Gericht | FG Berlin-Brandenburg 9. Senat | Entscheidungsdatum | 15.10.2020 | |
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Aktenzeichen | 9 V 9160/19 | ECLI | ECLI:DE:FGBEBB:2020:1015.9V9160.19.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Die Vollziehung des Haftungsbescheids vom 28. April 2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28. August 2018 wird ab Fälligkeit in Höhe eines Teilbetrags von 175 061,22 EUR bis zum Ablauf eines Monats nach Zustellung einer instanzabschließenden Entscheidung im Verfahren 9 K 9159/18 ausgesetzt.
Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Antragstellerin zu 26 v. H. und dem Antragsgegner zu 74 v. H. auferlegt.
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Antragsgegner die Antragstellerin als Geschäftsführerin einer B… S.L. wegen rückständiger Abgabenverbindlichkeiten betr. die Jahre 2006 bis 2008 in Höhe von insgesamt rund 238 000,00 EUR persönlich in Haftung nehmen kann.
Die B… S.L. ist eine „Sociedad (de Responsabilidad) Limitada“ (= S.L.), die ihren statuarischen Sitz in den Streitjahren in C… in Spanien (in räumlicher Nähe zur …) hatte. Seit dem 13. September 2006 ist die 1964 geborene Antragstellerin Geschäftsführerin. Sie war in den Streitjahren auch Alleingesellschafterin der B… S.L.. Ihr Vorgänger im Amt der Geschäftsführerin war Herr D…, der in der Gesellschafterversammlung vom 13. September 2006 von seinem Amt abberufen wurde.
Unternehmensgegenstand der B… S.L. ist die „Vermittlung von Gewerbeimmobilien und Grundstücken sowie die Überlassung eines Arbeitnehmers (Herr E… = Ehemann der Antragstellerin) an die F… GmbH & Co. KG und die F… GmbH & Co. KG.
Die Antragstellerin betrieb in den Jahren 2006 bis 2008 außerdem in H… (Bundesland Saarland) einzelunternehmerisch eine Boutique „…“ und in den Jahren 2007 bis 2009 in I… ebenfalls einzelunternehmerisch eine Boutique „…“ (vgl. Bericht der Steuerfahndungsstelle des Antragsgegners vom 30. Mai 2012 über die steuerlichen Feststellungen bei der Antragstellerin betr. die Jahre 2006 bis 2009).
Die B… S.L. wurde weder bei der Stadt I… noch beim Antragsgegner als Unternehmen angemeldet.
Die B… S.L. war ab dem 18. Mai 2006 als Kommanditistin zu 100 v. H. an einer J… GmbH & Co. KG mit Sitz in I… beteiligt. Die vorgenannte KG wurde beim Antragsgegner steuerlich veranlagt (StNr.: …).
Der Antragsgegner nahm eine Mitteilung aus dem eigenen Hause vom 19. November 2007 über Beteiligungseinkünfte der B… S.L. im Jahr 2006 an der vorgenannten KG in Höhe von 18 739,73 EUR zum Anlass, am 26. Februar 2008 einen Schätzungsbescheid betr. Körperschaftsteuer 2006 in Höhe von 4 684,00 EUR zu erlassen. Die sich daraus ergebende Steuerschuld wurde von der B… S.L. noch im selben Jahr getilgt.
Mit Schreiben vom 24. Juli 2008 forderte der Antragsgegner die B… S.L. auf, eine Körperschaftsteuererklärung für das Streitjahr 2007 bei ihm einzureichen. Daraufhin antwortete die Kanzlei K… aus L… mit Schreiben vom 12. September 2008 unter Beifügung einer schriftlichen Vollmacht von Herrn M…, dass die B… S.L. in Spanien Steuererklärungen einreichen würde. In Deutschland verfüge die Gesellschaft über keine Betriebsstätte.
Mit Schreiben vom 4. Oktober 2009 teilte die Antragstellerin dem Antragsgegner erneut mit, dass die B… S.L. nicht über eine deutsche Betriebsstätte verfüge. Sämtliche Unterlagen würden sich im Büro des Geschäftsführers, Herrn M…, in Spanien befinden. Das Schreiben des Antragsgegners sei dorthin weitergeleitet worden. Mit weiterem Schreiben des Rechtsanwalts M… vom 20. September 2009 bestätigte dieser ebenfalls gegenüber dem Antragsgegner, dass die B… S.L. in Deutschland über keine Betriebsstätte verfüge. Die Körperschaftsteuererklärung 2007 sei ordnungsgemäß in Spanien eingereicht worden.
Für die Jahre 2011 bis 2013 reichte die B… S.L. beim Antragsgegner Körperschaftsteuererklärungen ein, die folgende Betriebsergebnisse ausweisen:
Betriebsergebnisse:
2011
+ 113,00 EUR
2012
./. 89 996,72 EUR
2013
./. 158 992,00 EUR
Der Antragsgegner folgte den Angaben in den Körperschaftsteuererklärungen 2011 bis 2013 und setzte die Körperschaftsteuer jeweils auf 0,00 EUR fest.
Im Zeitraum 23. Oktober 2009 bis 30. Mai 2012 führte die Steuerfahndungsstelle des Antragsgegners bei der B… S.L. eine Steuerfahndungsprüfung betr. die Jahre 2006 bis 2009 durch (vgl. Bericht vom 30. Mai 2012). Nach Ansicht des Steuerfahndungsprüfers sei die B… S.L. in den Streitjahren in Deutschland aufgrund ihres dortigen Ortes der Geschäftsleitung unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig gewesen und habe Betriebseinnahmen aus folgenden Quellen erzielt:
- Einnahmen aus Gewerbebetrieb in den Jahren 2006 und 2007 als Kommanditistin einer J… GmbH & Co. KG mit Sitz in I… (Beteiligung: 100 v. H.)
- Provisionseinnahmen betr. Vermittlung von Grundstücksgeschäften hinsichtlich in Deutschland belegener Immobilien
- Einnahmen aus monatlichen Rechnungen gegenüber zwei Unternehmen betr. von Herrn E… erbrachten Dienstleistungen, Rechnungsadressaten waren die F… GmbH & Co. KG und die G… GmbH & Co. KG.
Die von der B… S.L. erbrachten monatlichen Leistungen (Gestellung von Personal) seien sonstige Leistungen im Sinne des § 3 Abs. 9 UStG. Der Ort der sonstigen Leistungen sei nach § 3a Abs. 4 Nr. 7 i. v. m. § 3a Abs. 3 Satz 1 UStG der Ort, wo der Empfänger der sonstigen Leistung sein Unternehmen betreibe, folglich im Inland. Die Leistungen seien daher nach § 1 Abs. 1 UStG steuerbar. Die von der B… S.L. vereinnahmten Provisionszahlungen würden ausnahmslos im Zusammenhang mit inländischen Grundstücksveräußerungen und –erwerben stehen und seien daher nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG i. V. m. § 3 Abs. 9 und § 3a Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b UStG steuerbar. Steuerfreiheiten seien nicht ersichtlich, so dass die erbrachten Leistungen auch steuerpflichtig seien.
Ein Übergang der Steuerschuldnerschaft auf die Leistungsempfänger im Sinne von § 13 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG komme nicht in Betracht, da der leistende Unternehmer nicht im Ausland ansässig sei. Nur wenn sich der Sitz und die Geschäftsleitung nicht im Inland befänden, gelte ein Unternehmer als im Ausland ansässig (§ 13b Abs. 4 Satz 1 UStG). Tatsächlich befinde sich die Geschäftsleitung aber im Inland.
