Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat | Entscheidungsdatum | 11.11.2021 | |
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Aktenzeichen | L 13 SB 123/18 | ECLI | ECLI:DE:LSGBEBB:2021:1111.L13SB123.18.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 48 SGB 10 |
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 23. Mai 2018 geändert.
Die Bescheide des Beklagten vom 24. Juli 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2015 und vom 14. Dezember 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 2016 werden aufgehoben.
Die Anschlussberufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens in vollem Umfang zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Beteiligten streiten über die Herabsetzung des bei dem Kläger festgestellten Grades der Behinderung (GdB) sowie die Entziehung der Merkzeichen G, B, H und RF.
Der 2001 geborene Kläger beantragte bei dem Beklagten am 18. September 2006 unter Hinweis auf seine starke Kurzsichtigkeit die Feststellung eines GdB und die Zuerkennung der Merkzeichen B und RF.
Am 19. Januar 2007 begab sich der Kläger wegen einer bösartigen Nierenerkrankung in stationäre Behandlung. Mit Rücksicht hierauf stellte er am 12. Februar 2007 einen erneuten Feststellungsantrag. Er bezog sich auf die ärztliche Bescheinigung der C CVK – Klinik für Pädiatrie m.S. Onkologie/Hämatologie – vom 6. Februar 2007, in der u.a. ausgeführt wurde: Während der sich auf einen Zeitraum von acht Monaten erstreckenden Intensivtherapie sei der Kläger als hilflos anzusehen. Wegen der schwächenden Nebenwirkungen der Zytostatika sei er außergewöhnlich gehbehindert, auf eine Begleitperson angewiesen und von der Teilnahme am öffentlichen Leben ausgeschlossen.
Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 15. Februar 2007 bei dem Kläger einen GdB von 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G, B, H und RF fest. Hierbei ging er von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen aus:
1. Nierenerkrankung rechts (in Heilungsbewährung) (Einzel-GdB von 80),
2. Sehminderung (Einzel-GdB von 10).
Im Nachprüfungsverfahren holte der Beklagte den Bericht der C CVK – Klinik für Pädiatrie m.S. Onkologie/Hämatologie – vom 27. Februar 2008 ein, in der sich der Kläger in stationärer, teilstationärer und zuletzt ambulanter Behandlung befand. Es wurde geschildert, dass bei dem Kläger (unter prä- und postoperativer Chemotherapie) eine Tumornephrektomie, die thorakoskopische Resektion einer Metastase sowie eine Bestrahlung der Lunge vorgenommen worden sei.
Durch Bescheid vom 26. Mai 2008 stellte der Beklagte bei dem Kläger mit Wirkung ab dem 18. Februar 2008 einen GdB von 100 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G, B, H und RF fest. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
1. Nierenerkrankung rechts (in Heilungsbewährung) mit Komplikationen (in Heilungsbewährung), Verlust der rechten Niere (Einzel-GdB von 100),
2. Sehminderung (Einzel-GdB von 10).
Im August 2013 leitete der Beklagte ein weiteres Nachprüfungsverfahren ein und holte hierbei neben dem Befundbericht der C CVK – Augenklinik – vom 8. Mai 2014 den Arztbericht der C CVK – Ambulantes Gesundheitszentrum – vom 9. Oktober 2013 ein. Danach war bei dem Kläger kein Rezidiv eingetreten.
Nach Anhörung des Klägers setzte der Beklagte durch Bescheid vom 24. Juli 2014 mit Wirkung ab Bekanntgabe bei dem Kläger den GdB auf 30 herab. Eine Entscheidung über Merkzeichen traf er hierbei nicht. In der Verwaltungsakte des Beklagten findet sich zum Bescheid vom 24. Juli 2014 ein individualisierter und mit einer Paraphe unterschriebener Stempelaufdruck, der lautet: „Bescheid abgesandt: 25.07.2014“. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30. März 2015 zurück. Er ging hierbei zuletzt von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen aus:
1. Verlust der rechten Niere (Einzel-GdB von 30),
2. Sehbehinderung (Einzel-GdB von 20).
Mit der bei dem Sozialgericht Potsdam erhobenen Klage hat sich der Kläger gegen die Herabsetzung des GdB gewandt.
