Gericht | VG Cottbus 1. Kammer | Entscheidungsdatum | 23.09.2021 | |
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Aktenzeichen | 1 K 705/21.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2021:0923.1K705.21.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 3 AsylVfG 1992, § 3a AsylVfG 1992, § 3e AsylVfG 1992 |
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung für die Beklagte vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des vollstreckbaren Betrags abwenden, soweit nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Kläger zu 1. (im Folgenden: der Kläger) und die Klägerin zu 2. (im Folgenden: die Klägerin) wurden am 15. Oktober 1986 und 11. Januar 1986, ihre Kinder, die Kläger zu 3. – 5., am 30. Oktober 2007, 16. September 2010 und 15. Februar 2013, in Dashne-Wedeno, einem Dorf südöstlich von Grozny, geboren. Sie sind Staatsbürger der Russischen Föderation tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Die Kläger verließen die Russische Föderation nach eigenen Angaben am 17. Oktober 2014 und reisten am 21. Oktober 2014 über Inguschetien auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein.
Auf den Asylantrag vom 21. November 2014 hörte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend vereinfachend: das Bundesamt) die Eheleute am 24. November 2014 zur Klärung der Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland an. Die Kläger legten eine am 07. Mai 2014 als Zweitschrift ausgestellte Heiratsurkunde über ihre Eheschließung vom 19. Februar 2007, Inlandspässe und Geburtsurkunden ihrer Kinder vor und nahmen im Wesentlichen zu ihrem Reiseweg Stellung; auf die Einzelheiten ihrer Angaben wird Bezug genommen.
Am 12. Februar 2015 wurden die Kläger durch das Bundesamt zu ihren Asylgründen befragt. Die Kläger legten ein Dokument vom 10. Oktober 2014 vor, bei dem es sich der auszugsweisen Übersetzung aus der russischen Sprache nach um eine Vorladung eines Oberleutnants der Polizei Wedeno zur Befragung des Klägers als Zeugen am 11. Oktober 2014, 18:00 Uhr, handelt.
Der Kläger erklärte im Wesentlichen:
Ihm sei etwa ein halbes Jahr vor Ausreise der Familie in Grozny ein Reisepass ausgestellt worden. Seine Eltern lebten weiterhin unter der von ihm angegebenen Adresse in dem Dorf, sein Bruder lebe in Grozny; des Weiteren gebe es in Tschetschenien Onkel väter- und mütterlicherseits.
Er habe bis zur 11. Klasse die Schule in Wedeno besucht und auf einer Baustelle im Innenbau gearbeitet, später habe er einen kleinen Möbelbaubetrieb gegründet, der zwar noch nicht „offiziell eröffnet“ gewesen sei, aber „funktioniert“ habe. Seine finanzielle Situation sei jedoch schlecht gewesen. Bei einer offiziellen Eröffnung werde Schutzgeld erpresst; er habe jemanden gefunden, der ihn für weniger Geld habe „schützen“ wollen. Dem Schleuser habe er 10.000,00 € bezahlt, die er von Verwandten erhalten habe.
In seinem Heimatland habe er sich weder politisch betätigt noch habe er Wehrdienst geleistet. Auf die Frage, ob er dort Kontakt mit einem Gericht gehabt habe, erklärte der Kläger: Im Jahr 2008 sei ein Freund von ihm festgenommen und gezwungen worden, „andere zu benennen, die geholfen haben, damit er freikommt“. Der Freund habe ihn, den Kläger, und seine 2 Brüder benannt und sie seien von zu Hause mitgenommen und geschlagen worden. Sie hätten zugeben sollen, sich den Kämpfern in den Bergen anschließen zu wollen. Nachdem er sich zunächst geweigert habe, habe er das nach Schlägen zugegeben. Danach habe er „immer wieder Probleme gehabt“ und sei festgenommen worden. Bei seiner Entlassung sei ihm mitgeteilt worden, er lebe ein Jahr auf Bewährung und dürfe nicht wegfahren. Er sei, immer von neuen Beamten, von zu Hause festgenommen oder zur Polizei bestellt worden. Er habe sich bei „der Menschenrechtsorganisation“ beschwert, die jedoch nichts für ihn habe tun können. Ein Cousin von ihm sei in Syrien und dessen jüngerer Bruder sei ebenfalls behelligt worden; diesem sei „Gras“ untergeschoben worden.
Dann sei die von ihm überreichte Vorladung gekommen. Er habe sich gefragt, warum ihm ein Termin am Wochenende und zu dieser späten Uhrzeit benannt worden sei. Es sei ihm klar gewesen, dass er nicht in Ruhe gelassen werde und er sei „untergetaucht“. Er habe einen Schleuser gefunden, der ihn mit einem Fahrzeug außer Landes gebracht habe. Auf dem von ihm vorgelegten Röntgenbild sei ein Knochenbruch der linken Hand zu sehen; er habe sagen sollen „dass das auf der Arbeit passiert sei“. Als er die Vorladung erhalten habe, sei sein Sohn zur stationären Behandlung in Grozny gewesen. Er habe dem Arzt gesagt, dass er seinen Sohn mit nach Hause nehme und sie seien dann ausgereist.