Im Rahmen der Umsatzsteuerfestsetzungen für die Prüfungsjahre würden Vorsteuerabzugsbeträge nicht berücksichtigt werden. Insoweit werde zur Begründung auf den BFH-Beschluss vom 31. Juli 2007 – V B 156/06, Sammlung der Entscheidungen des BFH – BFH/NV – 2008, 416 verwiesen.
Einkünfte aus Gewerbebetrieb der B… S.L. lt. Steuerfahndungsbericht:
2006
2007
2008
F… GmbH & Co. KG und G… GmbH & Co. KG
Unkostenbeitrag:
7 x 3 000,00 EUR
21 000,00 EUR
„
: 9 x 3 000,00 EUR
27 000,00 EUR
„
: 3 x 3500,00 EUR
10 500,00 EUR
10 500,00 EUR
1 %- Regel Kfz
3 500,00 EUR
6 000,00 EUR
1 500,00 EUR
Kostenübernahme
210,02 EUR
Weiterberechnung an E…
./. 24 500,00 EUR
./ 43 500,00 EUR
./. 12 210,02 EUR
Provisionsrechnungen
78 532,00 EUR
321 578,95 EUR
J… GmbH & Co. KG
Gewinnbeteiligung
18 739,73 EUR
5 000,00 EUR
Summe:
97 271 73 EUR
326 578,95 EUR
0,00 EUR
Mangels Einreichung von Steuererklärungen seitens der B… S.L. beim Antragsgegner schätzte dieser u. a. die Besteuerungsgrundlagen betr. Umsatzsteuer 2006 – 2008 sowie Körperschaftsteuer 2007 anhand der Ausführungen im Steuerfahndungsbericht vom 30. Mai 2012 und erließ am 18. September 2012 entsprechende Bescheide.
Umsatzsteuer:
2006: Lieferungen u. sonstige Leistungen zu 16 %:
88 820,00 EUR
14 211,20 EUR
2007: „ „ „
365 078,00 EUR
69 364,82 EUR
2008: „ „ „
12 210,00 EUR
2 319,00 EUR
Körperschaftsteuer 2007 und SolZ hierzu:
zu versteuerndes Einkommen = 326 578,00 EUR x 0,25 =
81 644,00 EUR KSt
SolZ hierzu
4 490,42 EUR
Zinsen zur KSt
14 728,00 EUR
Die Stadt I… machte aufgrund der Erkenntnisse im o. g. Steuerfahndungsbericht gegenüber der B… S.L. für die Jahre 2006 und 2007 Abgabenverbindlichkeiten in Höhe von insgesamt 158 992,63 EUR (Gewerbesteuer sowie steuerliche Nebenleistungen hierzu) geltend, die von der B… S.L. im Zeitraum 18. März 2013 bis 19. Januar 2016 getilgt wurden.
Die gegen die vorgenannten Umsatz- und Körperschaftsteuerbescheide gerichteten Einsprüche der B… S.L. wurden vom Antragsgegner mittels Einspruchsentscheidung vom
18. Juni 2014 als unbegründet zurückgewiesen.
Im gerichtlichen Verfahren beim FG Berlin-Brandenburg gegen die Steuerfestsetzungen blieb die Klage der B… S.L. ohne Erfolg (Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 23. August 2017 – 8 K 8157/14). Eine anschließend erhobene Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom BFH mit Beschluss vom 21. März 2018 – I B 101/17 als unbegründet zurückgewiesen.
Nach vorangegangener schriftlicher Anhörung (Schreiben vom 14. Oktober 2013) erließ der Antragsgegner am 28. April 2014 gegenüber der Antragstellerin unter Berufung auf
§ 69 AO i. V. m. § 34 Abs. 1 AO einen Haftungsbescheid über insgesamt 238 012, 34 EUR. Der Betrag setzt sich wie folgt zusammen:
Steuerart:
Fälligkeit:
Betrag:
Säumniszuschläge hierzu:
USt 2006
22.10.2012
14 211,20 EUR
2 556,00 EUR
Zinsen hierzu
22.10.2012
3 763,00 EUR
USt 2007
22.10.2012
69 364,82 EUR
12 483,00 EUR
Zinsen hierzu
22.10.2012
14 216,00 EUR
USt 2008
22.10.2012
2 319,00 EUR
414,00 EUR
Zinsen hierzu
22.10.2012
333,00 EUR
KSt 2007
22.10.2012
81 644,00 EUR
14 688,00 EUR
Zinsen hierzu
22.10.2012
16 728,00 EUR
SolZ KSt 2007
22.10.2012
4 490,42 EUR
801,00 EUR
Die Zinsen laut Haftungsbescheid entsprechenden Zinsfestsetzungen in den Steuerbescheiden des Antragsgegners vom 18. September 2012. Die Säumniszuschläge entsprechen den nach den Berechnungen des Antragsgegners von der B… S.L. bis zum 28. April 2014 (= Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids) verwirkten Säumniszuschlägen.
Zur Begründung der Haftungsinanspruchnahme führte der Antragsgegner aus, die Antragstellerin habe zumindest grob fahrlässig folgende Pflichtverletzungen begangen:
- Nichteinreichung von Steuererklärungen betr. USt 2006 – 2008 sowie KSt 2007;
- Nichttilgung der sich bei Erfüllung der Steuererklärungspflichten ergebenden Steuerzahlbeträge im Zeitpunkt ihrer (fiktiven) Fälligkeiten.
Bei der Beurteilung, in welcher Höhe die vorgenannten Pflichtverletzungen für den beim deutschen Fiskus eingetretenen Schaden ursächlich seien, sei auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der B… S.L. im Haftungszeitraum abzustellen. Mit Schreiben vom 14. Oktober 2013 habe er, der Antragsgegner, der Antragstellerin mitgeteilt, dass der Haftungszeitraum grundsätzlich mit dem Tag der ältesten rückständigen Forderung, vorliegend somit am 22. Oktober 2012, beginne. Im hiesigen Fall sei der Beginn des Haftungszeitraums jedoch auf den 30. Juni 2007 (= gesetzlicher Abgabetermin betr. Umsatzsteuererklärung 2006) zurückzuverlegen, da die Haftungsinanspruchnahme an die Tatsache der Nichteinreichung der Steuererklärungen 2006 anknüpfe. Der Haftungszeitraum ende mit dem Tag des Datums des Haftungsbescheids. Unter Hinweis auf ihre Auskunftspflicht nach § 90 Abs. 1 AO habe er, der Antragsgegner, die Antragstellerin um eine Stellungnahme zur wirtschaftlichen Entwicklung der B… S.L. im Haftungszeitraum und um entsprechende Angaben in einem beigefügten Berechnungsbogen zur Ermittlung des Haftungsbetrags nach dem Prinzip der gleichmäßigen anteiligen Tilgung aller Gläubigerforderungen gebeten. Da die Antragstellerin auf dieses Schreiben nicht reagiert habe, sei davon auszugehen, dass die B… S.L. im Haftungszeitraum finanziell in der Lage gewesen sei, die streitgegenständlichen Steuerrückstände vollständig zu tilgen.
Hierfür spreche auch der Inhalt eines Kontoauszugs der S… Bank vom 20. August 2007 zum Konto der B… S.L. mit der Nummer …, welcher ein Guthaben in Höhe von 245 813,36 EUR ausweise. Des weiteren sei der steuerliche Vertreter der B… S.L. im Haftungszeitraum kontinuierlich für das Unternehmen tätig gewesen, was auf vorhandene Liquidität schließen lasse. Eine Einstellung des Geschäftsbetriebs der B… S.L. sei bis heute nicht mitgeteilt worden.
