Gericht | VG Cottbus 8. Kammer | Entscheidungsdatum | 29.10.2021 | |
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Aktenzeichen | 8 L 258/21.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2021:1029.8L258.21.A.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 34 Abs 1 Nr 3 AsylVfG 1992, Art 3 MRK, § 80 Abs 2 S 1 Nr 3 VwGO, § 80 Abs 5 VwGO, § 71a Abs 4 AsylVfG 1992, § 60 Abs 5 AufenthG, § 36 Abs 4 S 1 AsylVfG 1992 |
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin (V...) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 7. Juli 2021 wird angeordnet.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Antragsgegnerin.
Die Entscheidung ergeht nach § 76 Abs. 4 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist im Hinblick auf die gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 i.V.m. §§ 71a Abs. 4, 36 AsylG sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides statthaft und auch im Übrigen zulässig, namentlich fristgemäß innerhalb der Wochenfrist des § 71a Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG erhoben worden, nachdem der Bescheid der Antragstellerin am 16. Juli 2021 zugestellt worden ist.
Der Antrag ist auch begründet. Gemäß §§ 71a Abs. 4, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung im Falle eines Zweitantrages, der nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führt, nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1516/93 -, juris Rn. 99). Dies ist vorliegend im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung der Fall.
Dabei kann hier dahin gestellt bleiben, ob die Ablehnung des Asylantrages der Antragstellerin als unzulässigem Zweitantrag rechtmäßig erfolgte. Die Klärung der von der Antragstellerin in diesem Zusammenhang problematisierten Fragen ihrer Staatsangehörigkeit und der Prüfung des subsidiären Schutzes im Rahmen des in Schweden durchgeführten Erstverfahrens bleibt vielmehr ggf. dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Denn eine Abschiebungsandrohung kann nach § 34 Abs. 1 Nr. 3 AsylG darüber hinaus nur ergehen, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen. Zumindest hieran bestehen vorliegend aber ernstliche Zweifel.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Schlechte humanitäre Bedingungen im Herkunftsland können auch als sog. nicht staatliche Gefahren im Ausnahmefall Art 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen eine Abschiebung zwingend sind. Das setzt voraus, dass im Zielstaat der Abschiebung das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht wird. Davon ist auszugehen, wenn die Rückkehrer ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, was nicht generell, sondern unter Würdigung der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls festzustellen ist (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 8. August 2018 – 1 B 25.18 -, juris Rn. 11; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 15. Juli 2019 – 10 ZB 19.32520 -, juris Rn. 4; Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 27. August 2019 – 28 K 530.17.A -, juris Rn. 58). Eine „Extremgefahr“ nach dem Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist aber nicht erforderlich (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 21. November 2014 – 13a B 14.30284 -, juris Rn. 15 ff.; Verwaltungsgericht Ansbach, Urteil vom 19. Mai 2020 – AN 3 K 17.33199 -, S. 10 UA; www.asyl.net).
Vorliegend ist unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles davon auszugehen, dass für die Antragstellerin aufgrund der harten Existenzbedingungen in Äthiopien die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben sind.
Äthiopien ist trotz leichter Verbesserungen nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Ein signifikanter Teil der Bevölkerung (rund 30%) lebt unter der absoluten Armutsgrenze und das rasche Bevölkerungswachstum trägt zum Verharren in Armut bei. Aktuell haben die Folgen des immer stärker sichtbar werdenden Klimawandels – schneller aufeinander folgende und lang anhaltende Dürreperioden, zunehmender Wassermangel, Vernichtung von Waldgebieten und Heuschreckenplagen -, aber auch gesellschaftliche und ethnische Spannungen mit gewalttätigen Ausschreitungen zu einer schweren humanitären Krise geführt (vgl. Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 17. Dezember 2018; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien (Stand März 2020) vom 24. April 2020, S. 21, und Pressemitteilung vom 3. Juli 2020; Welthungerhilfe, Factsheet Äthiopien - Stand 17. Januar 2019 -), wobei sich die wirtschaftliche und humanitäre Lage im Jahr 2020 noch einmal deutlich verschlechtert hat (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien (Stand März 2021) vom 14. Juni 2021, S. 20; zur aktuellen humanitären Katastrophe infolge des Tigray-Konfliktes vgl. Urteil der Kammer vom 27. August 2021 – VG 8 K 1325/17.A – juris Rn. 40 f.). Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist nicht in allen Landesteilen und zu jeder Zeit gesichert: die Ernährungssituation der Bevölkerung wird immer noch mit „ernst“ bewertet, 50% haben immer noch keinen Zugang zu sicherem Trinkwasser und weniger als 30% zu sanitären Einrichtungen. Es besteht ein hoher Bedarf an humanitärer Versorgung im Rahmen der Dürrehilfe und zur Abhilfe gegen die Heuschreckenplage, darüber hinaus sind nach Schätzungen der äthiopischen Regierung inzwischen über 20 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfeleistungen angewiesen. Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Kindergeld o. ä. werden von der äthiopischen Regierung nicht erbracht, ebenso wenig gibt es eine kostenlose medizinische Grundversorgung oder beitragsabhängige Leistungen. Rückkehrer können nicht mit staatlicher Unterstützung rechnen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Äthiopien (Stand März 2021) vom 14. Juni 2021, S. 20; Welthungerhilfe, Factsheet Äthiopien (Stand 17. Januar 2019); zum Ganzen auch Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 27. August 2019 – 28 K 530.17.A -, juris Rn. 60).