Auf Nachfragen erklärte der Kläger im Wesentlichen:
Das erste Mal sei er 2008 festgenommen worden und er glaube, das sei im Herbst gewesen. Er habe eine Nacht in dem Dorf Zozi-Yurt verbracht und sei dann nach Wedeno gebracht worden, wo er „das“ zugegeben habe. Die örtliche Polizei sei aus dem Raum gegangen und „die anderen“ seien dann reingekommen. Er habe das unterschrieben und zugegeben. Er habe vor laufender Kamera in Form eines Interviews berichten und Reue zeigen müssen. Sein älterer Bruder habe die Russische Föderation etwa 1 Jahr vor ihm verlassen. Er habe natürlich nicht vorgehabt, sich den Kämpfern anzuschließen. Nach Erhalt der Vorladung habe er sich bei einem Freund in Grozny, etwa 6 Tage oder eine Woche, aufgehalten. In dieser Zeit sei er zwischen Grozny und seinem Heimatdorf „hin und her gependelt“. Zu Hause sei nach ihm von Polizisten gefragt worden. Zuvor sei aber immer wieder der Abschnittsbevollmächtigte gekommen; dieser habe ihn gedrängt, zur Polizei zu gehen, den Grund hierfür habe er allerdings nicht benannt. Er habe Probleme mit der Polizei gehabt aber auch mit der „6. Abteilung“ und dem „2. Regiment“; diese seien „viel schlimmer“. Genau könne er nicht sagen, mit wem er Probleme gehabt habe. Er sei seit 2008 ein bis zwei Mal im Monat vorgeladen worden. Früher hätten sie stark zugeschlagen, in „letzter Zeit“ jedoch mit Strom gefoltert, eine Tüte über den Kopf gezogen oder „andere schlimme Sachen gemacht“. Er schäme sich, das vor der Dolmetscherin vorzutragen. Es seien jedes Mal andere Fahrzeuge mit anderen Nummern gewesen. Als Werkzeug bei dieser Aktion sei ein Schlagstock oder Gummiknüppel benutzt worden. Als er die Vorladung bekommen habe, habe er gewusst, dass er wieder gezwungen werden sollte, zu unterschreiben. Zuvor habe er gehofft, es werde sich beruhigen. Er sei nicht im Rahmen jeder Vorladung gefoltert, aber immer befragt und geohrfeigt worden. 2012 sei er mit dem Gummiknüppel geschlagen worden, sodass es zu dem Knochenbruch gekommen sei, von dem er nicht habe berichten dürfen. Den Pass habe er „über Dritte, über Connection“ erhalten und man „zahle dann noch etwas drauf“. Sie hätten ihm gesagt, sie würde ihn überall finden, sodass er nicht in andere Teile der Russischen Föderation habe umziehen können. 2014 sei er ausgereist, weil seine Geduld am Ende gewesen sei. Sie hätten gedroht, seine Frau zu vergewaltigen und seinen Kindern etwas anzutun. Er sei „ca. im September“ das letzte Mal mitgenommen worden. Ein Mann habe sich ständig unter anderem Vornamen vorgestellt.
Der Kläger wurde von dem Bundesamt im Zuge der Nachfragen aufgefordert, innerhalb von zwei Wochen seine Schilderung hinsichtlich der Folter „genauestens“ darzustellen, oder aber, sollte er die Frist nicht einhalten können, Hinderungsgründe mitzuteilen. Der Kläger legte noch im Verlauf der Anhörung schriftlich nieder, ihm sei „in den After ein Schlagstock gesteckt worden, 2008, 2012“.
Die Klägerin erklärte im Wesentlichen:
Sie sei zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern ausgereist, weil sie Angst um ihren Mann gehabt habe. Der Bruder eines Cousins ihres Mannes – dieser sei nach Syrien gegangen – sei festgenommen worden. Nachdem der Cousin festgenommen worden sei, sei ihr Mann behelligt worden. Das müsse im August oder September 2014 gewesen sein. Das erste Mal sei ihr Mann im Jahr 2008 mitgenommen worden. Bis 2014 sei er 2 - 3 Mal mitgenommen worden. Er sei nicht vorgeladen worden.
Anschließend erklärte die Klägerin im Wesentlichen:
Ihr Mann sei 2008 3 Mal mitgenommen worden und bis 2014 „oft“. Er habe sich auch selber melden müssen und bis zu seiner Ausreise hätten sie 2 Vorladungen erhalten, bei dem zweiten Mal sei ihnen eine Kopie ausgehändigt worden. Den Zeitpunkt der 1. Vorladung könne sie nicht benennen. Es sei der Familie finanziell unmöglich gewesen, früher auszureisen. Nach der Festnahme der drei Brüder habe die Schwiegermutter zusammen mit dem Abschnittsbevollmächtigten dafür gesorgt, dass das Verfahren gegen eine Geldzahlung eingestellt worden sei. Bei einer Festnahme von ihm sei auch sie geschlagen worden und habe eine Gehirnerschütterung erlitten. Ihrem Mann sei gedroht worden, dass sie vergewaltigt werde. Die Gehirnerschütterung habe sie 2010 erlitten, die Androhung ihrer Vergewaltigung sei, so habe es ihr Mann gesagt, im Jahr 2008 erfolgt.
Das Bundesamt lehnte es mit Bescheid vom 07. November 2016 ab, die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und lehnte die Asylanträge ab (dort Ziffer 1. bis 3.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorlägen (Ziffer 4.) und forderte die Kläger unter Androhung ihrer Abschiebung im Wesentlichen in die Russische Föderation auf, die Bundesrepublik Deutschland binnen der bezeichneten Frist zu verlassen (Ziffer 5.). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG befristete das Bundesamt auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6.).
Zur Begründung heißt es im Wesentlichen: Die Voraussetzung des Flüchtlingsschutzes lägen nicht vor. Hätte dem Kläger tatsächlich seit Herbst 2008 die landesweite Verfolgung gedroht, dann wäre er aller Lebenserfahrung nach nicht erst im Oktober 2014 ausgereist. Das gelte insbesondere angesichts der seiner Ehefrau angedrohten Vergewaltigung. Die fehlende Verfolgungsfurcht ergebe sich auch daraus, dass er zwischen dem Freund und seiner Familie gependelt sei und bis zu seiner Ausreise in der Möbelfirma gearbeitet habe. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die Vorladung als Zeuge die Verfolgungsfurcht begründen solle. Bei einem staatlichen Interesse an der Person des Klägers hätte man ihn nicht gehen lassen und auch die Ausstellung des Reisepasses deute auf ein fehlendes landesweites Interesse. Im Übrigen stünde den Klägern in anderen Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.
Die Kläger haben am 09. November 2016 vor dem Verwaltungsgericht Berlin Klage erhoben (VG 33 K 475/16.A). Das Verwaltungsgericht Berlin hat sich mit Beschluss vom 04. Juni 2021 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Cottbus verwiesen.
Die Kläger haben den Rechtsbehelf im Wesentlichen wie folgt begründet:
Ihnen sei die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Kläger habe die Frage, warum die Familie nicht bereits 2008 ausgereist sei, in der Anhörung vor dem Bundesamt nachvollziehbar beantwortet. Die Ausführungen des Bundesamtes zu der Vorladung seien angreifbar, weil eine rein formale Stellung als Zeuge, auch in Deutschland, über die wirkliche Bedrohung nichts aussage. Ein Termin zur Vorladung um 18:00 Uhr sei auch in Deutschland „kein gutes Zeichen“. Es sei daher nachvollziehbar, dass sich der Kläger wegen der Vorladung große Sorgen gemacht habe. Auch die Beantragung des Reisepasses habe er in der Anhörung schlüssig erklärt und es sei nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen das Pendeln zwischen dem Freund und seiner Familie eine fehlende Verfolgungsfurcht belege. Der Kläger habe nicht ausgesagt, dass er bis zu seiner Ausreise in seiner Möbelfirma gearbeitet habe; vielmehr sei dieser bei einem Freund und Grozny und bei seinem Sohn im Krankenhaus gewesen. Auch die geschilderte drohende Vergewaltigung seiner Frau im Jahr 2014 habe eine Rolle bei dem Entschluss zur Ausreise gespielt.