Während des Klageverfahrens hat der Beklagte mit Bescheid vom 14. Dezember 2015 festgestellt, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G, B, H, und RF ab Bekanntgabe des Bescheides nicht mehr vorliegen. Der Verwaltungsakte ist nicht zu entnehmen, wann dieser Bescheid abgesandt worden ist; ein Ab-Vermerk fehlt. Den Widerspruch des Klägers hat der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31. März 2016 zurückgewiesen.
Auch gegen die Entziehung der Merkzeichen hat der Kläger Klage erhoben. Nach Einholung von Befundberichten hat das Sozialgericht über beide Klagen gemeinsam am 23. Mai 2018 mündlich verhandelt und mit Urteil vom selben Tag den Bescheid vom 24. Juli 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 1015 insoweit aufgehoben, als bei dem Kläger ein GdB von weniger als 40 festgestellt wurde, im Übrigen aber die Klage abgewiesen.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren, die vollständige Aufhebung des Herabsetzungs- und des Aufhebungsbescheides, weiter. Er ist insbesondere der Auffassung, dass seine Sehbehinderung mit einem höheren Einzel-GdB als 30 zu bewerten sei.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 11. Juni 2018 zugestellte Urteil des Sozialgerichts Anschlussberufung erhoben, die am 28. August 2018 bei Gericht eingegangen ist.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Augenarztes Dr. V vom 15. Juli 2019, der hinsichtlich der Sehbehinderung für den Zeitraum von Juli 2014 bis April 2015 den Einzel-GdB auf 30 eingeschätzt hat. Der Gutachter hat ausgeführt, weitere Defizite der Augen (z.B. Gesichtsfeldveränderungen) lägen bei dem Kläger nicht vor.
Während des Berufungsverfahrens hat das Sozialgericht Potsdam in einem separaten Klageverfahren mit Urteil vom 15. Juni 2021 den Beklagten verpflichtet, bei dem Kläger mit Wirkung ab dem 16. Juli 2017 einen Gesamt-GdB von 50 festzustellen.
Der Kläger beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 23. Mai 2018 zu ändern sowie die Bescheide des Beklagten vom 24. Juli 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2015 und vom 14. Dezember 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 2016 aufzuheben sowie
2. die Anschlussberufung des Beklagten zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
1. das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 23. Mai 2018 insoweit aufzuheben, als es den Bescheid vom 24. Juli 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 1015 aufgehoben hat, soweit bei dem Kläger ein GdB von weniger als 40 festgestellt wurde, und die Klage auch insoweit abzuweisen sowie
2. die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Er hält an seinen Entscheidungen in den angefochtenen Bescheiden fest. Insbesondere ist er der Auffassung, ein höherer Einzel-GdB als 20 für die Sehminderung könne nicht festgestellt werden.
Weiter hat der Beklagte vorgetragen, es „wird im Bearbeitungsprogramm des Beklagten automatisch und unveränderlich für jedes Dokument ein Datum „Gedruckt am:“ oder „Versendet am:“ hinterlegt. „Gedruckt am:“ wird dabei hinterlegt, wenn der Mitarbeitende das Dokument in der Behörde druckt und anschließend versendet. „Versendet am:“ wird hinterlegt, wenn das Dokument über die Druckstraße eines externen Anbieters versendet wird. Bescheide werden durch den Beklagten grundsätzlich über die Druckstraße versendet. Das „Versendet am:“ Datum steht dabei für das Druckdatum in der Druckstraße. Die Poststücke werden in der Regel am Folgetag dem Postdienstleister übergeben.“ Unter Vorlage eines Ausdrucks aus dem Bearbeitungsprogramm bringt der Beklagte weiter vor: Da für den Bescheid vom 14. Dezember 2015 als Versanddatum der 15. Dezember 2015 hinterlegt sei, wäre das Dokument am 16. Dezember 2015 dem Postdienstleister übergeben worden.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
I. Die Berufung des Klägers ist zulässig.
Insbesondere ist hinsichtlich des Bescheides des Beklagten vom 24. Juli 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2015, mit dem bei dem Kläger der Gesamt-GdB herabgesetzt wurde, keine teilweise Erledigung dadurch eingetreten, dass das Sozialgericht Potsdam mit Urteil vom 15. Juni 2021 den Beklagten verpflichtet hat, bei dem Kläger mit Wirkung ab dem 16. Juli 2017 einen Gesamt-GdB von 50 festzustellen. Denn das vorliegende Berufungsverfahren betrifft insoweit die reine Anfechtung der Herabsetzung des GdB, deren für die gerichtliche Überprüfung maßgeblicher Zeitraum mit dem Erlass des Widerspruchsbescheides im April 2016 endete.