Die Haftungsinanspruchnahme erfolge innerhalb der nach § 5 AO zu beachtenden Ermessensgrenzen. Beitreibungsmöglichkeiten gegenüber der B… S.L. selbst würden nicht bestehen. Weitere Personen und Gesellschaften würden nicht in Anspruch genommen, da es hierfür keine Anhaltspunkte gebe.
Die Antragstellerin legte gegen den Haftungsbescheid fristgerecht Einspruch ein und beantragte die Aussetzung von dessen Vollziehung. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wurde vom Antragsgegner mit Schreiben vom 28. Mai 2014 mangels Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids abgelehnt.
Zur Begründung ihres Einspruchs machte die Antragstellerin im Wesentlichen geltend, ihr sei nicht bewusst gewesen, dass sie in Deutschland Steuererklärungen für die B… S.L. habe abgeben müssen. Ebenfalls sei ihr nicht bekannt gewesen, dass die von der B… S.L. erbrachten Leistungen der deutschen Umsatzsteuer zu unterlegen hätten. In beiden Punkten hätten keine absichtlichen Pflichtverletzungen vorgelegen. Sie sei in Spanien steuerlich beraten worden. Auch dem spanischen Steuerberater sei nicht bewusst gewesen, dass in Deutschland Steuererklärungen abzugeben gewesen seien. Das spanische Finanzamt habe den Sitz der B… S.L. in Spanien nicht in Zweifel gezogen. Die B… S.L. habe im entsprechenden Zeitraum in Spanien Steuererklärungen abgegeben und nicht unerhebliche Steuern bezahlt. Auch ihren sonstigen Verpflichtungen sei sie zeitnah nachgekommen. Damit könne nicht von einer schuldhaft begangenen Erklärungs- oder Zahlungspflichtverletzung ausgegangen werden. Die B… S.L. sei nicht vermögenslos. Es bestünden Forderungen gegenüber Rechnungsempfängern. Die Forderungen würden zur Zeit mit Hilfe eines Rechtsanwaltes durchgesetzt. In Spanien sei auch keine Bevorzugung anderer Gläubiger bei der Tilgung von Verbindlichkeiten durch die B… S.L. erfolgt. Es habe somit die Berechnung einer Haftungsquote zu erfolgen.
Mittels Einspruchsentscheidung vom 28. August 2018 wies der Antragsgegner den Einspruch der Antragstellerin als unbegründet zurück. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, dass die Antragstellerin als Geschäftsführerin der B… S.L. die dem Unternehmen obliegenden Erklärungs- und Zahlungspflichten in grobem Maße verletzt habe. Diese Pflichten seien ihr aufgrund ihrer langjährigen Geschäftsführerinnentätigkeit für verschiedene Unternehmen in Deutschland bekannt (z. B. J… GmbH & Co. KG und O… GmbH).
Eine GmbH-Geschäftsführerin müsse sich bereits bei der Übernahme ihres Amtes zunächst in eigener Person die notwendigen steuerlichen und handelsrechtlichen Kenntnisse verschaffen und entsprechende Informationen einholen (Hinweis auf Beschluss des Bundesfinanzhofs – BFH - vom 13. Februar 1996 – VII B 245/95, BFH/NV 1996, 657). Dies treffe insbesondere im vorliegenden Fall zu, wenn sich aufgrund der Tätigkeit in Deutschland die Möglichkeit der Existenz steuerrechtlicher Erklärungs- und Zahlungspflichten aufdränge.
Auch der Vortrag, dass das Finanzamt in Spanien den Sitz der B… S.L. in Spanien nie in Zweifel gezogen habe, sei bereits deshalb unerheblich, weil diese Prüfung in jedem Staat gesondert zu erfolgen habe. Zudem sei nicht vorgetragen worden, dass dem spanischen Finanzamt Anhaltspunkte dafür vorgelegen hätten, dass die B… S.L. geschäftliche Aktivitäten in Deutschland entfaltet habe.
Darüber hinaus habe es die B… S.L. – auch im Rahmen des Klageverfahrens 8 K 8157/14 beim FG Berlin-Brandenburg – nicht vermocht, die bereits mindestens seit 2015 angekündigten Nachweise über die tatsächliche steuerliche Veranlagung des Unternehmens in Spanien zu erbringen.
Hinsichtlich des Grundes und der Höhe der streitgegenständlichen Abgabenverbindlichkeiten werde auf den Inhalt des inzwischen rechtskräftigen Urteils des FG Berlin-Brandenburg vom 23. August 2017 – 8 K 8157/14 Bezug genommen.
Die Haftungsinanspruchnahme erfolge auch innerhalb der nach § 5 AO zu beachtenden Ermessensgrenzen. Beitreibungsmöglichkeiten zur Einziehung der Forderungen gegenüber der B… S.L. würden nicht bestehen. Die Aussichtslosigkeit der Vollstreckung beruhe darauf, dass es sich um eine inaktive Gesellschaft ohne Firmenschild und Telefonanschluss in Spanien handele und eine Pfändung in das spanische Bankkonto des Unternehmens mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nicht habe erfolgen können.
Daraufhin hat die Antragstellerin Klage zum FG Berlin-Brandenburg erhoben, die beim Senat unter dem Aktenzeichen 9 K 9159/18 anhängig ist und über die der Senat noch nicht entschieden hat.
Der Ehemann der Antragstellerin hat zusätzlich Klage zum FG Berlin-Brandenburg betr. Einkommensteuer 2006 bis 2008 erhoben, die beim 11. Senat unter den Aktenzeichen
9 K 11207/19 und 11 K 11230/19 anhängig ist. Mit zwei Beschlüssen vom 10. März 2020 setzte der 11. Senat des FG die Vollziehung der angefochtenen Einkommensteuerbescheide 2006 bis 2008 zum Teil mit der Begründung aus, dass unklar sei, ob dem Ehemann der Antragstellerin in den Streitjahren die von der Steuerfahndungsstelle ermittelten Einkünfte tatsächlich zugeflossen seien (Az.: 11 V 11290/19 und 11 V 318/19). Es handelt sich dabei um folgende Einkünfte:
2006:
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 7 x 3 000,00 EUR + 6 000,00 EUR = 27 000,00 EUR im Zusammenhang mit der „Ausleihung“ der Arbeitskraft von Herrn E… an die F… GmbH & Co. KG sowie die G… GmbH & Co. KG durch die B… S.L.
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 12 x 2 000,00 EUR = 24 000,00 EUR im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Herrn E… für die P… GmbH
2007:
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 9 x 3 000,00 EUR + 3 x 3 500,00 EUR + 6 000,00 EUR = 43 500,00 EUR im Zusammenhang mit der „Ausleihung“ der Arbeitskraft von Herrn E… an die F… GmbH & Co. KG sowie die G… GmbH & Co. KG durch die B… S.L.
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 4 x 2 000,00 EUR = 8 000,00 EUR als Geschäftsführer einer Q… S. L.
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 2 x 2 000,00 EUR = 4 000,00 EUR als Arbeitnehmer einer R… GmbH
2008:
Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von insgesamt 70 210,02 EUR (davon 10 500,00 EUR Bruttolohn sowie 1 500,00 EUR geldwerter Vorteil aufgrund Kfz-Gestellung seitens der B… S.L.)