Darüber hinaus legten die Kläger dem Gericht vor:
1. Ein Gutachten des Ausschusses „Bürgerbeistand“ und des Bürgerrechtszentrums „Memorial“ aus Moskau vom 11. Dezember 2016 in russischer Sprache und deutscher Übersetzung, das die Aufgaben und Zielsetzungen der Nichtregierungsorganisationen beschreibt und die Gründe für die Gewährung von Flüchtlingsschutz für die Kläger ausführlich darstellt.
2. Eine „Bestätigung“ des Herrn M... offenbar aus dem März 2017 in russischer Sprache und deutscher Übersetzung.
3. Eine „Bestätigung“ des Herrn A..., ebenfalls offenbar aus dem März 2017 in russischer Sprache und deutscher Übersetzung.
Auf die Einzelheiten der vorbenannten Unterlagen wird Bezug genommen.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 07. November 2016 zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz, zuzuerkennen, hilfsweise die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation festzustellen.
Die Beklagte hat schriftlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Kammer hat den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 02. Juli 2021 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Die Kläger zu 1. und 2. sind in der mündlichen Verhandlung informatorisch befragt worden; insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift, hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und die beigezogenen Ausländerakten Bezug genommen. Sämtliche Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Gerichts.
I. Das Gericht konnte ungeachtet des Ausbleibens eines Vertreters des Bundesamtes in der mündlichen Verhandlung verhandeln und in der Sache entscheiden, weil die Beklagte bei der Ladung hierauf hingewiesen wurde, § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
II. Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Kläger besitzen in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 S. 1 1. Hs. des Asylgesetzes (AsylG), keinen Anspruch, nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt zu bekommen (sogleich unter 1.). Auch ist die Beklagte weder verpflichtet, nach § 4 AsylG subsidiären Schutz zu gewähren (unter 2.) noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 S. 1 AufenthG festzustellen (unter 3.). Der Bescheid des Bundesamtes vom 07. November 2016 hat den Klägern sämtliche Ansprüche rechtmäßig versagt.
1. Dem Hauptantrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist nicht zu entsprechen.
1.1 Nach § 3 Abs. 4 1. Hs. AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist; Flüchtling (im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge – BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist Jemand, der sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Als Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953 [EMRK]) keine Abweichung zulässig ist; gleiches gilt nach § 3 a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie in der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den nach § 3 a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung geltenden Handlungen muss nach § 3 a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Der Verfolger muss dem Ausländer den Verfolgungsgrund, etwa die politische Überzeugung, jedenfalls zuschreiben – ob der Betroffene den ihm von seinem Verfolger zugeschriebenen Verfolgungsgrund tatsächlich erfüllt, ist demgegenüber unerheblich, § 3 b Abs. 2 AsylG.
Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Die Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung erfordert eine umfassende wertende Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen Verhältnisse unter Berücksichtigung der in § 3e Abs. 2 S. 1 AsylG genannten Dimensionen, wobei auch und gerade die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Blick zu nehmen, die der Ausländer am Ort der Niederlassung zu gewärtigen hat.
Die genannten Folgen und Sanktionen müssen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. ausf. BVerwG, Urt. v. 01. Juni 2011 – BVerwG 10 C 25.10 –, juris Rn. 21 ff.). Das ist dann der Fall, wenn bei einer qualifizierenden Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich das qualitative Kriterium der Zumutbarkeit und es ist zu prüfen, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint, was auch dann der Fall sein kann, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung spricht (BVerwG, Urt. v. 05. November 1991 – BVerwG 9 C 118.90 –, juris Rn. 17 m. w. N.). Nach Art 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU) ist die Tatsache, dass der Betroffene bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 18. Februar 2021 – BVerwG 1 C 4.20 –, juris Rn. 15). Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen daher Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (BVerwG, Urt. v. 27. April 2010 – BVerwG 10 C 5.09 –, juris Rn. 23).
Die Frage, ob es einem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung seines Vorbringens unzumutbar ist, in sein Heimatland zurückzukehren, hat das Gericht zumeist allein auf Grund von dessen Angaben unter Berücksichtigung der vorliegenden – und gegebenenfalls im Rahmen einer Beweiserhebung einzuholenden – Stellungnahmen sachverständiger Stellen über die Lage in seinem Herkunftsland zu beurteilen. Es obliegt daher stets ihm, die behaupteten Gründe einer Verfolgung schlüssig und unter Benennung von Einzelheiten vorzutragen, wobei wegen der häufigen Beweisschwierigkeiten allein schon die tatsächliche Angaben des Ausländers zu einem Erfolg seines Begehrens führen können, sofern das Tatsachengericht die nach § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO erforderliche volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht lediglich der Wahrscheinlichkeit – des von ihm behaupteten individuellen Schicksals gewonnen hat (vgl. ausf. BVerwG, Urt. v. 16. April 1985 – BVerwG 9 C 109.84 –, juris Rn. 10). Der richterlichen Überzeugungsbildung von der Wahrheit des Vortrags können allerdings erhebliche Widersprüche im Vorbringen des Schutzsuchenden entgegenstehen, sofern die Unstimmigkeiten nicht überzeugend aufgelöst werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 21. Juli 1989 – BVerwG 9 B 239.89 –, juris); Entsprechendes gilt für den Fall, dass dieser sein Vorbringen im Verlaufe des Verfahrens steigert, ohne in nachvollziehbarer Weise erklären zu können, aus welchen Gründen er maßgebliche Umstände nicht bereits früher erwähnt hat (BVerwG, Urt. v. 08. Februar 1989 – BVerwG 9 C 29.87 –, juris Rn. 9). Welche Anforderungen an die Stimmigkeit des Sachvortrags zu stellen sind, bemisst sich auch nach der Persönlichkeitsstruktur, dem Wissensstand und der Herkunft des Ausländers (OVG f. d. Ld. Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 06. September 2021 – 6 A 139/19.A –, juris Rn. 46).
1.2 Die Kläger haben die Russische Föderation nicht – wie auch vom Bundesamt im Ergebnis zutreffend angenommen – aus begründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG verlassen. Nach ausführlicher informatorischer Anhörung der Kläger zu 1. und 2. in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass ihre Behauptungen; der Kläger sei aus im Wesentlichen politischen Gründen, § 3b Abs.1 Nr. 5 AsylG, festgenommen, misshandelt und bedroht worden, auf Tatsachen beruhen.
