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Entscheidung OVG 3 M 22/21


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat Entscheidungsdatum 18.01.2022
Aktenzeichen OVG 3 M 22/21 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2022:0118.OVG3M22.21.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 29 Abs 2 S 2 Nr 1 AufenthG, § 29 Abs 2 S 3 AufenthG, § 71 Abs 2 AufenthG, Art 11 Abs 1 EGRL 86/2003, Art 5 Abs 1 EGRL 86/2003

Tenor

Die Beschwerde der Kläger gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 17. Februar 2021 wird zurückgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

I.

Die 2011 und 2013 geborenen Kläger, syrische Staatsangehörige, begehren den Nachzug zu ihrem im Bundesgebiet lebenden Vater, dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit am 31. Oktober 2015 zugestelltem Bescheid die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat. Der Vater der Kläger teilte der für ihn zuständigen Ausländerbehörde am 21. Januar 2016 mit, dass er einen Antrag auf Familienzusammenführung mit seinen Kindern stelle. Er wolle so schnell wie möglich mit seinen Kindern als Familie zusammenleben. Die weiteren notwendigen Unterlagen würden der Deutschen Botschaft in Beirut vorgelegt.

Am 9. März 2020 beantragten die Kläger bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Beirut Visa zur Familienzusammenführung mit ihrem Vater. Die Deutsche Botschaft verneinte einen Visumanspruch mit Bescheid vom 7. September 2020 wegen Verwirkung. Die Zeitspanne zwischen fristwahrender Anzeige und Visumantragstellung sei zu groß und beruhe allein auf der Entscheidung der Kläger. Sie lebten den Angaben ihres Vaters zufolge seit 2015 bei den Großeltern, deren fortgeschrittenes Alter nunmehr zu einem Nachzugswunsch führe. Ebenso wenig könnten Visa im Ermessenswege erteilt werden. Das Verwaltungsgericht hat den Prozesskostenhilfeantrag mit der Begründung abgelehnt, dass die Kläger ihr Nachzugsrecht verwirkt hätten.

II.

Die Beschwerde der Kläger gegen die erstinstanzliche Versagung von Prozesskostenhilfe ist nicht begründet, denn die Klage bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne von § 166 Abs. 1 VwGO, § 114 Abs. 1 ZPO.

Die Bejahung hinreichender Erfolgsaussichten setzt grundsätzlich nicht voraus, dass der Prozesserfolg im Zeitpunkt der insoweit maßgeblichen Bewilligungsreife schon gewiss ist. Es genügt vielmehr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die jedenfalls dann gegeben ist, wenn der Ausgang des Verfahrens offen ist und ein Obsiegen ebenso in Betracht kommt wie ein Unterliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. März 1999 - 6 B 121.98 - juris Rn. 8; VGH Mannheim, Beschluss vom 21. November 2006 - 11 S 1918/06 - juris Rn. 7; W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2020, § 166 Rn. 8). Prozesskostenhilfe darf demgegenüber verweigert werden, wenn die Erfolgschance lediglich eine entfernte ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. Oktober 2019 - 2 BvR 1813/18 - juris Rn. 27; Beschluss vom 11. August 2020 - 2 BvR 437/20 - juris Rn. 4).

Gemessen daran kommt eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht in Betracht, weil die Kläger entgegen ihrer Auffassung keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung der begehrten Visa zum Familiennachzug gemäß §§ 6 Abs. 3, 29 Abs. 2, 32 AufenthG haben. Die Voraussetzungen für einen insoweit allein in Betracht kommenden privilegierten – nämlich von der Sicherung des Lebensunterhaltes und dem Nachweis ausreichenden Wohnraumes unabhängigen - Nachzug liegen nicht vor.

Von diesen beiden Nachzugsvoraussetzungen ist gemäß § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG beim Familiennachzug eines minderjährigen Kindes zu einem im Bundesgebiet als Flüchtling lebenden Elternteil nur dann abzusehen, wenn der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels innerhalb von drei Monaten nach unanfechtbarer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt wird. Nach § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist die Drei-Monats-Frist auch durch die rechtzeitige Antragstellung des im Bundesgebiet lebenden Ausländers gewahrt. Zwar hat der Vater der Kläger bereits am 21. Januar 2016 und damit grundsätzlich innerhalb der Drei-Monats-Frist bei der für ihn zuständigen Ausländerbehörde eine Familienzusammenführung mit den Klägern angezeigt. Darauf können sich die Kläger jedoch nicht zu ihren Gunsten berufen, weil es zum einen nach mehr als vier Jahren an dem erforderlichen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Anzeige und dem bei der zuständigen Auslandsvertretung gestellten Antrag auf Familienzusammenführung fehlt. Zum anderen lässt sich dem Vorbringen der Kläger im Visumverfahren entnehmen, dass im Zeitpunkt der fristwahrenden Anzeige eine Familienzusammenführung mit dem im Bundesgebiet lebenden Vater noch nicht ernsthaft beabsichtigt war, weil die seinerzeit sehr jungen Kläger zunächst von ihren Großeltern erzogen wurden. Die Kläger haben den Familiennachzug zu ihrem Vater dem eigenen Vorbringen zufolge erst betrieben, nachdem den Großeltern die Betreuung der Kinder aus Altersgründen schwerfiel. § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG dient jedoch nicht dazu, einen erst später beabsichtigten Familiennachzug „auf Vorrat“ zu sichern.