Die Berufung des Klägers ist auch begründet.
Sowohl der Herabsetzungsbescheid des Beklagten vom 24. Juli 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2015 als auch der Aufhebungsbescheid vom 14. Dezember 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 2016 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.
Beide Bescheide verstoßen gegen das Gebot hinreichender Bestimmtheit gemäß § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch / Zehntes Buch (SGB X). Nach dieser Vorschrift muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Ein Verwaltungsakt ist nur dann hinreichend bestimmt, wenn der Inhalt der getroffenen Regelung ggf. im Zusammenhang mit den Gründen und den sonstigen bekannten oder ohne weiteres erkennbaren Umstände für die Beteiligten, insbesondere für die Adressaten des Verwaltungsaktes, vollständig, klar und unzweideutig erkennbar ist und auch die mit dem Vollzug Betrauten oder sonst mit der Angelegenheit befassten Behörden und deren Organe den Inhalt etwaigen Vollstreckungsmaßnahmen oder sonstigen weiteren Entscheidungen zugrunde legen können.
Ebenso wie bei Urteilen ist eine Auslegung des Verfügungssatzes von Verwaltungsakten zwar möglich, jedoch darf diese ebenfalls wie bei Urteilen nur unter Rückgriff auf Tatbestand und Entscheidungsgründe, nicht aber unter Rückgriff auf Unterlagen außerhalb des Titels selbst erfolgen (BSG, Urteil vom 21. November 1958, 5 RKn 3/58, juris, Rdnr. 13; vgl. weiter BAG, Urteil vom 24. Juni 1969, 1 AZR 261/68, juris, Rdnr. 20; BFH, Urteil vom 15. März 2017, III R 12/16, juris, Rdnr. 39; BGH, Beschluss vom 5. März 2015, I ZB 74/14, juris, Rdnr. 21).
Der Maßstab für die notwendige Bestimmtheit eines Bescheides ergibt sich letztlich aus dem materiellen Recht (Ramsauer in Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, § 37 Rdnr. 5, zu dem mit § 33 Abs. 1 SGB X inhaltsgleichen § 37 Abs. 1 VwVfG). Das materielle Recht in Bezug auf die Feststellung eines GdB und/oder die Feststellungen der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Nachteilsausgleiches erfordert nicht lediglich eine Feststellung über das Bestehen eines GdB bzw. die Voraussetzungen für einen Nachteilsausgleich, sondern auch über den Zeitpunkt, ab dem die betreffende Feststellung materiell wirkt. Dies ergibt sich aus § 152 Abs. 1 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX). Nach dessen Absatz 1 Satz 1 stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Nach Satz 2 der Vorschrift kann auf Antrag festgestellt werden, dass ein Grad der Behinderung oder gesundheitliche Merkmale bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen haben, wenn dafür ein besonderes Interesse glaubhaft gemacht wird. Sowohl aus der Vorschrift selbst, aber auch aus dem Zweck der Festsetzung ergibt sich, dass der Zeitpunkt für die Feststellung des GdB bzw. der festzustellenden gesundheitlichen Merkmale unverzichtbarer Bestandteil der jeweiligen Feststellung ist, denn die Feststellung eines Grades der Behinderung bzw. gesundheitlicher Merkmale ist kein Selbstzweck, sondern dient der Inanspruchnahme von Vergünstigungen und Leistungen sowohl in öffentlichen wie auch im privatrechtlichen Bereich. Beispiele hierfür sind etwa die Gewährung von Pauschbeträgen aufgrund von § 33b Einkommenssteuergesetz, die Anerkennung so genannter Mehrbedarfe im Grundsicherungsrecht gemäß § 21 bzw. § 23 Sozialgesetzbuch / Zweites Buch (SGB II) oder auch Vergünstigungen, die behinderten Menschen im Privatrechtsverkehr zuteil werden. Für die Inanspruchnahme derartiger Leistungen und Vergünstigungen ist neben dem Bestehen einer Behinderung bzw. gesundheitlicher Merkmale deren Schwere bzw. Ausprägung und auch der jeweilige Zeitpunkt von Bedeutung. Insoweit erfüllt der Bescheid über die jeweilige Feststellung nicht lediglich eine Funktion gegenüber dem Adressaten des Bescheides, sondern