Zwar entspricht es einhelliger Auskunftslage, dass die Bekämpfung von Extremisten in der autonomem Republik Tschetschenien mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen auch gefoltert wird, einhergeht und dass die strafrechtliche Verfolgung der bezeichneten Menschenrechtsverletzungen unzureichend ist (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich [BFA] – Länderinformation der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 10. Juni 2021, S. 26).
Das Gericht ist allerdings vorliegend nicht davon überzeugt, dass der Sachvortrag in den für den Anspruch der Kläger maßgeblichen Teilen auf Tatsachen beruht und dass die Familie die Republik Tschetschenien damit wegen der vom Familienvater erlittenen und erneut drohenden Gewalt durch die Sicherheitsorgane verlassen hat.
Der Vortrag zu den behaupteten Geschehnissen des Jahres 2008 ist unglaubhaft.
Zwar hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung über die in der Anhörung vor dem Bundesamt skizzierte grobe Rahmenhandlung – ein Freund von ihm sei 2008 festgenommen worden, dieser habe ihn und seine zwei Brüder benannt, die Brüder seien von zu Hause mitgenommen, und durch Schläge gezwungen worden seien, zuzugeben, dass sie sich „den Kämpfern anschließen“ wollten (dortige Niederschrift, S. 4) – hinausgehend weitere Einzelheiten des behaupteten Geschehens berichtet. Auch seine Schilderung in der informatorischen Anhörung durch das Gericht blieb jedoch insgesamt blass und erweckte – ebenso wie die ausführlichen Anmerkungen des Klägers auf die Frage des Gerichts, ob der Sachbericht einer Berichtigung oder Ergänzung bedürfe – den Eindruck einer zuvor zurecht gelegten Geschichte, die zudem in mehreren wesentlichen Punkten nicht mit den Angaben gegenüber dem Bundesamt korrespondiert: Exemplarisch gilt das für die nachfolgenden Punkte:
So hatte der Kläger in der Anhörung vor dem Bundesamt angegeben, er habe schließlich gestanden, sich Kämpfern anschließen zu wollen, und vor einer Kamera „bereut“ (Niederschrift, S. 4 und S. 5, oben: „Ja. Ich musste dann vor laufender Kamera in Form eines Interviews berichten und Reue zeigen.“), nachdem man ihn „geschlagen“ habe (Niederschrift, S. 4). Auf Nachfragen erklärte er seinerzeit, sie hätten „früher“ stark zugeschlagen, sodass er blaue Flecken gehabt habe, in „letzter Zeit“ – gemeint ist dem Sinnzusammenhang nach eine nicht konkret benannte Zeitspanne vor Ausreise der Familie im Oktober 2014 – hätten sie ihn aber auch „mit Strom gefoltert“ bzw. eine Tüte über den Kopf gezogen oder „andere schlimme Sachen“ gemacht (Niederschrift, S. 6). In der auf Aufforderung des Bundesamtes vorgelegten schriftlichen Darstellung der Folter erklärte der Kläger sinngemäß, er sei 2008 und 2012 mit einem Schlagstock vergewaltigt worden.
Darüber hinaus gab der Kläger in der behördlichen Anhörung an, der zuvor festgenommene Freund sei 2008 durch Schläge gezwungen worden, seinen, des Klägers, Namen zu nennen und der Freund habe ihn aufgefordert, das Gewünschte zuzugeben („Zuvor wurde mir der festgenommene Freund gegenübergestellt und er gab zu, dass er durch Schläge gezwungen war, meinen Namen zu nennen. Er meinte ich soll es auch zugeben. Ich habe es auch zugegeben.“ – Niederschrift, S. 4).
In der informatorischen Befragung durch das Gericht stellte der Kläger die Geschehnisse in mehreren Punkten – so insbesondere auch zu der Art der Misshandlungen – abweichend dar:
Der Kläger berichtete zwar auch davon, (mit einem Gummiknüppel) geschlagen worden zu sein, erwähnte in diesem Zusammenhang aber auch ein „Armee-Telefon mit einer Kurbel an der Seite“, mit dem man seine Finger unter Strom gesetzt habe („Das ist eine furchtbare Folter mit Stromschlägen. Wenn man aufwachte, hatte man eine Tüte über den Kopf gestülpt…“ – Niederschrift, S. 11/12). Von einer Folterung mit Strom war, was die Ereignisse des Jahres 2008 angeht, in der Anhörung vor dem Bundesamt jedoch nicht die Rede, und die dort schriftlich behauptete Vergewaltigung mit einem Gummiknüppel wurde dem Kläger seiner Aussage dem Gericht gegenüber lediglich angedroht (Niederschrift, S. 12).
Zudem war in der informatorischen Befragung durch das Gericht nicht mehr von einer sprachlichen Kontaktaufnahme zwischen dem Kläger und seinem „Freund“, sondern einem lediglich visuellen Wahrnehmen von dessen Verletzungen die Rede: Er, der Kläger, habe aus der Ferne gesehen, dass dessen Körper „schwarz und blau zerschlagen“ gewesen sei, nachdem dieser – aus welchen Gründen auch immer – seine Kleidung abgelegt habe, und der Freund habe auch „Spuren von Folterung mit Strom an den Fingern“ gehabt. Zudem hat der Kläger behauptet, sein Freund habe zugegeben, sich den Kämpfern anschließen zu wollen, „nachdem er mit Gummiknüppeln vergewaltigt wurde“. Woher der Kläger von der vermeintlichen Vergewaltigung seines Freundes erfahren haben will, erwähnte der Kläger gegenüber dem Gericht ebenso wenig wie sein mehrfach gegenüber dem Bundesamt behauptetes Geständnis „vor laufender Kamera“.
Auch in zeitlicher Hinsicht differieren die Darstellungen des Klägers zu den Geschehnissen des Jahres 2008 in der Anhörung vor dem Bundesamt und gegenüber dem Gericht:
Nachdem der Kläger auf Nachfrage gegenüber der Behörde noch angegeben hatte, er habe „eine Nacht“ in der Gewalt der Sicherheitsorgane verbracht und sei anschließend nach Wedeno gebracht worden, wo er sein Geständnis habe unterschreiben müssen (Niederschrift, S. 5), behauptete er gegenüber dem Gericht, er habe sich wesentlich länger in deren Gewalt befunden (Niederschrift S. 12: „Ich habe die Nacht und den Tag dort verbracht“ und „Die zweite Nacht haben wir auch dort zurückbringen müssen. Sie haben weitergeprügelt und sind betrunken reingekommen und je nach Stimmung haben Sie drauflos geprügelt. Dann hat man uns zurück ins Dorf gebracht, zu unserer Polizeistelle in unserem Dorf und wir haben dann unterschrieben, dass wir uns den Kämpfern anschließen wollten.“).
