Gericht | VG Cottbus 8. Kammer | Entscheidungsdatum | 03.11.2021 | |
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Aktenzeichen | 8 K 306/17.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2021:1103.8K306.17.A.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 60 Abs 5 AufenthG, Art 3 MRK |
Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat.
Im Übrigen wird die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. Januar 2017 verpflichtet, festzustellen, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Kläger begehrt zuletzt noch die Feststellung eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans.
Der 1995 geborene Kläger, bei dem es sich nach eigenen Angaben um einen afghanische Staatsangehörigen hazarischer Volkszugehörigkeit und schiitischen Glaubens handelt, reiste im November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 16. März 2016 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) Asyl.
In seiner Anhörung vor dem Bundesamt gab der Kläger an, er stamme aus Mazar-e Sharif in Afghanistan, sei aber bereits als kleines Kind mit seinen Eltern in den Iran gegangen und habe dort bis zu seiner Ausreise im Jahr 2015 gelebt. Afghanistan kenne er nicht und spreche auch die Sprache nicht gut. In Afghanistan lebten nur noch weit entfernte Verwandte, zu denen er keinen Kontakt habe. Sein Vater sei bereits verstorben, seine Mutter lebe nach wie vor im Iran. Im Iran habe er fünf Jahre lang die Schule besucht und danach in einem Hotel und später auf dem Bau gearbeitet. Seine wirtschaftliche Lage sei durchschnittlich gewesen. Seine Ausreise habe seine Mutter finanziert, indem sie Geld von ihrem Bruder geliehen habe. Weiter gab der Kläger unter Vorlage verschiedener ärztlicher Berichte an, unter diversen gesundheitlichen Problemen zu leiden. Neben psychischen Problemen und Depressionen leide er unter Epilepsie, wegen der er schon im Iran in ärztlicher Behandlung gewesen sei und Tabletten genommen habe. Auch in Deutschland habe er deshalb bereits Medikamente (Valproat – 1 A Pharma mit dem Wirkstoff Natriumvalproat) verschrieben bekommen. Diese Tabletten wirkten besser als die aus dem Iran. Er habe seitdem auch keine Anfälle mehr gehabt.
Mit Bescheid vom 26. Januar 2017 versagte das Bundesamt dem Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1) und lehnte sowohl die Anträge auf Asylanerkennung (Ziffer 2) als auch die Zuerkennung subsidiären Schutzes (Ziffer 3) ab. Gleichzeitig stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorlägen (Ziffer 4). Außerdem forderte es den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen und drohte ihm für den Fall der Nichteinhaltung dieser Frist die Abschiebung nach Afghanistan an (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
Zur Begründung des Bescheides führte das Bundesamt u.a. aus, dass nicht ersichtlich sei, warum es dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht möglich sein solle, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, durch die er auch ohne vorhandenes Vermögen in der Lage wäre, ein Leben jedenfalls am Rande des Existenzminimums zu führen. Die vom Kläger vorgetragenen Erkrankungen könnten zudem auch in Afghanistan in einer Weise behandelt werden, die es ausschließe, dass es zu einer erheblichen konkreten Gefahr für die Gesundheit des Klägers komme.
Am 10. Februar 2017 hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben, mit der er zunächst auch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und – hilfsweise – des subsidiären Schutzes begehrt hat.
Nach Rücknahme der Klage im Übrigen beantragt der Kläger nunmehr noch,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides 26. Januar 2017 zu verpflichten, festzustellen, dass für ihn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid und führt ergänzend aus, dass allein der Umstand, dass es sich bei dem Kläger um einen sog. „faktischen Iraner“ handele, bei einem jungen, gesunden Erwachsenen nicht zur Annahme eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG führen könne. Dem Kläger sei es auch ohne bestehendes Netzwerk möglich, jedenfalls in Kabul sein Überleben zu sichern. Hinsichtlich des Gesundheitszustandes des Klägers lägen keine Atteste vor, so dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ebenfalls nicht in Betracht komme.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und den seitens des Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgang verwiesen. Diese Unterlagen waren ebenso wie die von dem Gericht in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) einzustellen.
Im Übrigen ergeht die Entscheidung gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung, nachdem sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben.
Soweit der Kläger die Klage aufrechterhalten hat, hat diese auch in der Sache Erfolg.
Die Ziffern 4 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes vom 26. Januar 2017 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Denn der Kläger hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach § 77 Abs. 1 S. 1 2. Hs. des Asylgesetzes (AsylG) maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG.
Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wegen der Unvereinbarkeit mit Art. 3 EMRK insbesondere dann der Fall, wenn ernsthafte und stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung der tatsächlichen Gefahr der Todesstrafe, der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre (vgl. EGMR, Urteil vom 12. Januar 2016 – Nr. 13442/98 – A.G.R. v. die Niederlande –, NVwZ 2017, 293 ff. Rn. 54; Urteil vom 28. Juni 2011 – Nr. 8319/07 – Sufi u. Elmi v. Vereinigtes Königreich –, NVwZ 2012, 681 ff. Rn. 212).