Zur Begründung ihres gerichtlichen Antrags auf Aussetzung der Vollziehung des streitgegenständlichen Haftungsbescheids macht die Antragstellerin u. a. geltend, dass Herr M… in der Zeit ab 20. August 2007 Mitgeschäftsführer der B… S.L. gewesen sei. Er sei gesellschaftsintern für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten der Gesellschaft zuständig gewesen und habe diese Aufgabe über einen längeren Zeitraum hinweg zu ihrer, der Antragstellerin, vollsten Zufriedenheit bewältigt. Der angefochtene Haftungsbescheid sei ermessensfehlerhaft, weil eine Haftungsinanspruchnahme von Herrn M… vom Antragsgegner nicht geprüft worden sei.
Der gesamte kaufmännische Aufwand wie Postzustellung, Rechnungserstellung, Zahlungsverkehr, Kontoüberwachung, Buchhaltung und Steuerberatung sei von dem Mitgeschäftsführer und Steuerberater M… in dem Büro in Spanien durchgeführt worden. In den Jahren 2006 bis 2008 und Anfang 2009 sei das M…-Büro und der dazugehörige Briefkasten entsprechend gekennzeichnet gewesen. Danach sei die Vermittlungsstätigkeit eingestellt und später auch die Anschrift entfernt worden. Die Postzustellung sei weiterhin durch Absprache mit den Postzustellern sichergestellt worden. Bei regelmäßig mit Herrn M… geführten Telefonaten und einigen persönlichen Besuchen von ihr, der Antragstellerin, bei ihm seien ggf. Rechnungsstornierungen, Geldeingänge und steuerliche Erledigungen abgesprochen worden (Bl. 8 d. A.).
Herr M… sei im Jahr 2009 davon ausgegangen, dass die B… S.L. in Deutschland über keine Betriebsstätte verfüge und ihre Betriebseinnahmen deshalb nur in Spanien steuerpflichtig seien. Diese seine Sichtweise habe er damals auch dem Beklagten mitgeteilt (Hinweis auf Schreiben vom 20. September 2009 an den Beklagten [Bl. 21 Klageakte]). Der Beklagte habe auf dieses Schreiben nicht reagiert. In Spanien habe die B… S.L. entsprechende Steuererklärungen abgegeben und auch tatsächlich Steuern entrichtet (Hinweis auf spanische Körperschaftsteuerbescheide 2006 – 2008 sowie deren Übersetzung ins Deutsche durch eine bei den N… Gerichten zugelassenen Dolmetscherin [Bl. 22 ff. in der Akte 9 K 9159/18 sowie Anlage zur Antragsschrift im hiesigen Verfahren = Bl. 18 – 74 d. A.]). Die spanische Körperschaftsteuer für das Streitjahr 2007 habe 32 419,29 EUR betragen und sich auf einen steuerpflichtigen Gewinn der B… S.L. in jenem Jahr in Höhe von 95 678,75 EUR bezogen. Die damaligen Nettoumsätze hätten 143 567,13 EUR betragen (Bl. 43 d. A.).
Die B… S.L. habe gemäß Anweisung von Herrn M… in ihren Rechnungen durchgängig keinerlei Umsatzsteuer ausgewiesen.
Bei der notwendigen Ermittlung der sog. Tilgungsquote für den sog. Haftungszeitraum sei zu berücksichtigen, dass die vom Antragsgegner behauptete Überweisung von 120 000,00 EUR von der F… GmbH & Co. KG H… auf ein Konto der B… S.L. in Wahrheit nicht existiere. Die Kontoauszüge betr. das Bankkonto der B… S.L. bei der S… Bank, Filiale … für die Jahre 2006 bis 2012 würden dem Antragsgegner und der Staatsanwaltschaft vollständig vorliegen. Es habe sich dabei um das einzige Bankkonto der B… S.L. gehandelt. Aus den Kontoauszügen gehe hervor, dass der B… S.L. in all den Jahren insgesamt Einnahmen in Höhe von 197 504,37 EUR zugeflossen seien. Eine Überweisung seitens der F… GmbH & Co. KG H… in Höhe von 120 000,00 EUR sei nicht belegt. Im Übrigen handele es sich bei den 120 000,00 EUR nicht um einen Provisionsanspruch der B… S.L., sondern des Herrn E… persönlich als früherem Miteigentümer des Grundstücks, auf dem die Spielbank I… betrieben werde, für die erfolgreiche Vermittlung dieser Immobilie an den in Irland ansässigen Investor „G… Group“ (Bl. 7 d. A.).
Ihre persönliche Haftungsinanspruchnahme sei auch deshalb ermessensfehlerhaft, weil der Antragsgegner zu keinem Zeitpunkt versucht habe, in das Vermögen der B… S.L. zu vollstrecken. Im Übrigen sei eine etwaige Haftungsschuld nach § 69 AO längst verjährt.
Schließlich würde die sofortige Vollziehung des angefochtenen Haftungsbescheids eine unbillige Härte darstellen, da ihr, der Antragstellerin, schwerwiegende, ggfs. existenzbedrohende Nachteile drohen würden.
Die Antragstellerin beantragt,
die Vollziehung des Haftungsbescheids vom 28. April 2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28. August 2018 bis zum Ablauf eines Monats nach Zustellung einer Entscheidung im Verfahren 9 K 9159/18 auszusetzen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, dass die Antragstellerin mit Einwendungen gegen Grund und Höhe der haftungsrelevanten Abgabenverbindlichkeiten gemäß § 166 AO ausgeschlossen sei.
Nach seiner Auffassung gebe der gesiegelte Handelsregisterauszug vom 22. Februar 2007 die tatsächlichen Gegebenheiten hinsichtlich der Geschäftsführung der B… S.L. wieder. Danach sei die Antragstellerin im Zeitraum ab 22. Februar 2007 die alleinige gesetzliche Vertreterin der Gesellschaft gewesen. Der gegenteilige Vortrag im hiesigen Verfahren widerspreche dem Vortrag der B… S.L. im vorangegangenen Steuerfestsetzungsverfahren.
Die sowohl im Steuerfestsetzungsverfahren als auch im hiesigen Haftungsverfahren mandatierte Steuerberaterin habe im Festsetzungsverfahren vorgetragen, dass die Antragstellerin ab dem 21. Februar 2007 Geschäftsführerin der B… S.L. gewesen sei und zuvor der in Spanien ansässige Herr M…. Am 22. Februar 2007 sei im spanischen Handelsregister die Ernennung der Antragstellerin „zur alleinigen Geschäftsführerin auf unbestimmte Zeit, die das Amt annimmt“ eingetragen worden.
Hinsichtlich des mit „16.9.2015 Spanischer Handelsregisterführer“ überschriebenen Blattes (Bl. 20 in 9 K 9159/18), welches Herrn M…. als weiteren Geschäftsführer ausweisen solle, sei bereits unklar, ob es sich um eine Übersetzung (durch wen?) handele und welches Original der Übersetzung zugrunde gelegen haben solle. Zudem widerspreche der Inhalt dieses Dokumentes dem bisherigen Vortrag der Antragstellerin und der B… S.L. im bisherigen Verfahren.