Der Vortrag der Kläger zu den weiteren Geschehnissen vor ihrer Ausreise ist in wesentlichen Punkten ebenfalls widersprüchlich.
So ist die Behauptung des Klägers, er sei 2012 festgenommen und so geschlagen worden, dass er einen Knochenbruch der Hand erlitten habe, bereits den Angaben der Klägerin nach unglaubhaft.
Der Kläger hatte in der Anhörung vor dem Bundesamt ein Röntgenbild von einem Knochenbruch der linken Hand vorgelegt und behauptet, er sei von tschetschenischen Stellen veranlasst worden zu sagen, „dass das auf der Arbeit passiert ist (Niederschrift, S. 4, unten); im weiteren Verlauf der Anhörung durch das Bundesamt fügte er erläuternd hinzu, ein Schlag mit dem Gummiknüppel habe den Knochenbruch am Gelenk zur Folge gehabt (Niederschrift, S. 7, Mitte). Entsprechend hat sich der Kläger noch auf die einleitende Frage des Gerichts, ob der Sachbericht einer Berichtigung oder Ergänzung bedürfe, eingelassen (Niederschrift, S. 2: „2012 wurde ich wieder festgenommen und geschlagen. Die Röntgenaufnahme habe ich auch vorgelegt.“).
Demgegenüber hat die Klägerin auf die Frage des Gerichts, ob ihr Mann bei der Festnahme 2012 Verletzungen erlitten habe, ausgeführt, der Bruch der Hand sei darauf zurückzuführen gewesen, dass ihr Mann „auf den Hof geschmissen“ worden sei (Niederschrift, S. 5: „Also ich wusste ja nicht, dass er festgenommen wurde. Als man ihn zurückbrachte, hat man ihn auf den Hof geschmissen und dadurch kam auch der Bruch zustande. Ich war schwanger zu der Zeit. Ich habe mich sehr erschrocken und sein Cousin kam zu Hilfe. Mein Mann stand unter Schock und mein Cousin hat ihn ins Krankenhaus gebracht.“).
Entsprechendes gilt für die Behauptung beider Kläger, der Klägerin sei angedroht worden, sie zu vergewaltigen.
Insoweit differiert bereits der Vortrag der Kläger in der Anhörung durch das Bundesamt, ohne dass der angefochtene Bescheid hierauf allerdings tragend abstellt. So hat der Kläger auf die Frage nach dem Ausreisegrund unter anderem die Drohung einer Vergewaltigung seiner Ehefrau angeführt und auf Nachfrage erklärt, er habe die Drohung „zuletzt“, auf weitere Nachfrage, „ca. im September“ (des Jahres 2014) von einem Mann, „der sich ständig unter einem anderen Vornamen vorgestellt hat“ und mal so und mal so geheißen habe, erhalten (Niederschrift, S. 8, Mitte). Auf Nachfrage, ob er die Drohung hinsichtlich seiner Frau und seiner Kinder nochmals erhalten habe oder ob das das einzige Mal gewesen sei, erklärte der Kläger unbestimmt, danach „nicht mehr“, es habe allerdings „verschiedene Drohungen“ gegeben (Niederschrift S. 8, unten).
Die Klägerin hat in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt demgegenüber auf die Frage, wann ihrem Mann angedroht worden sei, sie werde vergewaltigt, erklärt, so genau wisse sie das nicht, das sei allerdings im Jahr 2008 passiert („So genau weiß ich es nicht. 2008 als er festgenommen wurde, so hat es mir gesagt.“ - Niederschrift, S. 13, unten).
In der mündlichen Verhandlung erklärte die Klägerin auf Frage des Gerichts, wann die Rede davon gewesen sei, dass sie vergewaltigt werden könnte, ihr gegenüber sei mit der Gewalttat gedroht worden, als sie „die vorletzte Ladung erhalten habe“. Die Drohung sei von dem (neuen) Abschnittsbevollmächtigten ausgegangen.
Das Gericht legt zu Grunde, dass die Vielzahl der Widersprüche in den Angaben insbesondere des Klägers nicht auf Übersetzungsfehlern oder Missverständnissen beruht, sondern Rückschlüsse auf die Glaubhaftigkeit des Sachvortrags insgesamt zulässt. Sie lassen sich auch weder mit der Behauptung erklären, die Kläger hätten in der Anhörung vor dem Bundesamt mit Blick auf eine „tschetschenische Dolmetscherin“ Angst gehabt noch ist das Gericht angesichts der Persönlichkeit, die es in der mündlichen Verhandlung von dem Kläger gewonnen hat, davon überzeugt, dass etwa die Auslassungen zu Foltermethoden durch Scham bedingt sind.
Von diesen Widersprüchen abgesehen kommt hinzu, dass der Kläger sein Vorbringen zu dem Hintergrund der von ihm behaupteten staatlichen Verfolgung im Verlaufe des Asylverfahrens „gesteigert“ hat. Die einleitende Frage des Bundesamtes, ob er sich in seinem Heimatland schon einmal politisch betätigt habe (Niederschrift, S. 4, oben) verneinte der Kläger und beantwortete im weiteren Verlauf der Anhörung auch die Nachfrage, ob er denn vorgehabt habe, „sich den Kämpfern anzuschließen“, dahingehend, er habe das „natürlich nicht“ vorgehabt (Niederschrift S. 5, oben). Demgegenüber versuchte sich der Kläger in der informatorischen Befragung durch das Gericht als „Regime-Gegner“ darzustellen (Niederschrift, S. 2).