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine erniedrigende Behandlung darstellen. Die Voraussetzungen, unter denen dies der Fall ist, sind davon abhängig, ob es für die schlechten Verhältnisse einen verantwortlichen Akteur gibt. Ist dies – wie nach einhelliger Auffassung in Afghanistan – nicht der Fall, kann ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK nur in besonderen Ausnahmefällen angenommen werden, in dem die humanitären Gründe gegen eine Abschiebung „zwingend“ sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Oktober 2012 – 10 B 16.12 –, juris Rn. 8; EGMR, Urteil vom 27. Mai 2008 – Nr. 26565/05 – N. v. Vereinigtes Königreich –, NVwZ 2008, 1334 ff. Rn. 42). Insofern ist zu berücksichtigen, dass Art. 3 EMRK keinen Anspruch auf Verbleib in einem Mitgliedstaat gewährt, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren. Ebenso wenig folgt aus der Vorschrift die Verpflichtung der Vertragsstaaten, Ausländer finanziell zu unterstützen oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund liegt auch bei einer starken Verschlechterung der Lebensverhältnisse im Fall einer Abschiebung noch kein Verstoß gegen Art. 3 EMRK vor (vgl. EGMR, Beschluss vom 2. April 2013 – Nr. 27725/10 – Mohammed Hussein u.a. v. die Niederlande und Italien –, juris Rn. 70 f.; Urteil vom 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09 – M.S.S. v. Belgien und Griechenland –, juris Rn. 249) und scheidet die Annahme eines Abschiebungsverbotes aus, wenn der Rückkehrer durch Gelegenheitsarbeiten ein – wenn auch nur kümmerliches – Einkommen erzielen und damit ein Leben jedenfalls am Rande des Existenzminimums finanzieren kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Oktober 2012 – 10 B 16/12 –, juris Rn. 10; Hamburgisches OVG, Urteil vom 25. März 2021 – 1 Bf 388/19.A –, juris Rn. 50). Demgegenüber ist eine Abschiebung wegen eines Verstoße gegen Art. 3 EMRK unzulässig, wenn sie dazu führt, dass ein Rückkehrer unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihm nicht einmal mehr erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere sich zu ernähren, zu waschen und eine Unterkunft zu finden („Bett, Brot, Seife“), so dass er einem Zustand der Verelendung ausgesetzt wird (vgl. zu Art. 4 EU-GR-Charta, wenn auch im Rahmen von Rückführungen innerhalb der Europäischen Union: EuGH, Urteile vom 19. März 2019 – C-297/17 –, juris Rn. 89/90 und – C-163/17 –, juris Rn. 92 unter Bezugnahme auf EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – Nr. 30696/09 – M.S.S. v. Belgien und Griechenland –, juris Rn. 252 ff.). |
Für die Beurteilung der Frage, ob dem Ausländer eine entsprechende Gefahr droht, sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen, wobei in einem ersten Schritt die Situation am Zielort der Abschiebung zu prüfen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris Rn. 26). Dies ist hier Kabul, wohin die in der jüngeren Vergangenheit durchgeführten Abschiebungsflüge nach Afghanistan ausnahmslos führten (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17 –, juris Rn. 202 f.).
Gemessen an diesem Maßstab ergibt sich unter Berücksichtigung der landesweit schon seit längerem bestehenden desolaten humanitären Lebensverhältnisse in Afghanistan, die sich durch die weltweit aufgetretene COVID-19-Pandemie nochmals verschärft haben, sowie in Ansehung der aktuellen Entwicklungen seit der Machtübernahme durch die Taliban in der individuellen Situation des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
Die wirtschaftliche und humanitäre Lage in Afghanistan stellte sich vor der Machtübernahme durch die Taliban zusammenfassend wie folgt dar:
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und erheblicher Anstrengungen der afghanischen Regierung belegte es im Jahr 2020 lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Indexes. Das Wirtschaftswachstum bewegte sich in den letzten Jahren im unteren einstelligen Bereich und betrug im Jahr 2019 etwa 2,9 % (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 9. April 2021, S. 326 f.). Dem steht ein rapides Bevölkerungswachstum von etwa 2,3 % im Jahr (d.h. Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation) gegenüber, das es dem afghanischen Staat bereits vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 nahezu unmöglich gemacht hat, alle Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung angemessen zu befriedigen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 16. Juli 2020, Stand: Juni 2020, S. 22).
Der Zugang zu sauberem Wasser und zu Sanitäranlagen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren zwar erheblich verbessert, wobei er in den Städten besser ist als auf dem Land. Trotz dieser Verbesserungen bleibt der Zugang zu Trinkwasser aber ein Problem. Gerade in Kabul haben nur 32 % der Einwohner Zugang zu fließendem Wasser und nur 10 % der Einwohner haben Zugang zu fließendem Trinkwasser. Jene, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Bewohner sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oftmals weit von ihrer Unterkunft entfernt liegen. Darüber hinaus ist die Hälfte der Brunnen und Zapfstellen durch Abwässer verschmutzt, die in den Fluss Kabul eingeleitet werden. Etwa 50 % der Afghanen haben Zugang zu einfachen Sanitäranlagen (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, December 2020, S. 168; EASO, Afghanistan, Sozioökonomische Schlüsselindikatoren mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat, April 2019, S. 64).