Angesichts dieser Verhältnisse in Äthiopien ist vorliegend davon auszugehen, dass es der Klägerin als junger alleinstehender Frau nicht möglich sein wird, sich dort ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Soweit überhaupt unterstellt werden kann, dass in den meisten Regionen Äthiopiens und jedenfalls in Addis Abeba eine – wenn auch bescheidene – Existenzsicherung grundsätzlich möglich ist, betrifft dies regelmäßig Rückkehrer, die über Qualifikationen und Sprachkenntnisse verfügen (vgl. so etwa Verwaltungsgericht München, Urteil vom 11. April 2017 – M 12 K 16.33001 –, juris Rn. 49; Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder), Urteil vom 7. Dezember 2018 – 5 K 1915/16.A -, juris Rn. 45; Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 27. August 2019 – 28 K 530.17.A -, juris Rn. 60; ) bzw. auf familiäre Unterstützung zurückgreifen können. Die Klägerin spricht zwar die Landessprache Amharisch, ist aber ansonsten Analphabetin ohne (nennenswerte) Schul- und Berufsausbildung. Über Angehörige in Äthiopien verfügt sie ebenfalls nicht, so dass sie insoweit mit keinerlei Unterstützung rechnen kann. Dabei ist entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin auch zu berücksichtigen, dass für die Klägerin mit Beschluss des Amtsgerichts Eisenhüttenstadt vom 10. Juni 2020 – 4 XVII 52/20 – eine Betreuerin bestellt worden ist, da die Klägerin aufgrund einer der in § 1896 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches aufgeführten Krankheiten bzw. Behinderungen, nämlich einer Angststörung und Sozialphobie mit Verdacht auf eine Posttraumatische Belastungsstörung, nicht in der Lage ist, ihre Angelegenheiten – namentlich Gesundheitsfürsorge, Behörden-, Vertrags- und Wohnangelegenheiten sowie soziale und rechtliche Angelegenheiten – ausreichend zu besorgen. Dies erlaubt die Schlussfolgerung, dass die Klägerin derzeit nicht über die insoweit maßgeblichen Fähigkeiten für eine eigenständige Existenzbegründung und -sicherung verfügt. Hinzu kommt, dass sich die ohnehin prekären Verhältnisse in Äthiopien aktuell durch den Tigray-Konflikt und die COVID-19-Pandemie – insbesondere im Zusammenspiel mit der Heuschreckenplage - weiter verschärft haben (vgl. hierzu ausführlich Verwaltungsgericht Ansbach, Urteil vom 19. Mai 2020 – AN 3 K 17.33199 -, S. 10 ff. UA; www.asyl.net) und der Zugang zu Arbeit, adäquater Unterkunft, Wasser, Nahrung und Gesundheitsversorgung durch die damit einhergehenden Beschränkungen jedenfalls für eine alleinstehende Frau ohne familiäres Netzwerk zusätzlich maßgeblich erschwert, wenn nicht zeitweise unmöglich ist. Von der Möglichkeit einer Sicherung des Existenzminimums kann unter diesen Umständen nach Überzeugung der Kammer im vorliegenden Einzelfall nicht ausgegangen werden (vgl. so bereits Urteil der Kammer vom 12. August 2020 – VG 8 K 1507/19.A -, juris Rn. 36 ff.).
Die Kostenentscheidung für das nach § 83 b AsylG gerichtskostenfreie Verfahren beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Einer Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag bedarf es angesichts der tenorierten Kostenentscheidung zu Lasten der Antragsgegnerin nicht mehr.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.