Mit diesem Aussageverhalten der Kläger deckt sich, dass ihr Vortrag zu fortlaufenden Vorladungen bzw. Verhaftungen von 2007/2008 bis zu ihrer Ausreise, vor allem auch die Behauptung, auf Grund der von ihnen vorgelegten Vorladung aus dem Oktober 2014 das Land verlassen zu haben, nach der Lebenserfahrung nichts für sich hat. Der Kläger hat behauptet, nach seinem Geständnis 2008 freigelassen, sodann jedoch immer wieder festgenommen, vorgeladen oder zu einer Befragung mitgenommen worden zu sein. Diese Behauptung ist unplausibel. In den Jahren seit 2013 ist der islamistische Widerstand in Tschetschenien selbst zwar zurückgegangen und die Zahl der aktiven Kämpfer hat weiter abgenommen – die Rede ist von einem Dutzend bis etwa 120 Personen (so noch BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 30. September 2019, S. 48 - 50) –, die Verbreitung des radikalen Islamismus stellt jedoch ein Risiko dar und Tschetschenien verfolgt konsequent eine Politik der Repression radikaler Elemente (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 10. Juni 2021, S. 48 ff.). Hätten die tschetschenischen oder russischen Behörden konkrete Anhaltspunkte dafür gehabt, dass es sich bei dem Kläger tatsächlich um einen ernsthaften Regierungsgegner oder aktiven Unterstützer der wenigen noch verbliebenen islamistischen Rebellen oder gar von Terrororganisationen handeln könnte, dann hätten sie ihn nicht mehrfach festgehalten und anschließend wieder freigelassen. Vielmehr wäre bei damit zu rechnen gewesen, dass der Kläger – und zwar ohne jegliche Vorwarnung – verhaftet und (mindestens) dauerhaft festgehalten worden wäre. Soweit der Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung versucht hat, die sich wiederholenden Aktivitäten der Sicherheitskräfte ihm gegenüber mit der Behauptung plausibel zu machen, er habe andere bespitzeln sollen, folgt das Gericht auch diesem – von Kläger im bisherigen Verfahren auch nicht erwähnten – Vortrag nicht.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich zudem, dass auch der Vortrag, maßgebend für das Verlassen der Republik Tschetschenien sei die schriftliche Vorladung zur Befragung als Zeugen vom 10. Oktober 2014 (Entsprechendes gilt für eine weitere Vorladung, nach Behauptung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung etwa 1 Monat oder 14 Tage vorher, Niederschrift, S. 8) gewesen, nicht trägt. Sollte es sich, was hier offenbleiben kann, um eine von den tschetschenischen Behörden in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ausgestellte und authentische Vorladung handeln, spricht nichts dafür, dass sie geeignet wäre, eine drohende Verfolgung des Klägers zu belegen. Nach dem eigenen Vortrag der Kläger hat der Ehemann zuvor bei zahllosen Gelegenheiten Kontakt mit den Sicherheitskräften der Zentralverwaltung bzw. der örtlichen Polizei gehabt, wurde geschlagen und gefoltert, anschließend jedoch wieder nach kurzer Zeit freigelassen. Sollten die Sicherheitsorgane daher tatsächlich die Absicht verfolgt haben, des Klägers habhaft zu werden, wäre mit seiner vorherigen endgültigen Verhaftung und Inhaftierung zu rechnen gewesen, nicht jedoch mit einer (getarnten) Vorladung als Zeugen. Es erscheint lebensfern und damit ausgeschlossen, dass insbesondere die rigoros und oftmals unter Außerachtlassung rechtsstaatlicher Anforderungen gegen Abweichler vorgehenden Sicherheitsorgane in der russischen Republik Tschetschenien Vorladungen an Personen verschicken, die verdächtigt werden, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben, sie hierdurch warnen und gleichzeitig den Erfolg der (Ermittlungs-)Verfahren riskieren (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 10. Juni 2021, S. 26). Aus entsprechenden Gründen handelt es sich bei den Ausführungen des Klägers auf die Frage des Gerichts, ob der Sachbericht einer Berichtigung oder Ergänzung bedürfe (Niederschrift, S. 2: „Und der Abschnittsbevollmächtigte hat mir bei Überreichung der Vorladung Folgendes gesagt: ‚Das ist die letzte Vorladung und wenn du die Folge leistest, kommst du nicht zurück.‘), (auch insoweit) um einen verfahrensangepassten und den Tatsachen nicht entsprechenden Vortrag.
Nach Überzeugung des Gerichts haben sich die Kläger zu 1. und 2. ohnehin bereits geraume Zeit vor September/Oktober 2014 entschlossen, ihr Heimatland endgültig zu verlassen. Das ergibt sich für das Gericht im Wesentlichen daraus, dass ein halbes Jahr vor der Ausreise der Familie ein Reisepass und dass am 07. Mai 2014 ein Doppel ihrer Heiratsurkunde ausgestellt worden ist. Die Umstände, dass die Kläger die Heiratsurkunde bei ihrer Ausreise aus der russischen Föderation mit sich führten, um sie in dem Asylverfahren vorlegen zu können, und dass sie zuvor den Verlust des Originals der Urkunde bemerkten und sich um eine Zweitschrift bemühten, lassen in Ermangelung einer anderweitigen plausiblen Erklärung darauf schließen, dass sich ihr Ausreisewunsch weit vor dem Oktober 2014 entwickelt hatte. Hierauf deutet im Übrigen angesichts der wirtschaftlichen Lage in Tschetschenien (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 10. Juni 2021, S. 90, wonach der monatliche Durchschnittslohn in Tschetschenien im September 2020 bei 23.783 Rubel = 264,00 € gelegen habe) auch die Tatsache, dass die Kläger die für ihre Ausreise erforderlichen finanziellen Mittel in Höhe von 10.000,00 € von Verwandten aufbringen mussten – was üblicherweise mit einem größeren Zeitvorlauf verbunden ist –, und hierauf deuten die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung. So hat der Kläger im Anschluss an den Sachbericht unter anderem erklärt, er habe gearbeitet und Geld verdient, er habe das Geld „für die Ausreise“ verdienen wollen (Niederschrift, S. 2), und im weiteren Verlauf der mündlichen Verhandlung auf Befragen angegeben, die Familie habe Ende September 2014/Anfang Oktober 2014 „richtig beschlossen, Russland zu verlassen“ (Niederschrift, S. 11).
In die mangelnde Glaubhaftigkeit des von den Klägern benannten Ausreisegrundes fügt sich nahtlos ein, dass der Kläger zu 1. auch zu seinem Verhalten nach Erhalt der Vorladung vom 10. Oktober 2014 wenig überzeugend berichtet hat. So hat er in der Anhörung vor dem Bundesamt angegeben, er habe sich nach Erhalt der Vorladung in Grozny bei einem Freund aufgehalten, bevor er nach etwa einer Woche ausgereist sei; zwischen Grozny und seinem Heimatdorf sei er „hin und her gependelt“ und zu Hause sei nach ihm gefragt worden (Niederschrift, S. 5). In der informatorischen Befragung durch das Gericht erklärt der Kläger demgegenüber von sich aus, nach Erhalt der Vorladung habe er zusammen mit seiner Frau entschieden, den Wohnort zu verlassen und die gesamte Familie sei dann geflüchtet (Niederschrift, S. 13: „Wir haben dann entschieden, dass es Zeit ist, haben unsere Sachen gepackt. Wir sind dann aus dem Dorf und haben uns bei einem Freund versteckt, dann sind wir gänzlich weg.“ und – auf Nachfragen – S. 15: „Wir haben beschlossen wegzugehen. Ich wusste, dass danach die Leute kommen würden.“, „Wir haben unseren Sohn aus dem Krankenhaus geholt. Wir alle, meine Frau und die Kinder, haben uns versteckt und sind ausgereist.“). Diese Widersprüche sind mit dem Bemerken des Klägers, er habe vor dem Bundesamt Angst gehabt und er habe nicht gewusst, dass er das habe „dazusagen“ müssen, nicht plausibel gemacht worden.