dient darüber hinaus auch der Dokumentation gegenüber Dritten. Diese Dokumentationsfunktion des Feststellungsbescheides wird auch nicht durch den Schwerbehindertenausweis ersetzt, denn abgesehen davon, dass dieser eine Behinderung erst ab einem GdB von 50 zu dokumentieren vermag, trifft er – auch über den Zeitpunkt, von dem ab ein bestimmter Grad der Behinderung bzw. die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen festgestellt werden soll – keine eigenständige Regelung, sondern stellt sich lediglich als Ausführung der entsprechenden Regelung des Feststellungsbescheides dar. Der Dokumentationsfunktion der Feststellung nach § 152 Abs. 1 SGB IX trägt der Beklagte nach ständiger Beobachtung des Senates sowohl im Erstfestsetzungsverfahren, wie auch im Falle einer späteren Heraufsetzung des GdB bzw. der Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen weiterer Nachteilsausgleiche insoweit Rechnung, als der Feststellungsbescheid stets das konkrete Datum nennt, von dem ab die getroffene Feststellung Geltung beansprucht. Gehört indes im Falle der Feststellung einer Behinderung oder einer gesundheitlichen Eigenschaft der Zeitpunkt des Geltungsbeginns materiell zum notwendigen Inhalt der Feststellung, so gilt das Gleiche im Falle der Herabsetzung des GdB bzw. Feststellung des Entfallens gesundheitlicher Eigenschaften wegen Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse auf der Grundlage von § 48 Abs. 1 SGB X für das Geltungsende. Soweit der Beklagte in dem hier streitgegenständlichen Bescheid und auch sonst in ständiger Praxis im Falle einer Herabsetzung des GdB bzw. einer Feststellung des Entfallens gesundheitlicher Eigenschaften den Zeitpunkt der Geltung dieser Neufeststellung und damit zugleich das Ende der Geltung der vormaligen Feststellung „ab Bekanntgabe“ benennt, fehlt es an der Benennung eines solchen Datums, und ein solches ist auch nicht im Wege der Auslegung ermittelbar. Ohne Erfolg beruft sich der Beklagte insoweit auf das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 16. November 2018 (– L 13 SB 280/17 –, juris), denn im dort entschiedenen Fall fehlte es im streitgegenständlichen Herabsetzungsbescheid an jeglicher Angabe zum Zeitpunkt der Herabsetzung, weshalb das LSG den Bescheid so hat auslegen können, dass die Herabsetzung ab dem Datum des Bescheiderlasses Geltung beanspruchen sollte. Eine solche Auslegung ist im hier zu entscheidenden Fall indes schon deshalb nicht möglich, weil der Beklagte mit der Formulierung „ab Bekanntgabe“ offenkundig einen Zeitpunkt nach Erlass des Bescheides für die Herabsetzung des GdB hat bestimmen wollen.
Entgegen der eingangs dargelegten Dokumentationsfunktion des Feststellungsbescheides und damit auch des Herabsetzungs- bzw. des Aufhebungsbescheides nicht nur gegenüber dem Adressaten, sondern auch gegenüber Dritten – sei es der Finanzverwaltung, dem Arbeitsamt oder Teilnehmern am Privatrechtsverkehr – ist es in Ansehung der vom Beklagten gebrauchten Formulierung nicht möglich, den genauen Zeitpunkt der Geltung der Herabsetzung zu bestimmen. Ohne Erfolg beruft sich der Beklagte insoweit auf § 37 Abs. 2 SGB X. Nach dieser Vorschrift gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der – wie hier – durch die Post im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches übermittelt wird, mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Diese Vorschrift betrifft für sich genommen das Wirksamwerden eines Verwaltungsaktes durch Bekanntgabe und hat keinen ihr innewohnenden eigenen Bezug zum Inhalt der im Verwaltungsakt getroffenen materiellen Regelung. Ein solcher Bezug wird erst durch den Beklagten herstellt, indem er die Geltung der Neufeststellung an die Bekanntgabe des Verwaltungsaktes knüpft. Dies erfüllt indes die Anforderungen an eine hinreichende Bestimmtheit der mit dem Verwaltungsakt getroffenen Regelung nicht.
