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Visum - Familiennachzug - außergewöhnliche Härte - Krankheit - geschwisterliche Bindung - subsidiär Schutzberechtigter - minderjähriges Kind - Antragstellung - Online-Terminregistrierung


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat Entscheidungsdatum 25.01.2022
Aktenzeichen OVG 3 S 87/21 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2022:0125.OVG3S87.21.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 6 Abs 3 AufenthG, § 22 S 1 AufenthG, § 36 Abs 2 AufenthG, § 36a Abs 1 S 1 AufenthG, § 81 Abs 1 AufenthG

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 14. Juli 2021 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert. Der Antrag der Antragstellerin, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr ein Visum zum Familiennachzug zu erteilen, wird abgelehnt.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Mit der für die Prüfung des Oberverwaltungsgerichts maßgeblichen Beschwerdebegründung (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) wendet sich die Antragsgegnerin erfolgreich gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, im Fall der Antragstellerin sei die Erteilung des Visums zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich. Vor diesem Hintergrund ist der Senat zu einer eigenständigen Würdigung berufen.

Die Antragstellerin hat die Voraussetzungen eines im Wege der einstweiligen Anordnung (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO) zu sichernden Anspruchs auf Erteilung des begehrten Visums zum Familiennachzug nicht mit der hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht, die für die Vorwegnahme eines für sie günstigen Ausgangs des Hauptsacheverfahrens erforderlich ist.

Die Antragsgegnerin zeigt mit Erfolg auf, dass die Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht sind. Nach dieser Bestimmung kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.

Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt voraus, dass der im Ausland oder Inland lebende schutzbedürftige Familienangehörige im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung allein ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist und diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann. Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendigkeit der Herstellung und Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. März 2011 - 1 C 7.10 - juris Rn. 10; BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 - juris Rn. 23; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 - OVG 3 B 17.10 - juris Rn. 23; Urteil vom 15. Oktober 2014 - OVG 6 B 1.14 - juris Rn. 14). Maßgeblich ist, wie sich die familiäre Situation bei objektiver Betrachtung im Entscheidungszeitpunkt darstellt, d.h. ob die Versagung einer Familienzusammenführung angesichts der aktuellen familiären Situation im Hinblick auf höherrangiges Recht schlechthin unvertretbar wäre (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. Oktober 2021 - OVG 3 S 43/21 - juris Rn. 11).

Gemessen hieran bietet das Vorbringen der Antragstellerin im einstweiligen Anordnungsverfahren keine tragfähigen Anhaltspunkte für die Annahme, eine Versagung des Visums führe zu einer außergewöhnlichen Härte. Weder in Bezug auf die Antragstellerin noch im Hinblick auf ihren Vater oder ihre Geschwister wird deutlich, dass diese zu einem eigenständigen Leben nicht (mehr) in der Lage sind und daher eine Einreise der Antragstellerin in das Bundesgebiet dringend geboten ist.

Soweit die Antragstellerin auf den Gesundheitszustand ihres Vaters verweist, kann dahinstehen, ob sich hieraus ein bereits so weit fortgeschrittener krankheitsbedingter Autonomieverlust ergibt, der nach objektiven Maßstäben den Wunsch verständlich und nachvollziehbar erscheinen lässt, sich in die familiäre Geborgenheit der vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 10.12 - juris Rn. 38). Jedenfalls legt die Antragstellerin nicht hinreichend dar, dass ihr Vater trotz der Unterstützung durch seine seit Februar 2021 bereits in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Kinder, darunter den inzwischen 21-jähren Sohn, und der gerichtlich bestellten Betreuung sowie der (erreichbaren) Leistungen eines Pflegedienstes dringend auf die Hilfeleistung und Betreuung gerade durch die Antragstellerin angewiesen ist. Insoweit muss sich die Antragstellerin auf das Klageverfahren verweisen lassen.