Selbst wenn eine Heranziehung eines ggf. weiteren Geschäftsführers für die persönliche Haftung nach § 69 i. V. m. § 34 Abs. 1 AO grundsätzlich in Betracht zu ziehen gewesen wäre, sei es wegen dessen Auslandsansässigkeit in concreto ermessensgerecht gewesen, nur die Antragstellerin Haftung zu nehmen (Hinweis auf BFH-Urteile vom 22. Oktober 1986 I R 261/82, Bundessteuerblatt – BStBl - II 1987, 171 und vom 20. Juli 1988 I R 61/85, BStBl II 1989, 99 sowie BFH-Beschlüsse vom 3. Dezember 1996 – I B 44/96, BStBl II 1997, 306 und vom 8. November 2000 – I B 59/00, BFH/NV 2001, 448).
Dem Senat haben bei seiner Entscheidung folgende Akten vorgelegen, auf deren Inhalt wegen der Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Beteiligtenvorbringens Bezug genommen wird:
FG Berlin-Brandenburg 9 K 9159/18, 8 K 8157/18, 8 K 8158/18, 11 K 11207/19, 11 K 230/19, 11 V 11290/19, 11 V 11140/13 und 11 V 11318/19
neun Bände Klage-, Haftungs- und Steuerakten des Antragsgegners betr. die GmbH (StNr.: …)
sieben Bände Prozess- und Steuerakten des Antragsgegners betr. die Eheleute E… (StNrn.: … sowie …).
II.
A. Der Antrag ist – entgegen der Auffassung des Antragsgegners (vgl. dessen Schreiben vom 7. August 2019 - zulässig. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH, der der Senat folgt, genügt die einmalige Ablehnung eines beim Finanzamt im Einspruchsverfahren gestellten Antrags auf Aussetzung der Vollziehung im Hinblick auf das Zulässigkeitserfordernis des § 69 Abs. 4 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO; vgl. nur BFH-Beschluss vom 20. August 1998 – IV B 157/97, BStBl II 1998, 744 sowie Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 69 FGO Rz. 1083, jeweils m. w. N.). Im Streitfall wurde der im Einspruchsverfahren von der Antragstellerin gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Haftungsbescheids vom Antragsgegner mit Schreiben vom 28. Mai 2014 abgelehnt.
Es existiert auch in Form der Anfechtungsklage mit dem Aktenzeichen 9 K 9159/18, die fristgerecht nach der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 28. August 2018 erhoben worden ist, ein zulässiger Rechtsbehelf im sog. Hauptsacheverfahren.
B. Der Antrag ist überwiegend begründet.
1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 FGO kann das Gericht die Vollziehung eines Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen oder aufheben, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen. Ernstliche Zweifel bestehen, wenn bei der (überschlägigen) Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts neben den für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheiten in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs – BFH –, vgl. nur Beschluss vom 10. Februar 1967 – III B 9/66, BStBl III 1967,182).
2. Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids vom 28. Mai 2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28. August 2018 in Bezug auf folgende Teilbeträge:
a) Haftungsinanspruchnahme in Bezug auf die Körperschaftsteuer 2007 nebst Solidaritätszuschlag und Zinsen hierzu in Höhe folgender Teilbeträge:
Körperschaftsteuer = 32 419,29 EUR (entspricht 39,71 %)
SolZ zur Körperschaftsteuer = 1 783,15 EUR (entspricht 39,71 %)
Zinsen zur Körperschaftsteuer = 6 642,69 EUR (entspricht 39,71 %)
b) Haftungsinanspruchnahme in Bezug auf die Umsatzsteuer 2006 - 2008 nebst Zinsen hierzu in voller Höhe
c) Haftungsinanspruchnahme für die von der B… S.L. verwirkten Säumniszuschläge in voller Höhe bis auf einen Teilbetrag der Säumniszuschläge betr. Körperschaftsteuer 2007 nebst Solidaritätszuschlag hierzu = 933,83 EUR
3. Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH, der der Senat folgt, ist die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zweigliedrig (vgl. BFH-Urteil vom 20. September 2016 – X B 36/15, Sammlung der Entscheidungen des BFH – BFH/NV – 2017, 593 m. w. N.). Das Finanzamt hat zunächst zu prüfen, ob in der Person oder den Personen, die es zur Haftung heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschrift erfüllt sind. Dabei handelt es sich um eine vom Gericht voll überprüfbare Rechtsentscheidung. Daran schließt sich die nach § 191 Abs. 1 AO zu treffende Ermessensentscheidung des Finanzamtes an, ob und wen es als Haftungsschuldner in Anspruch nehmen will. Diese auf der zweiten Stufe zu treffende Entscheidung ist gerichtlich nur im Rahmen des § 102 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf Ermessensfehler (Ermessensüberschreitung, Ermessensfehlgebrauch) überprüfbar. Prüfungsmaßstab hierfür ist allein die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Einspruchsentscheidung).
Die gesetzlichen Vertreter einer juristischen Person haben gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 AO deren steuerliche Pflichten zu erfüllen. Sie haben insbesondere dafür zu sorgen, dass die Steuern aus den Mitteln entrichtet werden, die sie verwalten (§ 34 Abs. 1 Satz 2 AO). Verletzt eine in § 34 AO bezeichnete Person die ihr hiernach auferlegten Pflichten vorsätzlich oder grob fahrlässig, so haftet sie, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) infolge dieser Pflichtverletzung nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden (§ 69 Satz 1 AO). Die Haftung umfasst auch die infolge der Pflichtverletzung von der Steuerschuldnerin verwirkten Säumniszuschläge (§ 69 Satz 2 AO).
Die B… S.L. ist als spanische „Sociedad (de Responsabilidad) Limitada“ nach dem in Deutschland geltenden sog. Rechtstypenvergleich mit einer deutschen GmbH vergleichbar (BFH-Urteil vom 12. Juni 2013 – I R 109-111/10, BStBl II 2013, 1024; OFD Hannover vom 28. Februar 2007 S 2700 – 2 StO 242, juris, jeweils m. w. N.) mit der Folge, dass vorliegend die §§ 69 und 34 AO anwendbar sind.
4. Die Antragstellerin hat den objektiven Tatbestand einer Haftung nach § 69 i. V. m. § 34 Abs. 1 AO dadurch verwirklicht, dass sie als gesetzliche Vertreterin der B… S.L. für die Streitjahre 2006 bis 2008 nicht zeitnah Umsatzsteuererklärungen beim Antragsgegner eingereicht hat.
Ihr Einwand, Herr M… sei als Rechtsanwalt und Steuerberater gesellschaftsintern für die Erledigung der steuerlichen Verpflichtungen der B… S.L. allein zuständig gewesen, vermag sie nicht zu entlasten. Abgesehen davon, dass zwischen den Verfahrensbeteiligten streitig ist, ob Herr M… nach dem 22. Februar 2007 (= Zeitpunkt der Eintragung der Antragstellerin als alleinige Geschäftsführerin in das spanische Handelsregister) tatsächlich Mitgeschäftsführer der B… S.L. gewesen ist, wäre dieser Einwand nach der BFH-Rechtsprechung, der der Senat folgt, nur dann erheblich, wenn eine von vorhinein getroffene schriftliche und eindeutige Aufgabenverteilung zwischen den beiden Mitgeschäftsführern existieren würde (vgl. dazu nur BFH-Urteil vom 4. März 1986 – VII S 33/85, BStBl II 1986, 384 sowie BFH-Beschluss vom 12. Mai 2009 – VII B 266/08, BFH/NV 2009, 1589, jeweils m. w. N.). Das Vorhandensein einer solchen schriftliche Vereinbarung hat die insoweit darlegungs- und nachweispflichtige Antragstellerin nicht geltend und erst recht nicht glaubhaft gemacht.