Wie eingangs ausgeführt, setzt die hinreichende Bestimmtheit eines Verwaltungsaktes voraus, dass der Adressat und auch betroffene Dritte vollständig, klar und unzweideutig erkennen können, welche Regelung die den Verwaltungsakt erlassende Behörde betroffen hat. Im Bezug auf den Zeitpunkt der Herabsetzung bzw. der Aufhebung bedeutet dies bei einem durch die Post übermittelten Verwaltungsakt, dass der Zeitpunkt der Aufgabe des Bescheides zur Post bekannt sein muss. Diese Erkenntnis ist indes allein aus dem Bescheid selbst in keinem Fall zu erlangen. Insoweit besteht eine Parallele zum notwendigen Inhalt eines Urteiles. So bestimmt etwa § 291 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), dass eine Geldschuld vom Eintritt der Rechtshängigkeit an zu verzinsen ist. Der Beginn der geschuldeten Verzinsung lässt sich nur dann nur mit hinreichender Bestimmtheit aus dem Tenor des Urteiles entnehmen, wenn darin das konkrete Datum genannt ist. Eine Tenorierung des Zinsanspruches „seit Rechtshängigkeit“ kommt daher nicht in Betracht (vgl. Pukall, Der Zivilprozess in der Praxis, 7 Aufl. 2013, Rdnr. 1190).
Soweit der auf die rechtlichen Bedenken des Senates hingewiesene Beklagte in Abkehr von seinem vormaligen Vorbringen mit Schriftsatz vom 14. Juni 2021 im Verfahren L 13 SB 11/20 (Zeichen des Beklagten: 3102-10104948) nunmehr vorträgt, er selbst habe mit der Formulierung „ab Bekanntgabe“ tatsächlich nicht auf den Rechtsbegriff im Sinne von § 37 Abs. 2 SGB X abgestellt, sondern auf den Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs, führt dies nicht zu einem anderen Ergebnis. Der Begriff „Bekanntgabe“ ist im Zusammenhang mit einem Verwaltungsakt ein feststehender Rechtsbegriff. Die Annahme, dass eine Behörde, die an das SGB X gebunden ist und daher mit den dort getroffenen Bestimmungen vertraut zu sein hat, mit der Verwendung dieses Rechtsbegriffes tatsächlich eine andere als die mit ihm von Rechts wegen verbundene Regelung hat treffen wollen, liegt jedoch fern, zumal der Beklagte denselben Rechtsbegriff auch in der Rechtsbehelfsbelehrung der streitgegenständlichen Bescheide verwandt hat, dort allerdings gewiss nicht – im Rechtssinne unzutreffend – als synonym mit dem tatsächlichen Zugang hat verstanden wissen wollen.
Unabhängig davon erweist sich der hier streitgegenständliche Bescheid bereits deshalb als zu unbestimmt, weil es dem Beklagten, den insoweit die Darlegungs- und Beweislast trifft, nicht gelungen ist, den jeweiligen konkreten Zeitpunkt der Bekanntgabe des Herabsetzungs- bzw. des Aufhebungsbescheides nachzuweisen oder auch nur zu benennen. Damit lässt sich nicht feststellen, wann der Herabsetzungsbescheid bzw. der Aufhebungsbescheid jeweils ihre innere Wirksamkeit erlangt haben. Der Beklagte hat die innere Wirksamkeit der Bescheide – das Wirksamwerden der Herabsetzung des GdB bzw. der Aufhebung der Merkzeichen – an deren äußere Wirksamkeit – die Bekanntgabe im Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X – geknüpft. Hierbei handelt es sich um eine Bedingung im Sinne des § 32 Abs. 2 Nr. 2 SGB X. Den konkreten Zeitpunkt des Bedingungseintritts hat er jedoch weder dargetan noch bewiesen.
Vorliegend hat der Beklagte von der Möglichkeit, den Herabsetzungsbescheid und den Aufhebungsbescheid dem Kläger jeweils förmlich zuzustellen, keinen Gebrauch gemacht, sondern hat sich damit begnügt, ihm die Bescheide lediglich bekannt zu geben, und zwar in Form der Übermittlung durch die Post gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X. Danach gilt der Verwaltungsakt am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Maßgeblich für den Zeitpunkt der Bekanntgabe ist damit das Datum der Aufgabe zur Post. Da es sich bei der Drei-Tages-Regelung um eine Zugangsfiktion handelt, die zu Gunsten des Empfängers wirkt, ist es unerheblich, ob dieser die Briefsendung tatsächlich zu einem früheren Zeitpunkt als dem Ablauf der Drei-Tage-Frist erhalten hat. Allein dann, wenn der Verwaltungsakt zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist, kommt es auf das Datum des tatsächlichen Zugangs an (vgl. § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X). Ein späterer Zugang wird jedoch vorliegend vom Kläger nicht vorgetragen.