Lediglich informierend weist das Gericht darauf hin, dass auch die Behauptungen des Klägers gegenüber den Nichtregierungsorganisationen „Bürgerbeistand“ und „Memorial“ ausweislich des vorgelegten „Gutachtens“ vom 11. Dezember 2016 in wesentlichen Punkten von dem abweichen, was der Kläger gegenüber dem Bundesamt und dem Gericht angegeben hat. So nimmt in der Ausarbeitung etwa eine Vorladung eines Reviermilizionärs A...der Abteilung des Innern des Rayons Wedenski aus dem Juni 2014 breiten Raum ein, der den Kläger gezwungen haben soll, einen Erklärung zu unterschreiben, „dass er nicht vorhat, nach Syrien zu fahren und dass er keinen Kontakt zu seinem Cousin hat“; von diesem vermeintlichen Vorkommnis hatten die Eheleute explizit weder gegenüber dem Bundesamt noch dem Gericht berichtet.
1.3 Von der mangelnden Glaubhaftigkeit des Sachvortrags der Kläger abgesehen, scheidet die Gewährung von Flüchtlingsschutz aber auch nach § 3e Abs. 1 AsylG aus. Politisch unverdächtigen Tschetschenen – Entsprechendes gilt für Tschetschenen, die zwar verfolgungsbedingt ausgereist, nicht jedoch zur nationalen Fahndung ausgeschrieben sind –, die erwerbsfähig sind, steht in den meisten Teilen der Russischen Föderation grundsätzlich eine inländische Fluchtalternative („interner Schutz“) zur Verfügung (st. Rspr. d. Kammer, zuletzt: Urt. v. 28. Januar 2021 – VG 1 K 141/18.A –, juris Rn. 54 m. w. N. und Urt. d. 7. Kammer v. 31. März 2021 – VG 7 K 1900/16.A –, juris; ebenso etwa: VG Frankfurt (Oder), Urt. v. 18. Juni 2020 – VG 6 K 741/13.A –, juris; VG Potsdam, Urt. v. 10. Mai 2017 – 6 K 4904/16.A – juris, Rn. 22 ff.; VG Berlin, Urt. v. 24. März 2015 – 33 K 229.13 A –, juris; OVG des Landes Sachsen-Anhalt, Urt. v. 28. Mai 2020 – 2 L 25/18 –, Rn. 45, juris).
Auf internen Schutz in der Russischen Föderation außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien deutet bereits die große Zahl von Tschetschenen, die sich außerhalb des Nordkaukasus in anderen Gebieten des Landes niedergelassen haben. Allein in den Jahren zwischen 2008 und 2015 sollen rund 150.000 Personen Tschetschenien aus ökonomischen und gesundheitlichen Gründen oder aber mit Blick auf verbreitete Verstöße gegen die Menschenrechte in dieser Republik verlassen und teilweise in andere Regionen der Russischen Föderation verzogen sein. Von den etwa 300.000 außerhalb des Nordkaukasus lebenden Tschetschenen existieren die offiziell größten Gemeinschaften in Moskau (über 14.000 Personen), Inguschetien (knapp 19.000 Personen), in der Region Stawropol (knapp 12.000 Personen) und in den Regionen Rostow und Wolgograd (über 11.000 bzw. knapp 10.000 Personen). Die tatsächliche Zahl der in der Russischen Föderation, etwa in Moskau, außerhalb Tschetscheniens lebenden Personen dürfte jedoch erheblich höher liegen, unter anderem, weil bei der letzten Volkszählung ein großer Teil der Bevölkerung seine ethnische Zugehörigkeit nicht angegeben hat. So sollen etwa in der Region Wolgograd doppelt so viele und in der Region Sankt Petersburg etwa sieben Mal so viele Tschetscheninnen und Tschetschenen leben, wie offiziell angenommen. (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 10. Juni 2021, S. 85; ausf. auch European Asylum Support Office [EASO], „Informationsbericht über das Herkunftsland Russische Föderation - Die Situation der Tschetschenen in Russland“, August 2018, S. 12 bis 17), und das Auswärtige Amt gibt die Anzahl der in Moskau lebenden Tschetschenen mit 200.000 Personen an (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 02. Februar 2021 in der Fassung vom 21. Mai 2021, S. 14).
Für Tschetscheninnen und Tschetschenen gibt es ungeachtet nationaler Datenbanken und Registrierungsgesetze, abhängig von den Umständen des Einzelfalls, einen Spielraum, Anonymität und Sicherheit in den großen Städten des Landes zu finden, und Personen, die in ihrer Heimatregion Übergriffen durch Sicherheitskräfte ausgesetzt waren und deshalb außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien in der Russischen Föderation leben, müssen dort nicht beachtlich wahrscheinlich mit Verfolgung rechnen. Das gilt jedenfalls dann, wenn nach diesen Personen nicht gefahndet wird, sie sich nicht in prominenter Position als Gegner des Präsidenten der russischen Teilrepublik Tschetschenien Ramsan Achmatowitsch Kadyrow betätigt haben oder es sich nicht um Personen handelt, die sich den LGBTI (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual) zugehörig fühlen. Es ist nicht anzunehmen, dass die russischen Sicherheitsbehörden außerhalb des Nordkaukasus tschetschenische Stellen bei der Suche nach etwaigen aus deren Sicht Verdächtigen bedingungslos unterstützen würden und als deren Vollstrecker auftreten. Vielmehr betrachten russische Stellen Forderungen aus Grosny oft mit Skepsis und machen einen deutlichen Unterschied zwischen der Behandlung von Personen, die wegen Verbrechen in Tschetschenien gerichtlich verurteilt wurden, und denen, denen lediglich vorgeworfen wird, Verbrechen begangen zu haben. Auch besitzt das tschetschenische Republikoberhaupt zwar volle Kontrolle über die Sicherheitskräfte der Republik Tschetschenien („Kadyrowzy“) und bewaffnete Kräfte, die ihm zuzurechnen sind, sind auch in den großen Städten der Russischen Föderation, so insbesondere in Moskau, präsent. Es ist jedoch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass Kadyrow die ihm zur Verfügung stehenden Mittel, einer in anderen Teilen Russlands lebenden Person habhaft zu werden, einsetzen wird, wenn es sich nicht um einen prominenten Gegner seiner Politik oder eine andere, einleitend bezeichnete Person handelt (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 02. Februar 2021 in der Fassung vom 21. Mai 2021, S. 15 [„Einzelfälle“]; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand. 20. Juni 2021, S. 86 ff.; EASO, „Informationsbericht über das Herkunftsland Russische Föderation - Die Situation der Tschetschenen in Russland“, August 2018, S. 49 ff.).