Obwohl der Großteil der afghanischen Bevölkerung noch auf dem Land lebt, hat Afghanistan eine der weltweit höchsten jährlichen Stadtbevölkerungswachstumsraten. Schätzungen schwanken zwischen 3,4 und 4,4 % jährlich. Diese hohe Wachstumsrate beruht neben dem natürlichen Bevölkerungswachstum auch auf einer hohen Anzahl von Binnenflüchtlingen und Rückkehrern. Der Großteil der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, December 2020, S. 168; EASO, Afghanistan, Sozioökonomische Schlüsselindikatoren mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat, April 2019, S. 62). In Kabul leben etwa 70 % der Bevölkerung in informellen Siedlungen, in denen die Bevölkerungsdichte bis zu doppelt so hoch ist wie in anderen Teilen der Stadt. Zwar haben diese informellen Siedlungen dazu geführt, dass eine große Obdachlosenkrise ausblieb, das unkontrollierte Wachstum hat jedoch auch bestehende Probleme, wie das Fehlen der Kanalisation und die unzureichende Müllentsorgung, verschärft (Afghanistan, Sozioökonomische Schlüsselindikatoren mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat, April 2019, S. 66). Eine andere Unterbringungsalternative sind Teehäuser, die zwischen 30 und 100 Afghani pro Nacht kosten und als vorübergehende Unterkunft von Reisenden, Tagelöhnern, Straßenverkäufern, jungen Leuten, alleinstehenden Männern und anderen Personen ohne dauerhafte Unterkunft in der Gegend genutzt werden (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, June 2019, S. 133), während des Lockdowns allerdings vorübergehend geschlossen waren (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 9. April 2021, S. 13). Die COVID-19-Pandemie hat insgesamt nicht zu steigenden Preisen auf dem Wohnungsmarkt geführt (Schwörer, Gutachten zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in Afghanistan, 30. November 2020, S. 12).
Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, bleibt aber im regionalen Vergleich zurück. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Berichten der Weltgesundheitsorganisation zufolge haben 87 % der Bevölkerung Zugang zu rudimentärer medizinsicher Grundversorgung innerhalb von zwei Stunden. Nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen stellen über das Weltbank-Projekt „Sehatmanti“ 90 % der medizinischen Versorgung. Insofern sieht Human Rights Watch Anzeichen dafür, dass der Rückgang internationaler Mittel einen negativen Effekt auf die Gesundheitsversorgung hat. Eine medizinische Versorgung in staatlicher Verantwortung findet demgegenüber kaum bis gar nicht statt. Gemäß Art. 52 der Verfassung ist die medizinische Grundversorgung für alle Staatsangehörigen zwar kostenlos, die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung sind jedoch durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenzpersonal, mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt und korruptionsanfällig. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Patientinnen und Patienten müssen vermehrt auch für Materialkosten der Behandlungen aufkommen. Im Zuge der COVID-19-Pandemie trat die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des Gesundheitssystems deutlich zutage und wurde weiter verschärft (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, December 2020, S. 69 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021, Stand: Mai 2021, S. 23).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist seit Langem durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert. Haupttätigkeitsfeld ist die Landwirtschaft. Darüber hinaus gibt es einen großen Anteil von Selbständigen oder Personen, die im Familienbetrieb arbeiten, was auf ein hohes Maß an Informalität hindeutet. Dabei ist die Stadt Kabul grundsätzlich der Dreh- und Angelpunkt für Handel und Arbeit in Afghanistan. Es gibt eine wirtschaftlich aktive Bevölkerung, die in Berufen im Bereich des Handels, der Dienstleistungen und der Grundversorgung tätig ist. Festanstellungen sind hier – anders als im ländlichen Raum – häufiger anzutreffen. Insgesamt sind auch die Löhne in Kabul höher als in anderen Landesteilen, wobei dies insbesondere für Personen gilt, die für ausländische Organisationen arbeiten (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, December 2020, S. 171; EASO, Afghanistan, Sozioökonomische Schlüsselindikatoren mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat, August 2020, S. 35). Dennoch sind etwa 80% der vorhandenen Arbeitsstellen als prekär zu qualifizieren mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen. Dies gilt insbesondere für Tagelöhner, die sich in unbestimmter Zahl an belebten Straßenkreuzungen der Stadt versammeln und dort nach Arbeit suchen, die, wenn sie gefunden wird, ein Leben von der Hand in den Mund ermöglicht (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 9. April 2021, S. 334 f.).
Die Angaben zur Arbeitslosenquote schwanken und sind angesichts dessen, dass es ohnehin wenig formale Beschäftigungsverhältnisse gibt, wenig verlässlich. Sicher erscheint aber, dass Afghanistan weltweit eine der niedrigsten Beschäftigungsraten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung aufweist. Etwa 54% der afghanischen Bevölkerung befinden sich im arbeitsfähigen Alter. Aufgrund des Bevölkerungswachstums streben Jahr für Jahr schätzungsweise zwischen 400.000 und 600.000 Personen auf den Arbeitsmarkt, die Beschäftigungsmöglichkeiten können jedoch aufgrund unzureichender wirtschaftlicher Entwicklung und schlechter Sicherheitslage nicht mit dem Bevölkerungswachstum mithalten (Schwörer, Gutachten zu den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Lage in Afghanistan, 30. November 2020, S. 17; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 9. April 2021, S. 334 f.). Bereits vor Ausbruch der Pandemie bestand deshalb gerade für ungelernte Kräfte ein hoher Konkurrenzkampf um die wenigen verfügbaren Arbeitsstellen, was auch Rückkehrer aus dem Ausland vor große Herausforderungen stellte. In den Jahren 2016 und 2017 waren ungelernte Hilfstätigkeiten die Haupteinkommensquelle für Rückkehrer und im Jahr 2017 beschrieben mehr als 24 % der Rückkehrer das Finden einer Verdienstmöglichkeit als überwältigende Herausforderung (EASO, Afghanistan, Sozioökonomische Schlüsselindikatoren mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat, April 2019, S. 34).
