Gericht | FG Berlin-Brandenburg 7. Senat | Entscheidungsdatum | 08.11.2021 | |
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Aktenzeichen | 7 K 7157/20 | ECLI | ECLI:DE:FGBEBB:2021:1108.7K7157.20.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Abweichend von dem Einkommensteuerbescheid 2018 vom 31.01.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.08.2020 wird die Einkommensteuer unter Berücksichtigung weiterer außergewöhnlicher Belastungen in Höhe von 5.664,00 € festgesetzt.
Die Berechnung der Einkommensteuer wird dem Beklagten auferlegt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden den Klägern zu 85 % und dem Beklagten zu 15 % auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Kläger abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten.
Die Revision wird zugelassen.
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung von Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung als Werbungskosten oder außergewöhnliche Belastungen, für den Kauf eines C… Kastenwagen und eines Liegefahrrades als außergewöhnliche Belastungen in 2018.
Die Kläger wurden als Eheleute im Streitzeitraum zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielte in den Streitjahren Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit und die Klägerin erhielt eine Rente. Die Klägerin leidet u. a. seit mittlerweile 25 Jahren an einem weit fortgeschrittenen schweren Morbus Parkinson Asymmetrisches Bent-Spine-Syndrom (PISA-Syndrom) mit schwerer rechtsseitiger Spastik, Multipler Sklerose und Osteoporose.
Die Kläger wohnten und wohnen in der D…-straße, E… in einer 93 qm großen Wohnung und haben in 2014 eine zweite Wohnung mit 60 qm in der F…-straße, E… angemietet. Die Arbeitsstätte des Klägers befindet sich in der G…-straße, E…. Die Wohnung in der F…-straße ist 950 m und die Wohnung in der D…-straße ist 13 km von der Arbeitsstätte entfernt.
Mit ihrer Einkommensteuererklärung für 2018 machten die Kläger Aufwendungen für einen Pkw C… Kastenwagen in Höhe von 18.250,00 € und ein Liegefahrrad in Höhe von 6.602,50 € als außergewöhnliche Belastungen geltend. Zudem wurden Werbungskosten für eine doppelte Haushaltsführung in Höhe von 10.480,00 € geltend gemacht.
Mit Bescheiden vom 31.01.2020 setzte der Beklagte die Einkommensteuer und den Solidaritätszuschlag wie folgt fest, wobei der Beklagte die streitgegenständlichen Aufwendungen nicht berücksichtigte.
2018 | |
Einkommensteuer | 13.171,00 € |
Solidaritätszuschlag | 724,40 € |
Dagegen legten die Kläger am 05.02.2020 Einspruch ein, den der Beklagte mit Einspruchsentscheidung zum Teil stattgab und im Übrigen zurückwies. Der Beklagte berücksichtigte u. a. zusätzlich zu den bereits berücksichtigten 900,00 € für Kfz-Kosten behinderter Menschen (30 x 100 km x 0,30 €) weitere Kfz-Kosten für Wochenendausflüge in Höhe von 900,00 €.
Daraufhin haben die Kläger am 15.09.2020 Klage erhoben.
Folgende Punkte sind zwischen den Beteiligten streitig und Gegenstand des Klageverfahrens:
1. Doppelte Haushaltsführung
Insofern wird auf den Sachverhalt in dem Verfahren 7 K 7009/19 verwiesen.
2. Kosten Liegefahrrad
Dem durch die Kläger vorgelegen Arztbericht H… (Sektion Bewegungsstörung) vom 19.10.2020 (Bl. 42 der Gerichtsakte –GA–) ist zu entnehmen, dass zur Wiedererlangung der Mobilität und Aufrechterhaltung alltagsrelevanter Funktionen die Anschaffung eines speziell für die Klägerin anfertigten Fahrrades erforderlich sei.