Eine außergewöhnliche Härte legt die Antragstellerin auch nicht dar, soweit sie geltend macht, eine Trennung von ihrem Bruder und ihrer Schwester sei unzumutbar, nachdem sie seit dem Verschwinden ihrer Mutter im Juli 2018 für ca. zweieinhalb Jahre auf sich allein gestellt gewesen seien und die Antragstellerin die Mutterrolle für ihre jüngeren Geschwister übernommen habe. Daraus wird nicht hinreichend deutlich, dass die Geschwister gegenwärtig auf die Lebenshilfe der Antragstellerin dringend angewiesen und über das mit einer Trennung von erwachsenen Familienmitgliedern für gewöhnlich verbundene Maß hinaus beeinträchtigt sind. Ihre Schilderung, die Geschwister litten sehr unter der Trennung und sie könnten infolge der Ungewissheit über eine Nachreise der Antragstellerin nicht in Deutschland ankommen, ist nicht hinreichend substantiiert und im Übrigen nicht glaubhaft gemacht. Aus demselben Grund überzeugt auch das Argument einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls der (allerdings nur noch bis zum 31. März 2022) minderjährigen Schwester nicht.

Die besondere geschwisterliche Bindung reicht jedenfalls nicht mit der für den Erlass der erstrebten einstweiligen Anordnung erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit für die Annahme einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG. Angesichts dessen gebieten weder Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. zum Schutzbereich hinsichtlich Geschwisterbeziehungen BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 2014 - 1 BvR 2926/13 - juris Rn. 23) noch Art. 8 Abs. 1 EMRK (vgl. EGMR, Urteil vom 13. Februar 2001 - Nr. 47160/99, Ezzouhdi ./. Frankreich - HUDOC Rn. 34; Urteil vom 9. April 2019 - Nr. 23887/16, I.M. ./. Schweiz - HUDOC Rn. 62) eine andere Bewertung. Auch insoweit ist die Antragstellerin auf das Klageverfahren zu verweisen.

Ebenso wenig begründen die Ausführungen der Antragstellerin eine außergewöhnliche Härte, sie sei als unverheiratete, junge Frau ohne männliche Begleitung sowohl in Somalia als auch in Kenia erheblichen Gefahren für Leib und Leben insbesondere in Form von sexueller Gewalt oder Zwangsheirat ausgesetzt. § 36 Abs. 2 AufenthG betrifft den Familiennachzug und eine außergewöhnliche Härte im Sinne dieser Norm setzt voraus, dass die Härte im Hinblick auf die Notwendigkeit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft besteht. Daher ist für die Berücksichtigung nicht familienbezogener, die allgemeine politische oder wirtschaftliche Lage im Herkunfts- oder Aufenthaltsstaat betreffender Gesichtspunkte im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der außergewöhnlichen Härte grundsätzlich kein Raum (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 - juris Rn. 23; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Februar 2017 - OVG 3 S 9.17 - juris Rn. 5; Beschluss vom 27. April 2018 - OVG 3 S 23.18, OVG 3 M 22.18, OVG 3 M 23.18 - juris Rn. 2)

Der Klärung im Hauptsacheverfahren muss vorbehalten bleiben, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen in Fortentwicklung der Rechtsprechung zu § 36 Abs. 2 AufenthG der Zeitraum zwischen der Terminregistrierung und dem Vorsprachetermin berücksichtigt werden kann, der hier dazu führt, dass sich der angestrebte Nachzug zu dem subsidiär schutzberechtigten Vater nicht auf § 36a Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 6 Abs. 3 AufenthG stützen lässt, weil die Antragstellerin nicht (mehr) zu dem danach anspruchsberechtigten Personenkreis gehört.