Bei dem in § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG genannten „Antrag“ des bereits im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen handelt es sich nicht um einen förmlichen Visumantrag, sondern lediglich um eine fristwahrende Anzeige, die die in den Verfahrensvorschriften des Aufenthaltsgesetzes geregelte Zuständigkeit für die Antragstellung im Ausland (§ 71 Abs. 2 AufenthG) und das Erfordernis einer persönlichen Vorsprache durch den Nachzugswilligen nicht berührt. Dies ergibt sich sowohl aus dem Zweck der Regelung als auch aus dem systematischen Zusammenhang.

§ 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG verfolgt mit der Möglichkeit einer fristwahrenden Antragstellung durch den im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen bei der für ihn im Inland zuständigen Ausländerbehörde, die im vom Ausland aus zu betreibenden Visumverfahren gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthV zustimmen muss, den Zweck, den auf eine sehr kurze Zeitspanne von drei Monaten beschränkten privilegierten Zuzug von Ehegatten und minderjährigen Kindern eines Flüchtlings nicht zusätzlich unnötig zu erschweren. Die im Ausland verbliebenen Familienangehörigen werden nicht immer in der Lage sein, fristgerecht innerhalb von drei Monaten einen Visumantrag bei der für sie nach § 71 Abs. 2 AufenthG zuständigen Auslandsvertretung zu stellen, weil sie unter Umständen erst mit Verspätung von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfahren oder angesichts schwieriger Bedingungen in Krisengebieten oder bei einer die Kapazitäten der Auslandsvertretung übersteigenden Nachfrage nicht rechtzeitig einen Vorsprachetermin erhalten können (vgl. auch BT-Drs. 16/5065, S. 172).

Es ist unter keinem Gesichtspunkt erkennbar, dass der Gesetzgeber mit dieser Ausnahmevorschrift die ausdrücklich und abschließend normierte Zuständigkeit der Auslandsvertretung für die Visumantragstellung gemäß § 71 Abs. 2 AufenthG in Verbindung mit § 81 Abs. 1 AufenthG modifizieren wollte. Auch wenn er in § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG den Begriff „Antrag“ verwendet, ist sowohl vom Sinn und Zweck der Regelung als auch im Hinblick auf ihren systematischen Zusammenhang letztlich (nur) eine fristwahrende Anzeige gemeint, die eine Antragstellung durch den nachzugswilligen Familienangehörigen im Sinne von §§ 71 Abs. 2, 81 Abs. 1 AufenthG einschließlich seiner im Hinblick auf die Identitätsklärung grundsätzlich erforderlichen Vorsprache bei der zuständigen Auslandsvertretung (vgl. dazu OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 5. März 2019 – OVG 3 L 67.17 – juris Rn. 5 und vom 27. Juli 2017 – OVG 3 M 92.17 - juris Rn. 6) nicht ersetzt. Die in § 71 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG normierte Zuständigkeitsverteilung zwischen den Ausländerbehörden im Bundesgebiet und den Auslandsvertretungen spiegelt sich auch in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthV wider. Danach bedarf das Visum zur Familienzusammenführung stets (nur) der internen Zustimmung der für den vorgesehenen Aufenthaltsort zuständigen Ausländerbehörde gegenüber der Auslandsvertretung, während der Nachzugswillige das Visumverfahren allein vor der Auslandsvertretung als zuständiger Behörde führt.

Da es sich nach alledem bei der fristwahrenden Anzeige im Bundesgebiet nicht um einen förmlichen Visumantrag handelt und ihr bis auf die Fristwahrung keine weiteren Wirkungen zukommen, ist die für den Visumantrag nicht zuständige Ausländerbehörde auch nicht verpflichtet, die Anzeige an die nach § 72 Abs. 2 AufenthG zuständige Auslandsvertretung weiterzuleiten (vgl. auch Hailbronner, Ausländerrecht, § 29 AufenthG Rn. 16).