Eine besondere Rolle beim Finden einer Erwerbsmöglichkeit spielen nach einhelliger Erkenntnislage persönliche Kontakte bzw. unterstützende Netzwerke (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021, Stand: Mai 2021, S. 24; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 9. April 2021, S. 335). Dies kann zum einen die Großfamilie sein, jedoch auch Netzwerke aufgrund eines gemeinsamen Hintergrunds, gemeinsamer Arbeit oder gleichen Bildungsstands. So wird berichtet, dass Siedlungen in Kabul oftmals aus Personen bestehen, die einen gemeinsamen räumlichen oder ethnischen Hintergrund haben und die sich ausschließlich aufeinander verlassen, um Unterkunft und Verdienstmöglichkeiten zu finden (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, Dezember 2020, S. 171). Diese Abhängigkeit der Verdienstmöglichkeiten von der Existenz eines familiären bzw. sozialen Netzwerkes hat durch die COVID-19-Pandemie eine noch größere Rolle eingenommen, da es aufgrund des mit der Pandemie verbundenen wirtschaftlichen Einbruchs weniger Gelegenheitsarbeiten für Tagelöhner, Händler und Wanderarbeiter gibt, während der Konkurrenzkampf um die vorhandenen Tätigkeiten gleichzeitig zugenommen hat (vgl. Schwörer, Gutachten zu den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Lage in Afghanistan, 30. November 2020, S. 16).
Die COVID-19-Pandemie hat die afghanische Wirtschaft schwer und nachhaltig getroffen. Insgesamt schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 um 1,9 %, wobei ein größerer Einbruch im Industrie- bzw. Dienstleistungssektor nur durch ein u. a. witterungsbedingtes Wachstum in der Landwirtschaft abgefedert werden konnte (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021, Stand: Mai 2021, S. 20).
Der von der afghanischen Regierung zunächst verhängte Lockdown und die geschlossenen Grenzen hatten negative Auswirkungen auf Konsumverhalten, Exporte, Produktion, Einkünfte durch Auslandsüberweisungen und Staatseinnahmen durch Steuereinnahmen. Besonders betroffen vom Nachfragerückgang mit der Folge von Arbeitsplatzverlusten war dabei der Bausektor, in dem zuvor viele Afghanen in den Städten als Tagelöhner Beschäftigung fanden. Nach Einschätzung von Frau Schwörer in Ihrem auf Anfrage des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg erstellten Gutachten waren die Tagelöhner die Ersten, die vom Wegfall der Arbeitsmöglichkeiten betroffen waren (Schwörer, Gutachten zu den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Lage in Afghanistan, 30. November 2020, S. 15 und S. 17).
Gleichzeitig kam es im Rahmen der Pandemie zu einer überdurchschnittlichen Rückkehr von Arbeitsmigranten aus den Nachbarländern Afghanistans, was die Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt weiter verschärft hat. So wurde bei der Zahl der Rückkehrer aus dem Iran mit 860.000 Personen im Jahr 2020 ein neuer Höchststand erreicht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021, Stand: Mai 2021, S. 24; Schwörer, Gutachten zu den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Lage in Afghanistan, 30. November 2020, S. 18).
Zwar sind die Lockdown-Maßnahmen zwischenzeitlich aufgehoben und die Grenzen für das Im- und Export-Geschäft wieder geöffnet. Die afghanische Wirtschaft konnte sich bisher aber nicht nachhaltig von den Folgen der Pandemie erholen. Eine entsprechende Entwicklung wird voraussichtlich mehrere Jahre dauern, zumal sich auch die unsichere politische Entwicklung negativ auf notwenige Investitionen auswirkt (International Organization for Migration, Information on the socio-economic situation in the light of COVID-19 in Afghanistan, March 2021, S. 6; zu den „düsteren“ wirtschaftlichen Aussichten vgl. auch Schwörer, Gutachten zu den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die Lage in Afghanistan, 30. November 2020, S. 17).
Zwischenzeitlich hat sich die Gesundheitskrise zu einer Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise entwickelt. Den eingeschränkten Erwerbsmöglichkeiten und dem gesunkenen Lohnniveau stehen erhöhte Lebensunterhaltungskosten bzw. Nahrungsmittelpreise gegenüber. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um 17 % stiegen. Aufgrund verschiedener Maßnahmen haben sich die Preise mit Stand März 2021 zwar wieder stabilisiert, dies allerdings auf einem nach wie vor hohen Niveau, das – bezogen auf Weizen – 11 % über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag (International Organization for Migration, Information on the socio-economic situation in the light of COVID-19 in Afghanistan, March 2021, S. 7; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 9. April 2021, S. 15).