Voraussetzung für die Zugangsfiktion nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X ist, dass der Zeitpunkt feststeht, an dem der Verwaltungsakt zur Post aufgegeben wurde. Beweispflichtig für das Datum der Aufgabe zur Post ist die Behörde.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgericht greift die Zugangsfiktion nur ein, wenn der Tag der Aufgabe zur Post in den Behördenakten vermerkt wurde (BSG, Urteil vom 28. November 2006 – B 2 U 33/05 R –, BSGE 97, 279-285, juris Rn. 15).
Ein derartiger „Ab-Vermerk“, mit dem die Aufgabe des streitgegenständlichen Bescheides zur Post dokumentiert wird, ist zu den streitgegenständlichen Bescheiden im Verwaltungsvorgang nicht enthalten.
Zum Herabsetzungsbescheid vom 24. Juli 2014 findet sich ein Stempelaufdruck, der lautet: „Bescheid abgesandt: 25.07.2014“. Diesem Vermerk fehlt jedoch die Tauglichkeit, Beweis für das Datum der Aufgabe zur Post zu erbringen. Denn nach dem eigenen Vorbringen des Beklagten ist es nicht zwingend, dass der Bescheid auch tatsächlich an diesem Tag zur Post gegeben wurde, da seinen Angaben zufolge bei dem Versand durch einen externen Dienstleister, dessen er sich grundsätzlich bedient, die Druckstücke in der Regel erst einen Tag später als im Vermerk angegeben zur Post gelangen.
Ob es der Behörde über die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 28. November 2006 a.a.O.) hinaus möglich ist, den ihm obliegenden Beweis dafür, wann er den Bescheid zur Post aufgegeben hat, auf andere Weise zu führen, kann hier offen bleiben. Denn dies ist dem Beklagten nicht gelungen.
Von der Führung eines Postausgangsbuchs, mit dem dokumentiert wird, wann der Bescheid zur Post aufgegeben wurde, hat der Beklagte abgesehen.
Die Vermerke im Bearbeitungsprogramm des Beklagten sind nicht geeignet, das Datum der Aufgabe des Bescheides zur Post zu belegen.
Der Beklagte hat den Tag der Versendung des Bescheides durch dem im Bearbeitungsprogramm hinterlegten Vermerk „Versendet am:“ nicht belegen können. Abgesehen von dem inneren Widerspruch, dass erklärtermaßen der Vermerk „Versendet am:“ gerade nicht die Versendung des Bescheides dokumentieren soll, sondern lediglich dessen Druck durch einen externen Anbieter, ergibt sich aus dem Vermerk nicht, wann der Bescheid tatsächlich zur Post aufgegeben wurde. Denn nach dem Vortrag des Beklagten werden die in der Druckstraße hergestellten Poststücke lediglich „in der Regel“ am Folgetag dem Postdienstleister übergeben. Diesen Angaben ist nicht mit der notwendigen Gewissheit der Tag des Ausgangs zur Post zu entnehmen. Denn allgemeine Ausführungen dazu, wann bei normalem Verlauf der Dinge ein zu einem bestimmten Zeitpunkt erstellter Bescheid von der Behörde versendet wird, erbringen keinen Beweis (vgl. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Auflage 2018, Rn. 120 zu § 41 VwVfG, mit weiteren Nachweisen).
Vor diesem Hintergrund kann es dahinstehen, ob die materiellen Voraussetzungen nach § 48 Abs. 1 SGB X für eine Herabsetzung des GdB bzw. für die Aufhebung der Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen vorgelegen haben.
II. Die Anschlussberufung des Beklagten hat keinen Erfolg.
Sie ist zulässig, insbesondere nicht verfristet. Denn eine Anschlussberufung ist nach § 524 Abs. 2 Satz 1 Zivilprozessordnung in Verbindung mit § 202 SGG an keine Frist gebunden. Hierfür ist erforderlich, dass die Anschlussberufung den gleichen prozessualen Anspruch wie die Berufung betrifft. Dies ist der Fall: Die Berufung des Klägers hat u.a. die Herabsetzung des GdB zum Gegenstand. Derselbe Lebenssachverhalt liegt auch der Anschlussberufung des Beklagten zu Grunde.
Die Anschlussberufung ist jedoch unbegründet, da der Bescheid vom 24. Juli 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 2015 in vollem Umfang rechtswidrig ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.
Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht gegeben.