Gemäß § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann Ehegatten und minderjährigen ledigen Kindern eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Diese Voraussetzungen erfüllt die Antragstellerin nicht, da sie im entscheidungserheblichen Zeitpunkt kein „minderjähriges Kind“ mehr war. Maßgeblich ist hierbei auf den Zeitpunkt der Visumbeantragung abzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - 1 C 17.08 - juris Rn. 10; Urteil vom 29. November 2012 - 10 C 11.12 - juris Rn. 14; Beschluss vom 2. Dezember 2014 - 1 B 21.14 - juris Rn. 6). Diese zu § 32 Abs. 1 AufenthG geklärten Maßgaben gelten auch für § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, der gleichermaßen wie § 32 Abs. 1 AufenthG „dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers“ den Nachzug eröffnet. Weder Zweck noch Systematik oder Entstehungsgeschichte der Norm, die den Angehörigen der Kernfamilie angesichts der ehelichen und familiären Bindungen ein Nachzug eröffnen soll, geben Anhaltspunkte für eine abweichende Bewertung (vgl. BT-Drs. 19/2438 S. 22; Kluth, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand: Juli 2021, AufenthG § 36a Rn. 7; zum Sonderfall der vor seinem Inkrafttreten eingeleiteten Visumverfahren vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. November 2020 - OVG 6 B 6.19 - juris Rn. 17 ff.).

Unionsrechtliche Vorgaben zur Familienzusammenführung stehen dem schon deshalb nicht entgegen, weil die Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung) auf den Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen zu einem subsidiär Schutzberechtigten gemäß Art. 3 Abs. 2 lit. c der Richtlinie 2003/86/EG nicht anwendbar ist (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2018 - C-380/17 - juris Rn. 33; Urteil vom 13. März 2019 - C-635/17 - juris Rn. 33 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. September 2020 - OVG 3 B 38.19 - juris Rn. 18). Daher ist die Argumentation in den Schlussanträgen des Generalanwalts Collins vom 16. Dezember 2021 - C-279/20 -, es komme im Rahmen des Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG für die Frage der Minderjährigkeit eines Kindes, das den Nachzug zu seinem als Flüchtling anerkannten Elternteil begehrt, auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung des Zusammenführenden an (www.curia.europa.eu Rn. 47 ff.), hier nicht übertragbar.

Die am 2. Februar 2001 geborene Antragstellerin hat ihren Visumantrag am 14. November 2019 - nach Eintritt ihrer Volljährigkeit - gestellt und nicht, wie sie meint, bereits mit der „Registrierung für die Beantragung eines nationalen Visums“ durch ihre Bevollmächtigte am 26. März 2018. Der Eintragung in die Termin-Warteliste für die Deutsche Botschaft Nairobi über ein Online-Portal kann hier nicht die Bedeutung einer Antragstellung zugemessen werden.

Der Anmeldung der Antragstellerin zur Warteliste kommt begrifflich der Erklärungswert einer Bitte zu, einen Vorsprachetermin bei einer Visastelle zum Zweck der Visumbeantragung zu erhalten. Diese auf Vorbereitung einer Antragstellung gerichtete Handlung stellt grundsätzlich nicht schon die Beantragung eines Aufenthaltstitels dar (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. August 2019 - 1 C 23.18 - juris Rn. 28; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. August 2020 - OVG 12 B 18.19 - juris Rn. 22).

Auch nach den konkreten Umständen des Falls kann die Registrierung vom 26. März 2018 nicht mit der für den Erlass der erstrebten einstweiligen Anordnung erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit im Sinne eines Visumantrags ausgelegt werden.