Nach Einschätzungen von UNOCHA hat die Nahrungsmittelunsicherheit, die sich seit 2011 ohnehin kontinuierlich verschlechtert hat, im Jahr 2021 einen ähnlichen Schweregrad erreicht wie während der Dürre 2018/2019 (UNOCHA, Humanitarian Needs Overview Afghanistan 2021, Dezember 2020, S. 6; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 9. April 2021, S. 330). Schätzungsweise 11 Millionen Menschen - fast ein Drittel der Bevölkerung – waren bereits zwischen März und Mai 2021 von akuter Nah-rungsmittelunsicherheit betroffen. Das Auswärtige Amt ging zudem bereits im Sommer 2021 davon aus, dass sich die Situation aufgrund einer für dieses Jahr erwarteten Dürre ab dem Spätherbst noch einmal verschlechtern werde (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021, Stand: Mai 2021, S. 21). Auch UNOCHA berichtete, dass mit einem neuerlichen Anstieg der Lebensmittelpreise zu rechnen sei (UNOCHA, Strategic Situation Report: COVID-19, No. 102 vom 29. Juli 2021, S. 2).
Die Armutsrate in den Städten, die bereits zuvor auf mehr als 45 % angewachsen war, dürfte nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes im Laufe des Jahres 2020 ebenfalls weiter angestiegen sein (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021, Stand: Mai 2021, S. 20). Für das Jahr 2021 geht die Weltbank von einem Anstieg auf 61 % bis – ungünstigsten Falls – 73 % aus (EASO, Afghanistan, Sozioökonomische Schlüsselindikatoren mit Schwerpunkt auf den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat, August 2020, S. 34). UNOCHA rechnet damit, dass im Jahr 2021 93 % der afghanischen Bevölkerung von weniger als 2 US-Dollar/Tag leben werden, was der Armutsgrenze nahekommt. Von Armut bedroht sind dabei in besonderem Maße städtische Haushalte, deren Erwerbstätigkeit von den Lockdown-Maßnahmen betroffen war, wie Einzelhandel und Tagelöhnertätigkeit (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, December 2020, S. 167).
Bereits im Jahr 2019 waren in Afghanistan 6,3 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Für das Jahr 2021 rechnet UNOCHA angesichts der vorstehend beschriebenen Lage damit, dass die Zahl der Personen, die keinen gesicherten Zugang zu Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und/oder medizinischer Versorgung haben, auf mehr als 18 Millionen (2020: 14 Millionen) ansteigen wird (UNOCHA, Humanitarian Needs Overview Afghanistan 2021, Dezember 2020, S. 6; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 15. Juli 2021, Stand: Mai 2021, S. 21).
Die vorstehend dargestellte Erkenntnislage hat die Rechtsprechung bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban mehrheitlich veranlasst anzunehmen, dass es jedenfalls einer sorgfältigen Prüfung im Einzelfall bedürfe, ob der jeweilige Asylantragsteller ausreichend leistungsstark, belastbar und durchsetzungsfähig ist, um seine Existenz im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zu sichern oder ob aus anderen Gründen sein Überleben hinreichend wahrscheinlich ist, z.B. da er über Aufnahme und Versorgung in einem familiären Netzwerk oder hinreichende finanzielle Mittel verfügt (in diese Richtung, wenn auch mit unterschiedlichen Nuancen: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. Dezember 2020 – A 11 S 2042/20 –, juris Rn. 104 ff.; OVG Bremen, Urteil vom 24. November 2020 – 1 LB 351/20 –, juris Rn. 28 ff. und Urteil vom 22. September 2020 – 1 LB 258/20 –, juris Rn. 43 ff.; VG Cottbus, Urteil vom 24. April 2021 – 3 K 794/17.A –, juris Rn. 64; VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 26. Februar 2021 – 1 A 53/19 –, juris Rn. 34; Anders: Bayerischer VGH, Urteil vom 26. Oktober 2020 – 13a B 20.31087 – juris Rn. 42 ff. und Hamburgisches OVG, Urteil vom 25. März 2021 – 1 Bf 388/19.A –, juris Rn. 52 ff., die (weiterhin) davon ausgingen, dass für männliche alleinstehende und arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige generell nicht die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben seien).
Seither hat sich die sozioökonomische Lage in Afghanistan nicht verbessert. Im Gegenteil hat sich die humanitäre Situation im Land aufgrund der Machtübernahme der Taliban noch einmal weiter verschärft (vgl. zum Nachstehenden auch schon: Urteil der Kammer vom 2. November 2021 – VG 8 K 2218/16.A –, zur Veröffentlichung bei juris vorgesehen; VG Cottbus, Urteile der 3. Kammer vom 15. September 2021 – VG 3 K 2963/17.A – und vom 22. Oktober 2021 – VG 3 K 992/17.A sowie Urteil der 9. Kammer vom 14. September 2021 – VG 9 K 707/19.A –, alle n.v.).