Nichts anderes folgt aus Art. 11 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (Familienzusammenführungsrichtlinie), wonach die Mitgliedstaaten festlegen, dass der Antrag auf Einreise und Aufenthalt entweder von dem Zusammenführenden oder von den Familienangehörigen gestellt werden muss. § 81 Abs. 1, § 71 Abs. 2 AufenthG verdeutlichen, dass der Gesetzgeber die Erteilung des Visums allein von einem wirksamen Antrag der noch im Ausland befindlichen Familienangehörigen abhängig macht, und dass er das ihm unionsrechtlich zustehende Wahlrecht gerade nicht durch eine zusätzliche formale Antragstellung im Inland mit der Verpflichtung der Ausländerbehörde zur Übermittlung des Antrags an die zuständige Auslandsvertretung erweitern wollte.

§ 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG, zu dessen Erlass Art. 12 Abs. 1 UA 3 Familienzusammenführungsrichtlinie ermächtigt, geht davon aus, dass eine Sicherung des Lebensunterhaltes und das Vorhandensein ausreichenden Wohnraums noch nicht verlangt werden kann, wenn sich der Familienangehörige, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, erst seit kurzem im Bundesgebiet aufhält und sich die in § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG genannten Familienangehörigen zügig zu einem Nachzug entschließen, um die Familieneinheit wiederherzustellen. Insoweit soll nur ein in zeitlicher Hinsicht angemessener Nachzug erleichtert werden (vgl. auch Tewocht, in: BeckOK Ausländerrecht, § 29 AufenthG Rn. 7). Ist dies nicht der Fall, liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG nicht vor.

Ergibt sich unmittelbar aus dem Sinn und Zweck des privilegierten Nachzugs zu Flüchtlingen und im Hinblick auf den systematischen Zusammenhang des § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG, dass zwischen der fristwahrenden Anzeige und dem bei der Auslandsvertretung zu stellenden Antrag auf Visumerteilung regelmäßig ein – von den Umständen des Einzelfalles abhängiger - zeitlicher Zusammenhang bestehen muss, kommt es auf die von der Beklagten und dem Verwaltungsgericht bejahte Frage nach der Verwirkung des Nachzugsrechts nicht entscheidungserheblich an (anders noch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. April 2017 – OVG 3 M 44.17).

Unabhängig davon dient § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG nicht dazu, den im Ausland verbliebenen Familienangehörigen eines im Bundesgebiet lebenden Flüchtlings vorsorglich einen privilegierten Nachzug zu sichern, wenn dieser Nachzug den Vorstellungen der Betroffenen zufolge noch nicht sogleich, sondern erst nach längerer Zeit – hier sogar erst nach mehreren Jahren – verwirklicht werden soll. In einem solchen Fall bedarf es in der Regel keines privilegierten, von der Sicherung des Lebensunterhaltes und dem Nachweis ausreichenden Wohnraumes unabhängigen Nachzugsanspruchs mehr, sondern das Nachzugsbegehren wird gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in das Ermessen der Auslandsvertretung gestellt. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass von einem seit mehreren Jahren im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen in der Regel Integrationsbemühungen erwartet werden dürfen und können, die in die Ermessenserwägungen einzustellen sind. Ließe man in diesen Fällen allein eine fristwahrende Anzeige als anspruchsbegründend für einen erst Jahre später betriebenen (erleichterten) Familiennachzug ausreichen, würde hierdurch der Zweck der Drei-Monats-Frist des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG entgegen der Intention des Gesetzgebers letztlich obsolet.

Die Beschwerde nennt keinen tragfähigen Grund, der die Annahme rechtfertigen könnte, dass hier der zeitliche Zusammenhang zwischen der fristwahrenden Anzeige durch den Vater der Kläger und deren Antragstellung bei der Botschaft noch gewahrt ist. Daran ändert auch der Hinweis auf Wartezeiten und übliche Verfahrensweisen der Botschaft in Beirut nichts (vgl. zu den dortigen Wartezeiten z.B. OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 5. März 2019 – OVG 3 L 67.17 – juris Rn. 5 und vom 2. Januar 2017 – OVG 3 M 122.16 – juris Rn. 6). Die Beschwerde legt nicht hinreichend dar und macht nicht glaubhaft, wann sich die Kläger um einen Vorsprachetermin bemüht bzw. einen Antrag gestellt haben. Im Übrigen stellt die Beschwerde nicht in Abrede, dass eine zeitnahe Familienzusammenführung mit dem allein im Bundesgebiet lebenden Vater zwar Anfang 2016 gegenüber der Ausländerbehörde erklärt, aber nicht umgesetzt worden ist, weil die zu diesem Zeitpunkt erst knapp fünf bzw. noch nicht drei Jahre alten Kläger nach der Trennung von ihren Eltern offensichtlich zunächst bei ihren Großeltern väterlicherseits verbleiben sollten und dort über mehrere Jahre hinweg aufgewachsen sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 127 Abs. 4 ZPO. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es wegen der gesetzlich bestimmten Festgebühr nicht.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).