Die Verpflichtung der B… S.L. zur Abgabe der vorgenannten Jahressteuererklärungen und die Rechtmäßigkeit der vom Antragsgegner diesbezüglich am 18. September 2012 erlassenen Steuerbescheide ist durch das mittlerweile rechtskräftige Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 23. August 2017 – 8 K 8157/14 für das hiesige Antragsverfahren gemäß
§ 166 AO bindend festgestellt worden. Nach dieser Vorschrift sind Einwendungen gegen Grund und Höhe der streitgegenständlichen Abgabenverbindlichkeiten im hiesigen Verfahren betr. die persönliche Haftungsinanspruchnahme ausgeschlossen. § 166 AO ist vorliegend anwendbar, weil die B… S.L. im damaligen Klageverfahren 8 K 8157/14 durch die Antragstellerin als deren Geschäftsführerin vertreten worden und die Klage in vollem Umfang erfolglos gewesen ist (vgl. dazu die Rechtsprechungsnachweise bei Rüsken, in: Klein, AO, 15. Aufl., § 166 Rz. 2 f.).
Bei summarischer Prüfung der Rechtslage bestehen aber hinsichtlich der Umsatzsteueransprüche des Antragsgegners ernstliche Zweifel daran, ob die Antragstellerin auch den subjektiven Tatbestand einer Haftung nach § 69 i. V. m. § 34 Abs. 1 AO dem Grunde nach verwirklicht hat. § 166 AO macht diese Prüfung nicht entbehrlich, weil die Frage, ob eine Geschäftsführerin ihre steuerlichen Pflichten im Sinne von § 34 Abs. 1 AO vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht erfüllt hat, im Steuerfestsetzungsverfahren nicht entscheidungserheblich ist (vgl. dazu allgemein: Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 166 AO Rdnr. 15; Oellerich, in: Gosch, AO/FGO, § 166 AO Rdnr. 80).
Die objektiv eingetretene Pflichtverletzung in Form der Nichtabgabe der vorgenannten Jahressteuererklärungen indiziert nach der ständigen Rechtsprechung des BFH, der der Senat folgt, zwar grundsätzlich den gegenüber dem Haftungsschuldner zu erhebenden Schuldvorwurf (vgl. BFH-Urteile vom 11. November 2008 – VII R 19/08, BStBl. II 2009, 342 und vom 27. September 2017 – XI R 9/16, BStBl II 2008, 515, m. w. N.).
Im vorliegenden Fall ist aber bei der Prüfung der subjektiven Tatbestands zu berücksichtigen, dass die B… S.L. nach dem insoweit unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Antragstellerin in den Streitjahren 2006 bis 2008 keine Rechnungen mit Umsatzsteuerausweis erstellt hat und sowohl Herr M… als auch die Antragstellerin der Auffassung gewesen sind, Umsatzsteuerschuldner seien gemäß § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) die jeweiligen Leistungsempfänger der von der B… S.L. erbrachten Dienstleistungen gewesen. Soweit der Antragsgegner gegen diese Rechtsauffassung geltend macht, dass die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen des § 13 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG nicht gegeben gewesen seien, weil sich die Geschäftsleitung der B… S.L. damals in Deutschland am Wohnort der Antragstellerin in I… befunden habe, bedarf dieser Einwand der näheren Überprüfung im Hauptsacheverfahren 9 K 9159/18 durch weitere Sachverhaltsermittlungen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Herr M… nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Antragstellerin und auch nach dem Inhalt der vorliegenden Verfahrensakten in den Streitjahren 2006 bis 2008 zahlreiche Tätigkeiten im Dienste der B… S.L. unternommen hat, die dazu führen könnten, ihn steuerlich als faktischen Geschäftsführer oder Verfügungsberechtigten im Sinne von § 35 AO einzustufen. Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO ist nach der BFH-Rechtsprechung jeder, der rechtlich und wirtschaftlich über Mittel, die einem anderen zuzurechnen sind, verfügen kann und als Verfügungsberechtigter auftritt (vgl. nur BFH-Beschluss vom 8. Dezember 2010 – VII B 102/10, BFH/NV 2011, 740 m. w. N.).
Dies würde unter Umständen dazu führen, dass man vom Vorhandensein zweier Geschäftsleitungs-Betriebsstätten und zweier (gleichberechtigter) „Orte der Geschäftsleitung“ der B… S.L. im umsatzsteuerrechtlichen Sinne in den Streitjahren (einer in Spanien im Büro von Herrn M… und einer weiteren am Wohnort der Antragstellerin in Deutschland) ausgehen müsste. In einem solchen Falle erscheint es bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage fraglich, ob die Antragstellerin hinsichtlich der Nichtabgabe von Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre 2006 bis 2008 in Deutschland tatsächlich „grob fahrlässig“ im Sinne von § 69 Satz 1 AO gehandelt hat.
5. Die Antragstellerin hat den objektiven Tatbestand einer Haftung nach § 69 i. V. m. § 34 Abs. 1 AO auch hinsichtlich rückständiger Körperschaftsteuer 2007 nebst Solidaritätszuschlag und Zinsen hierzu dadurch verwirklicht, dass sie als gesetzliche Vertreterin der B… S.L. für das Streitjahr 2007 keine Körperschaftsteuererklärung beim Antragsgegner eingereicht hat.
Die Verpflichtung der B… S.L. zur Abgabe einer inländischen Körperschaftsteuererklärung für das Streitjahr 2007 und die Rechtmäßigkeit des Bescheids des Antragsgegners vom 18. September 2012 betr. KSt 2007 sind durch das rechtskräftige FG-Urteil vom 23. August 2017 – 8 K 8157/14 für das hiesige Antragsverfahren gemäß § 166 AO bindend festgestellt worden. Die Festsetzungen im selben Bescheid betr. Solidaritätszuschlag zur KSt 2007 sowie Zinsen zur KSt 2007 sind von der B… S.L. gar nicht erst angefochten worden und somit bestandskräftig.
Nach dem rechtskräftigen Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 23. August 2017 ist für das hiesige Antragsverfahren davon auszugehen, dass sich der Ort der Geschäftsleitung der B… S.L. im Sinne von § 1 Abs. 1 KStG i. V. m. § 10 AO in den Streitjahren 2006 bis 2008 in der Wohnung der Antragstellerin in I… befunden hat und an diesem Ort eine sog. Geschäftsleitungsbetriebsstätte im Sinne von § 12 Satz 2 Nr. 1 AO unterhalten worden ist.
Bei der Prüfung des subjektiven Tatbestands des § 69 Satz 1 i. V. m. § 34 Abs. 1 AO ist zugunsten der Antragstellerin zu berücksichtigen, dass die B… S.L. nach spanischem Steuerrecht schon allein aufgrund ihres dortigen Satzungssitzes ebenfalls unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtig gewesen ist (vgl. dazu allgemein Behrenz, in: Wassermeyer, DBA, Anhang zum DBA-Spanien Rz. 192 und 196). Außerdem hätten unter Umständen die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Anrechnung der in Spanien entrichteten Körperschaftsteuer auf die deutsche Körperschaftsteuer vorgelegen, wenn die B… S.L. die entsprechenden Unterlagen in deutscher Übersetzung, die nunmehr vorliegen, rechtzeitig im Klageverfahren 8 K 8157/14 vorgelegt hätte (vgl. dazu allgemein § 23 Abs. 1 des Doppelbesteuerungsabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Spanischen Staat vom 5. Dezember 1966, BStBl I 1968, 296 i. V. m. § 34 c EStG). Schließlich wäre bei Berücksichtigung aller Umstände des Sachverhalts und Bejahung einer faktischen Mitgeschäftsführerstellung von Herrn M… an eine Aufteilung des Gesamtgewinns der B… S.L. im Streitjahr 2007 nach der sog. indirekten Methode auf eine Geschäftsleitungs-Betriebsstätte im Sinne von § 12 Satz 2 Nr. 1 AO in Spanien (= Büro von Herrn M…) und eine weitere Geschäftsleitungs-Betriebsstätte in der Wohnung der Antragstellerin in I… zu denken gewesen (vgl. dazu Art. 7 Abs. 2 und 4 DBA-Spanien 1966).