Nach der Übernahme des Landes, einschließlich der Hauptstadt Kabul, durch die Taliban, ist die politische und auch die humanitäre Lage weiterhin unübersichtlich was etwaige Lebensgefahren, Reisemöglichkeiten an sichere Zufluchtsorte (sofern diese bestehen mögen), Möglichkeiten der Kontaktaufnahme zu Familien, Arbeitsbeschaffung etc. angeht (so auch: VG Düsseldorf, Urteil vom 30. August 2021 – 25 K 3504/18.A –, juris Rn. 44 ff.; Beschluss vom 18. August 2021 – 21 L 1606/21.A –, juris Rn. 113 ff.; VG Dresden, Beschluss vom 17. August 2021 – 5 L 603/21.A –, juris Rn. 28).
Es bestehen nur wenige Erkenntnismittel zur aktuellen Lage, aus denen sich zusammengefasst folgendes Bild ergibt:
Die wirtschaftliche Lage Afghanistans hat sich seit der Machtübernahme der Taliban noch einmal zusehends verschlechtert und steht nunmehr vor dem vollständigen Kollaps (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan vom 22. Oktober 2021, Stand: 21. Oktober 2021, S. 5 und S. 14).
Der Internationale Währungsfond befürchtet, dass das Bruttoinlandsprodukt in naher Zukunft um 30 % einbrechen könnte (BAMF, Briefing Notes vom 25. Oktober 2021, S. 2 f.).
Besonders besorgniserregend ist die Lebensmittelknappheit. Die bereits zuvor angestiegenen Lebensmittelpreise sind aufgrund der instabilen politischen Lage, Dürre und Wasserknappheit weiter angestiegen (UK Home Office, Country Policy and Information Note, Afghanistan: Security and humanitarian situation, Version 8.0, October 2021, S. 44 f.; Human Rights Watch, Afghanistan: Humanitarian Crisis Needs Urgent Response, 3. September 2021, abrufbar unter https://www.hrw.org/news/2021/09/03/afghanistan-humanitarian-crisis-needs-urgent-response). Anfang Oktober 2021 wurde berichtet, dass sich die Nahrungsmittelpreise seit Mitte August verdoppelt hätten (BAMF, Briefing Notes vom 4. Oktober 2021, S. 2). Die International Crisis Group geht davon aus, dass die Lebensmittel in vielen Städten knapp werden. In Kabul, wo Arbeitsplatzverluste und wachsende Inflation es noch schwieriger gemacht hätten, Lebensmittel und andere Waren zu erwerben, sei der Druck für die Bevölkerung besonders groß. Die Preise für Gemüse auf dem Kabuler Markt sollen danach in den letzten Wochen um 50 % gestiegen sein (International Crisis Group, Afghanistan’s Growing Humanitarian Crisis, 2. September 2021, abrufbar unter https://www.crisisgroup.org/asia/south-asia/afghanistan/afghanistans-growing-humanitarian-crisis). Andere Quellen verweisen sogar auf eine Preissteigerung bis zu 63 % für Waren wie Mehl, Öl, Bohnen und Gas (Save the Children, Afghanistan: Price Hikes Push Food Out Of Reach For Millions Of Children, 24. August 2021, abrufbar unter https://www.savethechildren.net/news/afghanistan-price-hikes-push-food-out-reach-millions-children).
Gleichzeitig ist der Zugang zu Bargeld nach wie vor eingeschränkt, die meisten Banken bleiben geschlossen (BAMF, Briefing Notes vom 6. September 2021, S.1). Die afghanische Zentralbank, die nun unter der Kontrolle der Taliban steht, wurde vom internationalen Bankensystem abgeschnitten und hat keinen Zugang mehr zu den Devisenreserven des Landes. Der Internationale Währungsfonds hat Afghanistan, Berichten zufolge auf Ersuchen der USA, ebenfalls den Zugang zu Krediten und Vermögenswerten verwehrt, darunter Sonderziehungsrechte im Wert von etwa 440 Millionen US-Dollar, die die Bank als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie zugeteilt hat. Frühere Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, in denen Sanktionen und andere Beschränkungen gegen die Taliban wegen terroristischer Handlungen verhängt wurden, verhindern, dass die afghanische Zentralbank neues afghanisches Papiergeld erhält, das in Europa gedruckt wird (Human Rights Watch, Afghanistan: Humanitarian Crisis Needs Urgent Response, 3. September 2021, abrufbar unter: https://www.hrw.org/news/2021/09/03/afghanistan-humanitarian-crisis-needs-urgent-response). Soweit die Banken überhaupt geöffnet haben, bilden sich Presseberichten zufolge lange Schlangen und sind Abhebungen nur sehr begrenzt möglich (vgl. https://www.finanzen.net/nachricht/devisen/insider-afghanischen-banken-geht-das-geld-aus-10535399).
Das Welternährungsprogramm geht angesichts der vorstehend beschriebenen Lage davon aus, dass ab November 2021 etwa 22,8 Millionen Menschen, d.h. etwa die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans, von Lebensmittelunsicherheit betroffen sein könnten. Außerdem wird erwartet, dass die Lebensmittelvorräte im Laufe des harten afghanischen Winters aufgebraucht werden könnten (World Food Programme, Situation Report, 27. Oktober 2021, abrufbar unter https://reliefweb.int/report/afghanistan/wfp-afghanistan-situation-report-27-october-2021).