Aus einem Gutachten des Allgemeinmediziners I… vom 29.01.2021 geht hervor, dass aufgrund der Gleichgewichtsschwierigkeiten der Klägerin das „normale“ Fahrradfahren schon seit Jahren nicht mehr möglich sei. Die Klägerin könne lediglich mit einem Liegefahrrad fahren. Das regelmäßige Fahren sei geeignet und medizinisch zwingend notwendig, um den Erfolg der für sie essentiell wichtigen Physiotherapie zu fördern und zu stabilisieren. Das Liegefahrrad stärke das Herz-Kreislaufsystem der Klägerin und trainiere die Koordination und Bewegungsabläufe und verbessere das Reaktionsvermögen. Die Klägerin könne das Fahrrad auch nicht zu Alltagszwecken verwenden, da sie beim Ein- und Aussteigen Hilfe benötige. Das Fahrrad könne aufgrund der verlangsamten Reaktionszeiten der Klägerin nicht im E… Stadtverkehr eingesetzt werden. Zum Transport in das E… Umland sei der ebenfalls erworbene Kastenwagen erforderlich. Im Einzelnen wird auf das Gutachten Bl. 33 f. GA verwiesen.
Das Liegefahrrad stelle kein medizinisches Hilfsmittel dar. Die erhöhten Anforderungen an die Erbringung von Nachweisen gemäß § 64 Einkommensteuer-Durchführungsverordnung –EStDV– würden daher nicht gelten. Eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse sei nicht möglich, da das Liegefahrrad, dass sich die Klägerin ausgesucht habe, anders als andere Liegefahrräder, nicht mit einer Hilfsmittelnummer versehen gewesen sei.
Der Beklagte macht geltend, dass es sich bei dem Arztbericht nicht um ein vor dem Kauf ausgestelltes Attest handele. Zudem sei nicht nachgewiesen, ob bzw. dass eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse erfolgt sei. Zudem diene das Liegefahrrad der schnelleren, bequemeren, sportlicheren und weiträumigen Fortbewegung. Die Fahrtkosten seien insofern jedoch bereits mit einem pauschalen Kilometersatz von 0,30 € für die durch die Behinderung veranlassten unvermeidbaren Fahrten (3.000 km) und die übrigen Privatfahrten/Wochenendfahrten (3.000 km) berücksichtigt worden.
Es handele sich auch nicht um Aufwendungen für medizinische Hilfsmittel. Diese seien nur dann zu berücksichtigen, wenn es sich um Aufwendungen handele, die unmittelbar zur Heilung der Krankheit oder mit dem Ziel aufgewendet werden, die Krankheit in der Person des Kranken erträglich zu machen. Soweit ein Hilfsmittel speziell aufgrund der individuellen Gebrechen eines Steuerpflichtigen erforderlich sei, könne von einer medizinischen Indikation ausgegangen werden. Diese Hilfsmittel würden zumeist aufgrund ärztlicher Verordnung bei zumindest teilweiser Übernahme durch die Krankenversicherung angeschafft. Nur vorbeugende, der Gesundheit ganz allgemein dienende Maßnahmen, seien hingegen nicht zwangsläufig. Die Zwangsläufigkeit sei durch Vorlage eines vor dem Kauf erstellen amts- und vertrauensärztlichen Attests nachzuweisen. Aus der Rechtsprechung der Verwaltungs- und Sozialgerichte ergebe sich, dass ein Liege-Dreirad ein Hilfsmittel darstelle, dass der allgemeinen Lebenshaltung diene (Bundessozialgericht –BSG–, Beschluss vom 20.04.2017 – B 3 KR 1/17 B, juris; Verwaltungsgericht –VG– Bayreuth, Urteil vom 23.07.2019 – B 5 K 18.22, juris; VG Stuttgart, Urteil vom 21.04.2015 –
12 K 5471/14, juris). Der allgemeinen Lebenshaltung würden diejenigen Hilfsmittel dienen, die üblicherweise herangezogen würden, um die „Unbequemlichkeiten“ des Lebens zu erleichtern, und die aufgrund der objektiven Eigenart und Beschaffenheit des Gegenstandes keinen unmittelbaren Bezug zu dem festgestellten Krankheitsbild hätten. Es komme darauf an, ob das Hilfsmittel auch von einem Gesunden genutzt werden könne.
3. Kosten Pkw C… Kastenwagen
Die Kläger machen gelten, dass die Anschaffung des Pkw erforderlich gewesen sei, um das Liegefahrrad in das E… Umland zu transportieren. Zu den Fahrten sei auch der Rollstuhl, medizinisches Equipment und ein weiteres Fahrrad zu transportieren, da die Klägerin nur in Begleitung mit dem Liegefahrrad fahren könne. Das bisher vorhanden Familienfahrzeug, ein J…, habe kein entsprechendes Ladevolumen. Es sei zudem absehbar, dass die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung in Zukunft auf einen Elektrorollstuhl angewiesen sein werde, der mit diesem Fahrzeug transportiert werden solle. Die Anschaffung sei daher außergewöhnlich und zwangsläufig.