Bei dem nach § 81 Abs. 1 AufenthG für die Einleitung des Erteilungsverfahrens erforderlichen Antrag handelt es sich um eine einseitige empfangsbedürftige öffentlich-rechtliche Willenserklärung, auf die grundsätzlich die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über die privatrechtlichen Willenserklärungen entsprechend anzuwenden sind. Bei ihrer Auslegung entsprechend §§ 133, 157 BGB kommt es nicht auf den inneren Willen des erklärenden Beteiligten, sondern darauf an, wie die Erklärung aus Sicht des Empfängers bei objektiver Betrachtungsweise zu verstehen ist. Maßgebend ist der geäußerte Wille des Erklärenden, wie er aus der Erklärung und den sonstigen Umständen für den Erklärungsempfänger erkennbar wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 2001 - 8 C 17.01 - juris Rn. 40; Urteil vom 11. Januar 2011 - 1 C 1.10 - juris Rn. 16; Beschluss vom 22. September 2011 - 6 B 19.11 - juris Rn. 6), hier also, wie die Auslandsvertretung das Verhalten des Ausländers und dessen Erklärungen unter Berücksichtigung aller ihr erkennbaren Umstände und der Mitwirkungslast des Ausländers (§ 82 Abs. 1 AufenthG) nach Treu und Glauben zu verstehen hat (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 3. August 2009 - 11 S 1056/09 - juris Rn. 13). Für eine Antragstellung ist erforderlich, dass der Erklärende mit seinem Verhalten oder seiner Äußerung in für die Behörde erkennbarer Weise zum Ausdruck bringt, dass er ein bestimmtes Tätigwerden der Behörde erstrebt, indem er dieser ein Begehren mitteilt, das beschieden werden soll (vgl. OVG Berlin, Beschluss vom 28. Dezember 1998 - OVG 2 B 34.93 - LKV 1999, 370, 371; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. September 2013 - 4 S 1042/12 - juris Rn. 30; Ziekow, VwVfG, 4. Aufl. 2020, § 22 Rn. 8). Hiervon kann bei der vorgenommenen Online-Registrierung nicht ausgegangen werden.

Weder der Webseite des Auswärtigen Amtes, die die Antragstellerin bzw. ihre Prozessbevollmächtigte zur Mitteilung ihres Terminwunsches nutzten, noch der Bestätigungsmail zur Terminregistrierung lassen sich Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Antragsgegnerin der Registrierung einer weitergehenden Aussagegehalt beimesse. Ebenso wenig sprechen die begrenzten Informationen, die der Botschaft in der Registrierung übermittelt wurden, für eine Auslegung im Sinne eines Antrags. Nach der Mitteilung der Antragsgegnerin, der die Antragstellerin nicht entgegengetreten ist, wurden bei der Registrierung am 26. März 2018 über die seinerzeit verwendete Eingabemaske Name, Vorname, Geburtsdatum, Passnummer, E-Mail-Adresse und Telefonnummer sowie die Angabe abgefragt, ob dem Familienangehörigen in Deutschland subsidiärer Schutz zuerkannt wurde. Weder die Person, zu der ein Nachzug erfolgen sollte, noch das familiäre Verhältnis der Antragstellerin zu dieser wurde benannt. Damit konnte die Anmeldung der Funktion eines Antrags nicht genügen, den Verfahrensgegenstand zu bestimmen, der im Bereich des Aufenthaltsrechts wiederum durch die Aufenthaltszwecke und den Lebenssachverhalt, aus denen der Ausländer seinen Anspruch herleitet, bestimmt und begrenzt wird (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Januar 2021 - OVG 3 M 154/20 - juris Rn. 6; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. Juli 2020 - 12 S 1432/20 - juris Rn. 7; Samel, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 81 Rn. 7). Unabhängig davon war aufgrund der wenigen übermittelten Informationen (und der unzutreffenden Angabe des 2. März 2018 als Geburtsdatum) nicht ersichtlich, dass zur Wahrung einer Altersgrenze ein Visumantrag notwendigerweise zu diesem Zeitpunkt hätte gestellt werden müssen.