Währenddessen sind humanitäre und sonstige Hilfe der UN-Organisationen und Nichtregierungsorganisationen aufgrund von Sicherheitsbedenken, der Evakuierung von Mitarbeitern, der Schließung von Einrichtungen und rechtlicher Unsicherheiten weiterhin stark eingeschränkt. Wie die meisten anderen Länder hat auch Deutschland die staatlichen Entwicklungshilfen für Afghanistan ausgesetzt (https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-afghanistan-103.html#Bundesregierung-setzt-Entwicklungshilfe-fuer-Afghanistan-aus). Die von der Bundesrepublik geförderten humanitären Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen wurden aus Sicherheitsgründen ebenfalls eingestellt (Bericht über die Lage in Afghanistan vom 22. Oktober 2021, Stand: 21. Oktober 2021, S. 7). So musste bspw. auch die Internationale Organisation für Migration die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration aussetzen (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation, Aktuelle Lage in Afghanistan, 17. August 2021, S.3).
Um dennoch eine humanitäre Katastrophe abzuwenden, hat die UN-Geberkonferenz eine Nothilfe in Höhe von 1,2 Milliarden US-Dollar angekündigt, die – jedenfalls was die kurzfristige Nothilfe angeht – auch nicht an Bedingungen geknüpft sein soll (ntv, Maas sagt Afghanistan 100 Millionen Euro zu, 13. September 2021, abrufbar unter https://www.n-tv.de/politik/Maas-sagt-Afghanistan-100-Millionen-Euro-zu-article22801156.html). Auf dem G20-Gipfel, der jüngst stattfand, versprach Deutschland zudem weitere humanitäre Hilfen in Höhe von 600 Millionen Euro. Auch die EU sicherte eine Milliarde an Hilfsgeldern für Afghanistan und die Nachbarländer zu, die afghanische Flüchtlinge beherbergen (BAMF, Briefing Notes vom 18. Oktober 2021, S. 2). Nach dem Willen des Auswärtigen Amtes sollen die von Deutschland zugesagten Mittel insbesondere über die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen zu den Menschen gebracht werden (vgl. https://www.auswaertiges-amt.de/aussenpolitik/laender/afghanistan-node/huhi-afghanistan/2487336; https://www.n-tv.de/politik/Maas-sagt-Afghanistan-100-Millionen-Euro-zu-article22801156.html).
Zwar mögen die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auch unter Berücksichtigung der vorstehend dargestellten Entwicklungen nach wie vor nicht für jeden Rückkehrer erfüllt sein; Aufgrund der Lage nach der Machtübernahme durch die Taliban, die maßgeblich durch einen nahezu vollständigen Kollaps des wirtschaftlichen Lebens geprägt ist, ist zur Überzeugung der Einzelrichterin aber jedenfalls eine besonders sorgfältige Prüfung dahingehend geboten, ob es dem Asylantragsteller im Falle einer Rückkehr tatsächlich gelingen wird, in Afghanistan ein Leben wenigstens am Rande des Existenzminimums zu führen. Vor dem Hintergrund der nur noch sehr eingeschränkten Möglichkeiten der Erwerbstätigkeit liegt eine entsprechende Annahme insbesondere dann nahe, wenn der Rückkehrer trotz der zu verzeichnenden Binnenfluchtbewegungen Aufnahme und Versorgung in einem erreichbaren familiären Netzwerk finden kann und/oder über umfangreiche finanzielle Mittel verfügt (so auch schon: Urteil der Kammer vom 2. November 2021 – VG 8 K 2218/16.A –, zur Veröffentlichung bei juris vorgesehen; VG Cottbus, Urteile der 3. Kammer vom 15. September 2021 – VG 3 K 2963/17.A – und vom 22. Oktober 2021 – VG 3 K 992/17.A sowie Urteil der 9. Kammer vom 14. September 2021 – VG 9 K 707/19.A –, alle n.v), was allerdings selbst nach Einschätzung des Bundesamtes nur noch in Einzelfällen der Fall sein dürfte (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan vom 22. Oktober 2021, Stand: 21. Oktober 2021, S. 14).