Die Aufwendungen für den C… Kastenwagen seien, nach Ansicht des Beklagten, bereits mit dem Ansatz der Privat- und der weiteren Fahrten abgegolten. Die Aufwendungen für Fahrtkosten behinderter Menschen seien grundsätzlich in Anwendung des § 33 Abs. 2 Satz 1 Einkommensteuergesetz –EStG– auf die Pauschsätze zu begrenzen. Bei außergewöhnlich gehbehinderten Menschen (aG), blinden (Bl) und hilflosen Menschen (H) sei auch die Berücksichtigung von Freizeit-, Erholungs- und Besuchsfahrten zu berücksichtigen. Die Fahrtkosten seien insofern jedoch bereits mit einem pauschalen Kilometersatz von 0,30 € für die durch die Behinderung veranlassten unvermeidbaren Fahrten (3.000 km) und die übrigen Privatfahrten/Wochenendfahrten (3.000 km) berücksichtigt worden. Die Pauschalen würden sämtliche normalen, mit der Benutzung eines Kfz regelmäßig verbundenen Aufwendungen, einschließlich AfA abgelten. Die Pauschsätze würden den nach sachverständigem Urteil und allgemeiner Bewertung für Unterhaltung und Betrieb eines Kfz im Durchschnitt erforderlichen Aufwand repräsentieren.
4. Aufwendungen für die im Saarland lebende pflegebedürftige Mutter
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger geltend gemacht, dass er die Anerkennung von außergewöhnlichen Belastungen in Höhe der Beträge nach der im Streitjahr geltenden Sachbezugswerte für die Pflege der Mutter begehrt. Der Beklagte hat für die Streitjahre 2016 und 2017 in dem Verfahren 7 K 7009/19 in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass gegen die Berücksichtigung der Aufwendungen für Unterkunft und Verpflegung der Pflegekräfte in Höhe der entsprechend geltenden Sachbezugswerte keine Einwendungen bestehen würden.
Im Einzelnen wird auf den Tatbestand in dem Urteil zu dem Verfahren 7 K 7009/19 verwiesen.
Die Kläger beantragen,
abweichend von dem Einkommensteuerbescheid 2018 vom 31.01.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.08.2020 die Einkommensteuer unter Berücksichtigung der Aufwendungen einer beruflich begründeten doppelten Haushaltsführung in Höhe von 7.580,00 € als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit und Aufwendungen in Höhe von 24.852,50 € wegen der Krankheit der Klägerin sowie in Höhe der Beträge nach der im Streitjahr geltenden Sachbezugsverordnung für die Pflege der Mutter als außergewöhnliche Belastungen festzusetzen;
hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Dem Gericht haben die Streitakten des hiesigen Verfahrens und der Verfahren
7 K 7204/19 und 7 K 7009/19 sowie drei Bände Einkommensteuerakten, die vom Beklagten für die Kläger unter der Steuer-Nr. … geführt werden, vorgelegen.
A. Die Klage ist zum Teilbegründet.
Die Kläger werden durch die angefochtenen Bescheide i.S. des § 100 Abs. 1 und 2
Finanzgerichtsordnung –FGO– im tenorierten Umfang in ihren Rechten verletzt.
I. Das Gericht prüft den ihm vorliegenden Sachverhalt unabhängig von der rechtlichen Würdigung durch den Beklagten und kann Rechtsfehler zugunsten des Klägers ggf. saldierend berücksichtigen.
II. Ausgehend von diesen Kriterien ergibt sich für die zwischen den Beteiligten erörterten Streitpunkte:
1. Doppelte Haushaltsführung
Die Klage ist die Aufwendungen für die doppelte Haushaltsführung betreffend unbegründet. Im Einzelnen wird auf die Klagebegründung in dem Verfahren 7 K 7009/19 verwiesen.
2. Kosten Pkw C… Kastenwagen
Die Aufwendungen für den C… Kastenwagen stellen keine außergewöhnlichen Belastungen gemäß § 33 EStG dar.
a) Nach § 33 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung) erwachsen. Zwangsläufig erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ziel des
§ 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind (Bundesfinanzhof –BFH–, Urteile vom 15.01.2015 – VI R 85/13, Bundessteuerblatt –BStBl.– II 2015, 586; vom 06.02.2014 – VI R 61/12, BStBl. II 2014, 458 und vom 26.02.2014 – VI R 27/13, BStBl. II 2014, 824, jeweils m. w. N.).