Die objektiv unzutreffende schriftliche Stellungnahme der Kanzlei K… aus L… gegenüber dem Antragsgegner vom 12. September 2008 zur Frage der Existenz einer inländischen Betriebsstätte vermag die Antragstellerin nicht zu entlasten, da nicht geklärt ist, ob die Kanzlei im Zeitpunkt ihrer schriftlichen Stellungnahme vollständige Kenntnis vom objektiv gegebenen Lebenssachverhalt gehabt hat. Unstreitig ist, dass die Kanzlei K… im weiteren Verlauf des Besteuerungsverfahrens nicht mehr für die B… S.L. tätig gewesen ist.
Die Antragstellerin haftet daher zumindest für den Differenzbetrag zwischen der deutschen Körperschaftsteuer 2007 in Höhe von 81 644,00 EUR und der in Spanien entrichteten Körperschaftsteuer 2007 in Höhe von 32 419,29 EUR = 49 224,71 EUR zuzüglich anteiligem Solidaritätszuschlag in Höhe von 2 707,27 EUR und anteiligen Zinsen in Höhe von 10 085,31 EUR hierzu. Denn insoweit ist ihr eine grob fahrlässige Pflichtversäumung im Sinne von § 69 Satz 1 i. V. m. § 34 Abs. 1 AO vorzuwerfen, die auch zu einem damit zusammenhängenden Steuerschaden beim Antragsgegner geführt hat. Dass die Antragstellerin selbst davon ausgegangen ist, dass die B… S.L. auch in Deutschland Körperschaftsteuererklärungen abgeben musste, zeigt sich u. a. daran, dass die B… S.L. die vom Antragsgegner im Jahr 2008 festgesetzte Körperschaftsteuer 2006 in Höhe von 4 684,00 EUR aufgrund der inländischen Beteiligungseinkünfte betr. die J… GmbH & Co. KG mit Sitz in I… zeitnah entrichtet hat.
Ferner hat die Antragstellerin im Haftungsverfahren selbst eingeräumt, u. a. im Streitjahr 2007 in größerem zeitlichem Umfang im operativen Geschäft (d. h. betr. die Vermittlung von Immobilienan- und verkäufen) in Deutschland für die B… S.L. tätig geworden zu sein. Schließlich hat die Steuerfahndungsstelle des Antragsgegners im Rahmen ihrer Ermittlungen umfangreiche Geschäftsunterlagen der B… S.L. bei einer Durchsuchungsmaßnahme in T… (Bundesland Brandenburg) sichergestellt.
Die weitere Aufklärung des Sachverhaltes und dessen Würdigung im Hinblick auf die objektiven und subjektiven Haftungsvoraussetzungen müssen dem Hauptsacheverfahren 9 K 9159/18 vorbehalten bleiben.
6. Unabhängig von den unter 4. und 5. dargestellten ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des überwiegenden Teils des angefochtenen Haftungsbescheids bestehen hinsichtlich der Haftungsinanspruchnahme wegen der von der B… S.L. verwirkten Säumniszuschläge weitere ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer solchen Haftungsforderung. Die Antragstellerin haftet zwar gemäß § 69 Satz 2 AO dem Grunde nach auch für die von der B… S.L. verwirkten Säumniszuschläge. Nach der BFH-Rechtsprechung, der der Senat folgt, haftet eine GmbH-Geschäftsführerin ab dem Zeitpunkt der Insolvenzreife der Steuerschuldnerin im Sinne von § 17 Abs. 2 der Insolvenz-ordnung (InsO) nur für maximal 50 v. H. der ab diesem Zeitpunkt verwirkten Säumniszuschläge (vgl. BFH-Urteil vom 19. Dezember 2000 – VII R 63/99, BStBl II 2001, 217; Rüsken, in: Klein, AO, 15. Aufl., § 69 Rz. 16). Im Zeitpunkt der Fälligkeit der streitgegenständlichen Abgabenverbindlichkeiten in Höhe von insgesamt 207 070,34 EUR (22. Oktober 2012) hatte die B… S.L. ihre aktive Geschäftstätigkeit laut ihren beim Antragsgegner eingereichten Jahressteuererklärungen längst eingestellt. Zum 31. Dezember 2012 bilanzierte sie einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag in Höhe von 89 996,72 EUR. Damit war sie bereits am 22. Oktober 2012 sowohl wegen Überschuldung als auch wegen Zahlungsunfähigkeit insolvenzreif im Sinne von § 17 Abs. 2 InsO.
Für die restlichen 50 v. H. der Säumniszuschläge haftet die GmbH-Geschäftsführerin nur nach Maßgabe der anteiligen Tilgungsquote (vgl. Nacke, Die Haftung für Steuerschulden, 4. Aufl., S. 60; Rüsken, aaO). Die entsprechende Tilgungsquote schätzt der Senat gemäß § 162 Abs. 1 AO für die Zeit ab 22. Oktober 2012 bis zum 30. April 2014 (Bekanntgabe des Haftungsbescheids) bei summarischer Prüfung auf 20 v. H. (immerhin hat die B… S.L. zwischen dem 18. März 2013 und dem 19. Januar 2016 unstreitig noch Abgabenverbindlichkeiten gegenüber der Stadt I… in Höhe von 158 992,63 EUR getilgt (vgl. Anlage zur Einspruchsbegründung der U… GmbH vom 7. November 2019 gegen die Ertragsteuerbescheide des Antragsgegners vom 1. November 2019 betr. das Jahr 2013).
Somit haftet die Antragstellerin bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage nur für 10 v. H. der Säumniszuschläge, die auf die o. g., nicht von der Vollziehung auszusetzenden Teilbeträge betr. KSt 2007 nebst SolZ hierzu entfallen, also für insgesamt 933,83 EUR.
7. Die Antragstellerin hat schließlich die mit Bescheiden vom 18. September 2012 für die Jahre 2006 bis 2008 festgesetzten Umsatzsteuern sowie die ebenfalls festgesetzte Körperschaftsteuer 2007 nebst Solidaritätszuschlag hierzu nicht bei Fälligkeit (= 22. Oktober 2012) an den Antragsgegner entrichtet und hierdurch eine weitere objektive und subjektive, weil grob fahrlässige Pflichtverletzung im Sinne von § 69 Satz 1 AO i. V. m. § 34 Abs. 1 AO begangen.
8. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH, der der Senat folgt, beschränkt sich die Haftung des gesetzlichen Vertreters einer Kapitalgesellschaft für Betriebssteuern sowie steuerliche Nebenleistungen hierzu (zB Säumniszuschläge, vgl. § 3 Abs. 4 AO) im Umfang auf den Betrag, mit dem die Gesellschaft bei unzureichender Liquidität im Zeitpunkt der (ggf. fiktiven) Fälligkeit der Abgabenverbindlichkeiten das Finanzamt gegenüber anderen Gläubigern benachteiligt hat („anteilige Tilgungsquote“, vgl. dazu nur BFH-Beschluss vom 19. November 2012 – VII B 126/12, BFH/NV 2013, 504 m. w. N.). Das Finanzamt muss deshalb von der Geschäftsführerin einer Kapitalgesellschaft, die es als Haftungsschuldnerin wegen nicht entrichteter Betriebssteuern in Haftung nehmen will, die zur Feststellung des Haftungsumfangs notwendigen Auskünfte über die anteilige Gläubigerbefriedigung im Haftungszeitraum verlangen, um die anteiligen Abgabenverbindlichkeiten, für die die Geschäftsführerin in Haftung genommen werden kann, zu ermitteln. Hierfür müssen Feststellungen zur Höhe der Gesamtverbindlichkeiten der Gesellschaft im Zeitpunkt der (fiktiven) Fälligkeit der Steuerschulden, zur Höhe der Steuerschulden sowie zu den an sämtliche Gläubiger geleisteten Zahlungen getroffen werden. Hierbei ist das Finanzamt im Rahmen der Amtsermittlung auf die Mitwirkung der Beteiligten angewiesen (§ 88 Abs. 1 und § 90 Abs. 1 AO); diese haben dabei dem Finanzamt auf Verlangen in ihrem Besitz befindliche Unterlagen zur Einsicht und zur Prüfung vorzulegen (§ 97 Abs. 1 S. 1 und Abs. 3 AO).
Im Streitfall hat sich der Antragsgegner bereits vor Erlass des streitgegenständlichen Haftungsbescheides sowie auch während des Einspruchsverfahrens um die Aufklärung des Sachverhaltes bemüht. Er hat die Antragstellerin mit Schreiben vom 14. Oktober 2013 unter Angabe der Abgabenrückstände und der gesetzlichen Grundlagen für eine eventuelle persönliche Haftungsinanspruchnahme aufgefordert, bis zum 15. November 2013 einen beigefügten Vordruck „Berechnungsbogen zur Ermittlung einer Haftungsquote“ ausgefüllt an ihn zurückzusenden. Dieser Aufforderung hat die Antragstellerin nicht Folge geleistet (auch nicht im späteren Einspruchsverfahren, in dem sie durch die U… GmbH, Niederlassung I…, vertreten worden ist).
Allerdings bedarf es näherer Prüfung, ob der Antragsgegner im angefochtenen Haftungsbescheid zu Recht von einer hundertprozentigen finanziellen Leistungsfähigkeit der B… S.L. im von ihm angenommenen Haftungszeitraum 30. Juni 2007 bis 28. April 2014 ausgegangen ist. Zwar hat die Antragstellerin – entgegen den sie bei einem Sachverhalt mit Auslandsbezug (wie vorliegend gegeben) gemäß § 90 Abs. 2 AO treffenden erhöhten Mitwirkungspflichten hinsichtlich der Aufklärung des Sachverhalts – weder im vorgerichtlichen Verfahren noch im Rahmen des hiesigen Antragsverfahrens 9 V 9160/19 oder im Rahmen des Klageverfahrens 9 K 9159/18 plausible Angaben zu den finanziellen Verhältnissen der B… S.L. in den Jahren ab 2007 ff. gemacht.
Indes erscheint es bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage unter Berücksichtigung des Inhalts der Bilanzen zum 31. Dezember 2012 und zum 31. Dezember 2013 ernstlich zweifelhaft, ob die B… S.L. in Bezug auf die oben unter Ziff. 7. dargestellte, erst im Jahr 2012 erfolgte Tilgungspflichtverletzung in der Lage gewesen ist, nach dem 22. Oktober 2012 noch (anteilige) Tilgungsleistungen in größerem Umfang als 62 951,12 EUR (dies entspricht dem nicht von der Vollziehung auszusetzenden Teilbetrag der Haftungssumme laut angefochtenem Haftungsbescheid gemäß dem oben unter Ziff. 5. und 6. Gesagten) zu erbringen.
9. Ermessensfehler bei der Inanspruchnahme der Antragstellerin sind bei summarischer Prüfung nicht erkennbar. Es ist insbesondere nicht ermessensfehlerhaft gewesen und bedurfte keiner besonderen Begründung, dass der Antragsteller keinen weiteren Haftungsbescheid gegenüber Herrn M… erlassen hat, da dieser unstreitig seinen Wohnsitz durchgängig im Ausland (= Spanien) innegehabt hat (was der Antragstellerin von Anbeginn an bekannt gewesen ist) und damit die Durchsetzbarkeit einer etwaigen Haftungsforderung gegenüber ihm als eventuellem faktischen oder ordentlichem Mitgeschäftsführer mit vielen praktischen und juristischen Erschwernissen verbunden wäre (vgl. dazu allgemein: BFH-Urteile vom 22. Oktober 1986 – I R 261/82, BStBl II 1987, 171, vom 20. Juli 1988 – I R 61/85, BStBl II 1989, 99 und vom 20. Juni 1990 – I R 157/87, BStBl II 1992, 43; BFH-Beschlüsse vom 3. Dezember 1996 – I B 44/96, BStBl II 1997, 306 und vom 8. November 2000 – I B 59/00, BFH/NV 2001, 448; Rüsken, aaO, § 191 Rz. 59 ff. sowie Nacke, Haftung für Steuerschulden, 4. Aufl., S. 286/287 sowie S. 290/291, jeweils m. w. N.).
10. Der Haftungsanspruch des Fiskus gegenüber der Antragstellerin nach § 69 AO war im Zeitpunkt der Bekanntgabe des streitgegenständlichen Haftungsbescheids (30. April 2014) noch nicht verjährt. Gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 AO sind die Vorschriften über die Festsetzungsfrist (§§ 169 ff. AO) auf den Erlass von Haftungsbescheiden entsprechend anzuwenden. Die Festsetzungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der Tatbestand verwirklicht worden ist, an den das Gesetz die Haftungsfolge knüpft (§ 191 Abs. 3 Satz 3 AO). Im vorliegenden Fall wurde der gesetzliche Haftungstatbestand betr. die Jahressteuerveranlagungen 2006 bis 2008 in den Jahren 2007 bis 2009 verwirklicht, denn die B… S.L. hätte jeweils spätestens am 31. Mai des Folgejahres die o. g. Jahres-steuererklärungen beim Antragsgegner einreichen müssen (vgl. dazu § 149 Abs. 2 Satz 1 AO sowie § 18 Abs. 3 Satz 1 UStG). Gemäß § 191 Abs. 3 Satz 4 2. Halbsatz i. V. m. § 171 Abs. 10 Satz 1 AO ist die Festsetzungsfrist erst zwei Jahre nach der Bekanntgabe der streitgegenständlichen Steuerbescheide vom 18. September 2012 beendet gewesen; die Festsetzungsfrist war somit am 30. April 2014 noch nicht abgelaufen.
11. Die sofortige Vollziehung eines Teils des angefochtenen Haftungsbescheids stellt auch keine „unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte“ im Sinne von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO dar. Dem steht nach der ständigen Rechtsprechung des BFH schon entgegen, dass nach dem oben Gesagten keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Teils des Haftungsbescheids vom 28. April 2014 bestehen (vgl. dazu allgemein: BFH-Beschluss vom 26. Oktober 2011 - I S 7/11, BFH/NV 2012, 583 sowie Stapperfend, in: Gräber, FGO, § 69 Rz. 172, jeweils m. w. N.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.