Dies zugrunde gelegt ist für den Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzunehmen, da er weder noch in der Lage sein wird, sein Überleben durch Erwerbstätigkeit zu sichern, noch über ein erreichbares familiäres Netzwerk und/oder sonstige Vermögenswerte verfügt,
Angesichts des nahezu vollständigen Zusammenbruchs des wirtschaftlichen Lebens in Afghanistan sprechen zunächst stichhaltige Gründe für die Annahme, dass es dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nicht gelingen würde, sich durch Erwerbstätigkeit auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen, auch wenn er ein alleinstehender und jungen Mann ist. Insofern ist zunächst zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Kläger nach seinen unwidersprochen gebliebenen Angaben um einen sog. „faktischen Iraner“ handelt, der Afghanistan bereits als kleines Kind verlassen hat und seitdem nicht mehr dort gewesen ist. Das Gericht hat keinen Anhalt an diesen Angaben zu zweifeln. Für den Kläger ist Afghanistan damit ein unbekanntes Land, mit dessen kulturellen Gepflogenheiten er nicht vertraut ist und in dem er im Falle einer Rückkehr – ungeachtet etwaiger vorhandener Sprachkenntnisse – aufgrund seiner Aussprache, Kleidung und seines Verhaltens leicht als „fremd“ zu erkennen sein wird (vgl. zu diesem Gesichtspunkt bereits: VG Cottbus, Urteil vom 28. Dezember 2020 – 3 K 2310/16.A –, juris Rn. 46). Der Kläger hat im Iran zudem nur fünf Jahre eine Schule besucht und berufliche Erfahrungen lediglich in einem Hotel und auf dem Bau gesammelt. Hierbei handelt es sich ersichtlich nicht um Tätigkeiten, die ihn gegenüber der Konkurrenz hervorstechen ließen. Wie es dem Kläger vor diesem Hintergrund angesichts der derzeitigen Situation in Afghanistan gelingen soll, sich gegenüber Einheimischen und Binnenflüchtlingen auf dem Tagelöhnermarkt – sofern dieser in seiner bisherigen Form überhaupt noch existieren sollte – in einer Weise durchzusetzen, die es ihm ermöglichten, sich zeitnah mit Nahrung und Obdach zu versorgen, vermag das Gericht nicht zu erkennen. Dies gilt umso mehr angesichts dessen, dass der Kläger hazarischer Volkszugehöriger ist und damit einer Minderheit angehört, die zwar (derzeit) in Afghanistan nicht (mehr) verfolgt wird, aber gerade auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor Vorurteilen begegnet und Benachteiligungen ausgesetzt ist (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 9. April 2021, S. 280), die das Finden einer Verdienstmöglichkeit bereits zuvor erschwert haben und mit der Machtübernahme der Taliban jedenfalls nicht abgenommen haben dürften.
Der Kläger wird seine Existenz zudem auch nicht dadurch sichern können, dass er Aufnahme und Versorgung in einem familiären oder sozialen Netzwerk findet. Nach seinen unwidersprochen gebliebenen Angaben in der Anhörung vor dem Bundesamt verfügt der Kläger über keine Kontakte mehr in Afghanistan. Er wird derzeit schon angesichts des Zusammenbruchs des Bankensystems auch keine Unterstützung seitens seiner im Iran lebenden Mutter bekommen können. Ungeachtet dessen ist aber auch nicht ersichtlich, dass die Mutter über entsprechende Vermögenswerte überhaupt verfügt.
Auch sonstige finanzielle und materielle Unterstützung hat der Kläger derzeit nicht zu erwarten, nachdem das internationale Hilfssystem ausweislich der geschilderten Erkenntnislage weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Soweit in jüngerer Zeit humanitäre Hilfsleistungen zugesichert wurden, steht die internationale Gemeinschaft vor der Herausforderung, den Menschen die benötigte Hilfe zukommen zu lassen, ohne dabei die Taliban zu unterstützen. Auch wenn bspw. die Bundesregierung beabsichtigt, die Mittel über die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen zu den Menschen zu bringen, so bleibt angesichts auch deren nur eingeschränkt möglichen Tätigkeit vor Ort offen, wann die Hilfen die Bevölkerung tatsächlich erreichen und wie sie gegebenenfalls verteilt werden. Zudem dürften auch insoweit jedenfalls „technische Gespräche“ mit den Taliban erforderlich sein (so Außenminister Maas, vgl. https://www.n-tv.de/politik/Maas-sagt-Afghanistan-100-Millionen-Euro-zu-article22801156.html.) Dies berücksichtigend sieht das Gericht kein Grund für die Annahme, dass sich die humanitäre Lage in Afghanistan aufgrund internationaler Hilfszahlungen zeitnah deutlich verbessern wird oder gar der Kläger des hiesigen Verfahrens von entsprechenden Hilfen unmittelbar profitieren könnte.
Nach alledem kommt es nicht mehr darauf an, ob der Kläger tatsächlich an Epilepsie leidet, was ungeachtet der Nichtvorlage einer den Anforderungen des § 60 a Abs. 2 c) S. 2 und S. 3 AufenthG genügenden ärztlichen Bescheinigung wegen des dem Kläger verschriebenen Medikamtentes Valproat – 1 A Pharma und des Notarztberichtes vom 15. Mai 2016 allerdings naheliegen dürfte und sich gefahrerhöhend jedenfalls dann auswirken würde, wenn der Kläger die entsprechenden Medikamente – sei es mangels Verfügbarkeit oder entsprechender finanzieller Leistungsfähigkeit – in Afghanistan nicht erlangen könnte.
Nach alledem ist neben der Feststellung in Ziffer 4 des angefochtenen Bescheides auch die Androhung der Abschiebung nach Afghanistan unter Ziffer 5 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Denn nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AsylG darf eine Abschiebungsandrohung nicht erlassen werden, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen. Ebenso unterliegt die Befristungsentscheidung der Beklagten unter Ziffer 6 des Bescheides der Aufhebung.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO sowie § 83 b AsylG und berücksichtigt, dass die unterschiedlichen Streitgegenstände – erstens – Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, – zweitens – Zuerkennung subsidiären Schutzes und – drittens – Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote jeweils im Verhältnis 1:1:1 stehen (vgl. VG Cottbus, Urteil vom 8. Februar 2017 – 1 K 273/11.A –, juris Rn. 112 m.w.N.)
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 S. 2 Zivilprozessordnung.