Nach ständiger Rechtsprechung können außergewöhnlich gehbehinderte (Merkzeichen aG) Steuerpflichtige neben den Pauschbeträgen für Behinderte auch die Kfz-Aufwendungen für Privatfahrten in angemessenem Rahmen als außergewöhnliche Belastungen geltend machen. Angemessen i.S. des § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG sind Aufwendungen für Fahrten bis zu 15.000 km im Jahr bis zur Höhe der Kilometerpauschbeträge, die in den Einkommensteuer-Richtlinien und Lohnsteuer-Richtlinien für den Abzug von Kfz-Kosten als Werbungskosten oder Betriebsausgaben festgelegt sind (BFH, Urteile vom 22.10.1996 – III R 203/94, BStBl. II 1997, 384; vom 13.12.2001 – III R 40/99, BStBl. II 2002, 224; vom 18.12.2003 – III R 31/03, BStBl. II 2004, 453 und vom 21.02.2008 – III R 105/06, BFH/NV 2008, 1141; Beschlüsse vom 26.10.2010 – VI B 52/10, BFH/NV 2011, 253 und vom 19.01.2017 – VI R 60/14, BFH/NV 2017, 571). Damit sind sämtliche Aufwendungen eines Behinderten für Fahrten, die der allgemeinen Lebensführung einschließlich Freizeit- und Erholungszwecken dienen, abgegolten (BFH-Urteil vom 21.11.2018 – VI R 28/16, Deutsches Steuerrecht – Entscheidungsdienst –DStRE– 2019, 1129, m. w. N.).
Die Rechtsprechung des BFH hat es allerdings nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass ein Steuerpflichtiger, statt sich auf diese Pauschsätze und die ihnen zugrunde liegende Schätzung zu berufen, die außergewöhnliche Belastung durch Einzelnachweis konkret belegen kann. So wird in sog. "krassen Ausnahmefällen" (vgl. BFH, Urteil vom 13.12.2001 – III R 6/99, BStBl. II 2002, 198) ein höherer Abzug erwogen, beispielsweise wenn der Behinderte wegen der Art seiner Behinderung auf ein besonderes Fahrzeug angewiesen ist, für das überdurchschnittlich hohe Aufwendungen anfallen, oder er sein Fahrzeug in außergewöhnlich geringem Umfang nutzt, so dass er pro gefahrenem Kilometer relativ hohe Aufwendungen zu tragen hat (u. a. BFH, Urteile vom 14.10.1997 – III R 95/96, BFH/NV 1998, 1072; vom 21.11.2018 – VI R 28/16, DStRE 2019, 1129).
b) Die Kläger haben glaubhaft dargelegt, dass die Klägerin auf einen Kastenwagen angewiesen ist, um ihr Liegefahrrad in das Umland zu transportieren, da sie in der Stadt nicht mehr fahren kann. Allerdings handelt es sich nicht um einen „krassen Ausnahmefall“, der zu einem höheren Abzug führen würde, da für das Fahrzeug keine überdurchschnittlich hohen Aufwendungen entstehen, die durch die Anwendung der Pauschbeträge nicht abgedeckt sind. Die Pauschbeträge stellen eine Typisierung dar, die sämtliche mit der Benutzung eines Kfz in Zusammenhang stehenden Aufwendungen einschließlich der Abschreibung für neu angeschaffte Kfz berücksichtigen (BFH, Urteil vom 22.10.1996 – III R 203/94, BStBl. II 1997, 384, Rn. 21 m. w. N.). Die Anschaffungskosten in Höhe von 18.250,00 € bewegen sich in einer Größenordnung, die die Kläger auch für ein anderes Fahrzeug der unteren Mittelklasse hätten aufwenden müssen. Die Anschaffung des Pkw kann daher nicht gesondert geltend gemacht werden. Es handelt sich auch nicht um eine behinderungsbedingte Umrüstung eines Fahrzeuges, die grundsätzlich neben den Fahrtkosten geltend gemacht werden kann (BFH, Urteil vom 21.11.2018 – VI R 28/16, DStRE 2019, 1129). Für die Berücksichtigung weiterer Fahrten wurden keine Nachweise erbracht.
