Hinweg von 46 und einem Rückweg von 56 Minuten) in einen Innenstadtbezirk Berlins einschließlich eines einmaligen Umsteigens pro Strecke für ein dreieinhalbjähriges Kind sowohl im Hinblick auf die Länge der Zeit als auch die gerade ein Kleinkind überdurchschnittlich fordernden Rahmenbedingungen in Bussen und Bahnen während der Hauptverkehrszeiten (etwa dichtes Gedränge, mangelnde freie Sitzplätze und eine vielfältige Geräuschkulisse) grundsätzlich eine erhebliche, die Grenzen der Zumutbarkeit überschreitende Belastung darstellt.
Auch die Alternativbetrachtung der Fahrt mit dem Auto zur Kita bzw. zur Arbeitsstätte führt vorliegend nicht zu einer anderen Einschätzung. Zwar muss berücksichtigt werden, dass auch eine Autofahrt von mehr als 30 Minuten für ein Kind im Alter des Antragstellers nicht generell als unzumutbar angesehen werden kann. Vorliegend ist jedoch zu beachten, dass es sich - wie oben bereits ausgeführt – bei den hier zurückzulegenden Strecken um solche mit einer sehr hohen Verkehrsauslastung handelt, auf denen zu den Zeiten des Berufsverkehrs Staus und stockender Verkehr die Regel darstellen. Die daraus regelmäßig resultierenden Fahrtzeiten im Bereich von ca. einer Stunde pro Strecke sind einem Kind im Alter des Antragstellers nicht täglich zumutbar.
Dem Antragsteller steht auch ein Anordnungsgrund zur Seite. Er hat hinreichend glaubhaft gemacht, aufgrund seines Rechtsanspruchs auf bedarfsgerechte Frühförderung auf den begehrten Betreuungsplatz angewiesen zu sein.
Die Kammer hält es in Ausübung des ihr nach § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 938 Abs. 1 ZPO eingeräumten Ermessens für sachgerecht, dem Antragsgegner eine Umsetzungsfrist einzuräumen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.