Ohne Erfolg verweist die Antragstellerin auf das Visumhandbuch des Auswärtigen Amtes. Daraus lässt sich nicht ableiten, dass die Antragstellerin nach Treu und Glauben so zu behandeln sei, als hätte sie rechtzeitig einen Visumantrag gestellt. Ihre Terminregistrierung umfasste nicht die Angaben, die nach den von ihr zitierten Passagen des Handbuchs erforderlich sind, um eine Terminbuchung als fristwahrenden Antrag zu werten. Dazu zählt beim Familiennachzug auch, „zu wem die Einreise stattfindet (Name, Vorname, Aufenthaltsstatus der Referenzperson; bei Nachzug zum unbegleiteten Minderjährigen deren Geburtsdatum)“.

Auch soweit die Antragstellerin ein strukturelles Organisationsdefizit der Antragsgegnerin bei der Botschaft in Nairobi rügt und geltend macht, ihr könne die erhebliche Wartezeit zwischen der Terminregistrierung und dem Vorsprachetermin von mehr als anderthalb Jahren nicht angelastet werden, rechtfertigt dies im einstweiligen Anordnungsverfahren keine andere Bewertung. Es ist nicht ersichtlich, warum es der Antragstellerin angesichts der offensichtlich bereits seit März 2018 bestehenden anwaltlichen Beratung nicht möglich oder nicht zumutbar gewesen ist, von alternativen Möglichkeiten einer grundsätzlich nicht formgebundenen Visumbeantragung jenseits einer persönlichen Vorsprache, namentlich einer schriftlichen Antragstellung bei der Botschaft, vor ihrer Volljährigkeit Gebrauch zu machen.

Für eine rechtzeitige Visumbeantragung ist auch die „fristwahrende Anzeige, § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG“ unerheblich. Abgesehen davon, dass sie nicht den Erklärungsgehalt eines für die Erteilung eines Visums erforderlichen Antrags hat (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. Januar 2022 - OVG 3 M 22/21 - juris Rn. 7 ff.; Beschluss vom 19. Januar 2022 - OVG 3 M 185/20 - juris; Beschluss vom 9. Dezember 2021 - OVG 3 M 53/21 - juris Rn. 9), wurde sie hier erst am 27. Juli 2019 und damit nach Volljährigkeit der Antragstellerin erstellt.

Für die von der Antragstellerin begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist kein Raum. Bei der Frage, ob das Tatbestandsmerkmal des § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG „minderjähriges Kind“ gegeben ist, steht nicht die Wahrung einer gesetzlichen Frist im Sinne des § 32 Abs. 1 Satz 1 VwVfG, der wegen § 2 Abs. 3 Nr. 3 VwVfG ohnehin allenfalls entsprechend anwendbar wäre, in Rede (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Juni 2019 - OVG 3 M 98.19 - juris Rn. 3).

Die Antragstellerin hat ferner keinen Anordnungsanspruch aus § 22 Satz 1 AufenthG glaubhaft gemacht. Danach kann einem Ausländer für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Dringende humanitäre Gründe in diesem Sinne liegen zum einen dann vor, wenn sich der Ausländer aufgrund besonderer Umstände in einer auf seine Person bezogenen Sondersituation befindet, sich diese Sondersituation deutlich von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheidet, der Ausländer spezifisch auf die Hilfe der Bundesrepublik Deutschland angewiesen ist oder eine besondere Beziehung des Ausländers zur Bundesrepublik Deutschland besteht und die Umstände so gestaltet sind, dass eine baldige Ausreise und Aufnahme unerlässlich sind. Sie sind im Zusammenhang mit § 36a Abs. 1 AufenthG zum anderen auch dann gegeben, wenn besondere Umstände des Einzelfalles eine Fortdauer der räumlichen Trennung der Angehörigen der Kernfamilie des subsidiär Schutzberechtigten mit Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG nicht länger vereinbar erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2020 - 1 C 30.19 - juris Rn. 49 m.w.N.). Gemessen daran fehlt es an der hinreichend substantiierten Darlegung einer entsprechenden Sondersituation, die insbesondere im Hinblick auf den grundrechtlichen Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG die Gewährung einer Einreise der Antragstellerin für dringend geboten erscheinen lässt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).