3. Kosten Liegefahrrad
Die Kosten für das Liegefahrrad stellen keine außergewöhnlichen Belastungen i. S. d.
§ 33 EStG dar.
a) In ständiger Rechtsprechung geht der BFH davon aus, dass Krankheitskosten – ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung – dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zwecke der Heilung einer Krankheit (z.B. Medikamente, Operation) oder mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglicher zu machen, beispielsweise Aufwendungen für einen Rollstuhl (BFH, Urteile vom 15.01.2015 – VI R 85/13, BStBl. II 2015, 586; vom 06.02.2014 – VI R 61/12, BStBl. II 2014, 458 und vom 26.02.2014 – VI R 27/13, BStBl. II 2014, 824, jeweils mit weiteren Nachweisen).
Aufwendungen zur Heilung oder Linderung einer Krankheit werden typisierend als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt, ohne dass es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG an sich gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit dem Grunde und der Höhe nach bedarf (BFH, Urteile vom 15.01.2015 – VI R 85/13, BStBl. II 2015, 586; vom 01.02.2001 – III R 22/00, BStBl. II 2001, 543 und vom 03.12.1998 – III R 5/98, BStBl. II 1999, 227). Eine derart typisierende Behandlung von Krankheitskosten ist zur Vermeidung eines unzumutbaren Eindringens in die Privatsphäre geboten. Dies gilt aber nur dann, wenn die Aufwendungen nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und nach den Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes zur Heilung oder Linderung der Krankheit angezeigt (vertretbar) sind und vorgenommen werden, also medizinisch indiziert sind (vgl. u.a. BFH, Urteile vom 15.01.2015 – VI R 85/13, BStBl. II 2015, 586; vom 26.02.2014 – VI R 27/13, BStBl. II 2014, 824 und vom 19.04.2012 – VI R 74/10, BStBl. II 2012, 577, jeweils m. w. N.) Insofern hat der Steuerpflichtige die Zwangsläufigkeit von Aufwendungen im Krankheitsfall in einer Reihe von Fällen formalisiert nachzuweisen. So ist die Zwangsläufigkeit von krankheitsbedingten Aufwendungen für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel (§§ 2, 23, 31 bis 33 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch –SGB V–) vom Steuerpflichtigen durch eine Verordnung eines Arztes oder Heilpraktikers nachzuweisen (§ 64 Abs. 1 Nr. 1 EStDV i. d. F. des StVereinfG 2011). Bei Aufwendungen für Maßnahmen, die ihrer Art nach nicht eindeutig nur der Heilung oder Linderung einer Krankheit dienen können und deren medizinische Indikation deshalb schwer zu beurteilen ist, verlangt § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. a bis f EStDV i. d. F. des StVereinfG 2011 in einer abschließenden Aufzählung, d.h. in den dort abschließend geregelten Katalogfällen (vgl. BFH, Urteile vom 15.01.2015 – VI R 85/13, BStBl. II 2015, 586; vom 09.11.2015 – VI R 36/13, BFH/NV 2016, 194; vom 06.02.2014 – VI R 61/12, BStBl. II 2014, 458 und vom 26.02.2014 – VI R 27/13, BStBl. II 2014, 824), den Nachweis der Zwangsläufigkeit durch ein vor Beginn der Heilmaßnahme oder dem Erwerb des medizinischen Hilfsmittels ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine vorherige ärztliche Bescheinigung eines medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (§ 275 SGB V) zu führen (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStDV i. d. F. des StVereinfG 2011; vgl. auch BFH, Urteil vom 19.04.2012 – VI R 74/10, BStBl. II 2012, 577).
Mit der aufgrund des § 33 Abs. 4 EStG i. d. F. des StVereinfG 2011 ergangenen Regelung des § 64 Abs. 1 EStDV i. d. F. des StVereinfG 2011 hat der Gesetzgeber die bisherige Verwaltungsauffassung zum Nachweis der Zwangsläufigkeit von Krankheitskosten in
R 33.4 Abs. 1 der Einkommensteuer-Richtlinien -EStR- in das EStG bzw. die EStDV übertragen. Hierzu sah er sich aus Gründen der Rechtssicherheit und zur Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens veranlasst (BRDrucks 54/11, 12 f.; BTDrucks 17/6105, 2), nachdem der BFH mit Urteilen vom 11.11.2010 – VI R 16/09 (BStBl. II 2011, 966) entschieden hat, dass das formalisierte Nachweisverlangen mangels gesetzlicher Grundlage keinen Bestand haben könne (vgl. im Einzelnen auch BFH, Urteile vom 06.02.2014 – VI R 61/12, BStBl. II 2014, 458 und vom 26.02.2014 – VI R 27/13, BStBl. II 2014, 824).
Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass weder die in § 33 Abs. 4 EStG i. d. F. des StVereinfG 2011 normierte Verordnungsermächtigung noch der auf ihrer Grundlage ergangene § 64 Abs. 1 EStDV i. d. F. des StVereinfG 2011 rechtsstaatlichen Bedenken begegnet. § 33 Abs. 4 EStG i. d. F. des StVereinfG 2011 ist hinreichend bestimmt und mit Art. 80 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes -GG- vereinbar; auch hat sich der Verordnungsgeber bei der Ausgestaltung von § 64 Abs. 1 EStDV i. d. F. des StVereinfG 2011 im Rahmen seiner Befugnisse gehalten. Die strenge Formalisierung des Nachweises der Zwangsläufigkeit von Aufwendungen im Krankheitsfall erscheint nicht unverhältnismäßig. Die konkrete Regelung des Nachweisverlangens im steuerlichen Massenverfahren ist geeignet, erforderlich und verhältnismäßig, um die nach Art. 3 Abs. 1 GG gebotene Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit zu gewährleisten. Dem steht nicht entgegen, dass der Verordnungsgeber beim Nachweis von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln (im engeren Sinne) auf ein amtsärztliches Gutachten oder eine ärztliche Bescheinigung eines medizinischen Dienstes der Krankenversicherung verzichtet und eine vorherige Verordnung durch den behandelnden Arzt oder Heilpraktiker genügen lässt. Denn insoweit wird verwaltungsökonomischen Gesichtspunkten Rechnung getragen (so auch BFH; Urteil vom 19.04.2012 – VI R 74/10, BStBl. II 2012, 577; Hessisches Finanzgericht –FG–, Urteil vom 24.06.2021 – 6 K 1784/19, juris).
b) Ein solcher qualifizierter Nachweis ist auch im Streitjahr 2018 bei der Anschaffung eines Liegefahrrades zu erbringen. Bei dem Liegefahrrad handelt es sich um ein medizinisches Hilfsmittel, das als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens i. S. d. § 64 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. f) EStDV i. V. m. § 139 SGB V anzusehen ist. Das Liegefahrrad selbst hat nach Auskunft der Klägerin keine Hilfsmittelnummer, ist aber von den genannten Produktgruppen umfasst (Produktart: 22.51.02.0 – Dreiräder mit Fußpedalantrieb. Vorliegend liegt keine vorherige Verordnung durch einen behandelnden Arzt vor. Daher ist es unerheblich, dass sich aus den Gutachten des Allgemeinmediziners I… aus 2021 und dem Arztbericht H… (Sektion Bewegungsstörung) aus 2020 ergibt, dass die Fortbewegung durch das Liegefahrrad medizinisch notwendig und sinnvoll ist.
4. Aufwendungen für die im Saarland lebende pflegebedürftige Mutter
Zu den Einzelheiten in Bezug auf die Anerkennung der außergewöhnlichen Belastungen dem Grunde nach wird auf die Entscheidungsgründe in dem Verfahren 7 K 7009/19 verwiesen.
Zu Gunsten der Kläger erkennt das Gericht für die Aufwendungen für Unterkunft und Verpflegung der Pflegekräfte außergewöhnliche Belastungen nach den Werten gemäß der Sozialversicherungsentgeltverordnung –SvEV– in der für 2018 geltenden Fassung an.
Gemäß § 2 in der jeweils geltenden Fassung der SvEV sind für 2018 für Verpflegung 246,00 €/Monat und für Unterkunft 223,00 €/Monat (12 x 246,00 € + 12 x 226,00 € = 5.664,00 €; so auch für den VZ 2014 FG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.06.2016 –
5 K 2714/15, EFG 2016, 1258).
B. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 FGO. Dabei geht das Gericht im Wege der Schätzung von einer Erfolgsquote in Höhe von 15 % aus.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 Satz 1 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung –ZPO– analog.
Das Gericht hat die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen, weil das Urteil auf nicht (oder jedenfalls nicht umfassend) höchstrichterlich geklärten Rechtsfragen beruht.