Vorliegend behauptet der Kläger selbst nicht, in der Russischen Föderation zur Fahndung ausgeschrieben worden zu sein noch gibt es hierfür Anhaltspunkte. Im Übrigen handelt es sich bei ihm – selbst den Vortrag der Kläger als wahr unterstellt – aus Sicht tschetschenischer Stellen nicht um eine in der gesamten Russischen Föderation prominente Persönlichkeit und auch nicht um einen bekannten oder hochrangigen Kämpfer oder Gegner des Republikoberhaupts. Dem stünden – an dieser Stelle ebenfalls unterstellte – gewalttätige Übergriffe tschetschenischer Sicherheitskräfte innerhalb der eigenen Teilrepublik nicht entgegen, denn aus ihnen könnte nicht der Schluss gezogen werden, dass der Betreffende auch jetzt bei einer Rückkehr in eine andere als seine Heimatregion von staatlichen Akteuren gesucht werden würde.
Die Familie kann auch sicher und legal in den sicheren Landesteil reisen, und es kann von ihr vernünftigerweise erwartet werden, dass sie sich dort niederlässt.
Bei der Prüfung, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach § 3e Abs. 1 AsylG erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers nach Art. 4 RL 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen (§ 3e Abs. 2 S. 1 AsylG). Erforderlich ist, dass der Ausländer am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls sein wirtschaftliches Existenzminimum, sei es durch eigene Arbeit, sei es durch staatliche oder sonstige Hilfen, auf einem Niveau sichern kann, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt; darüberhinausgehende Anforderungen sind nicht notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit der Niederlassung (BVerwG, Urt. v. 24. Juni 2021 – BVerwG 1 C 54.20 –, Rn. 9 ff., Rn. 14 ff.; BVerwG, Urt. v. 18. Februar 2021 – BVerwG 1 C 4.20 –, juris Rn. 27). Dabei sind einem jungen, gesunden und arbeitsfähigen Schutzsuchenden außer kriminellen Tätigkeiten alle Arbeiten zumutbar, auch solche, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, oder die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können (BVerwG, Beschl. v. 13. Juli 2017 – BVerwG 1 VR 3/17 –, juris Rn. 119); auf eine entwürdigende oder eine entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation darf der Schutzsuchende demgegenüber nicht verwiesen werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 01. Februar 2007 – BVerwG 1 C 24.06 –, juris Rn. 11).
Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Für eine legale Aufenthaltsnahme bedarf es einer Registrierung, wozu der Inlandspass und ein Wohnraumnachweis vorgelegt werden müssen. Zwar kann es in manchen Städten oder Regionen zu Problemen bei der Registrierung kommen, insbesondere wenn der Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation in Frage steht, in der Regel ist eine Registrierung auch für Tschetschenen – wie bereits die hohe Anzahl der außerhalb Tschetscheniens lebenden Personen verdeutlicht – jedoch kein Problem (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 10. Juni 2021, S. 82; EASO, „Informationsbericht über das Herkunftsland Russische Föderation - Die Situation der Tschetschenen in Russland“, August 2018, S. 20; AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 02. Februar 2021 in der Fassung vom 21. Mai 2021, S. 22/23).
Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es den Klägern aus wirtschaftlichen Gründen unzumutbar wäre, ihren Aufenthalt innerhalb der Russischen Föderation außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien zu nehmen, insbesondere ist zu erwarten, dass die Kläger ihren Lebensunterhalt einschließlich der Versorgung mit menschenwürdigem Wohnraum – losgelöst von einer (jedenfalls teilweisen) Versorgung durch familiäre Strukturen und den sozialen Sicherungssystemen in Russland – durch zumutbare Arbeit sichern könnten. In den wirtschaftlichen Zentren der Russischen Föderation ist die Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt und erheblich niedriger als in den Regionen des Nordkaukasus (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand: 10. Juni 2021, S. 82). Der russisch sprechende Kläger ist zudem arbeitsfähig und es ist mit Blick auf seine beruflichen Vorkenntnisse davon auszugehen, dass er eine Arbeit auf dem Bau oder im Handwerk finden würde, um für den Lebensunterhalt der Familie zumindest in dem notwendigen Umfang zu sorgen. Entsprechendes gilt für die Klägerin auch mit Blick darauf, dass Frauen aus dem Nordkaukasus auf dem Arbeitsmarkt mit weniger Diskriminierung als Männer zu rechnen haben (EASO, „Informationsbericht über das Herkunftsland Russische Föderation - Die Situation der Tschetschenen in Russland“, August 2018, S. 30/31), und dass ihr dreijähriges Studium der Rechtswissenschaften Anknüpfungspunkt für eine Beschäftigungsmöglichkeit bieten könnte.
2. Auch der Hilfsantrag ist unbegründet. Die Voraussetzungen der Zuerkennung subsidiären Schutzes, § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, liegen nicht vor.
Ein Antragsteller ist danach subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt: 1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, 2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder 3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Die Voraussetzungen der 2. Alternative – für die 1. und 3. Alternative ist von vornherein nichts ersichtlich oder vorgetragen – liegen angesichts der mangelnden Glaubhaftigkeit des Sachvortrags und des aufgezeigten internen Schutzes in der Russischen Föderation nicht vor; auf die Ausführungen zu 1. wird Bezug genommen.
3. Auch die Verpflichtung des Bundesamtes, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen, scheidet aus.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist; nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Auch die Voraussetzungen dieser Anspruchsgrundlagen liegen aus den – allein in Betracht kommenden – Gründen zu 1. nicht vor.
4. Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 S. 1 AsylG, § 59 Abs. 1 S. 1 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten beruht auf § 167 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 709 S. 1 und 2 und § 711 S. 1 und 2 der Zivilprozessordnung (ZPO).