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Entscheidung 21 Ta 1158/21


Metadaten

Gericht LArbG Berlin-Brandenburg 21. Beschwerdekammer Entscheidungsdatum 03.12.2021
Aktenzeichen 21 Ta 1158/21 ECLI ECLI:DE:LAGBEBB:2021:1203.21TA1158.21.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 114 S 1 ZPO, § 241 Abs 2 BGB, § 280 Abs 1 BGB, § 11b SGB 2, § 34c SGB 2, § 42 Abs 1 SGB 2, § 337 Abs 2 SGB 3, § 115 Abs 1 SGB 10

Leitsatz

1. Ein oder eine Arbeitgeber*in kommt in Annahmeverzug, wenn es ihm oder ihr möglich und zumutbar ist, einen oder eine gesundheitlich eingeschränkte Arbeitnehmer*in in dem diesem oder dieser obliegenden Aufgabenbereich mit Tätigkeiten unter Berücksichtigung der Einschränkungen zu betrauen und er den oder die Arbeitnehmer*in nicht beschäftigt, gleichwohl dieser oder die seine oder ihre Arbeitleistung angeboten hat.
2. Ist dies nicht möglich, kann sich der oder die Arbeitgeber*in schadensersatzpflichtig machen, wenn es ihm oder ihr möglich und zumutbar ist, dem oder der Arbeitnehmer*in einen anderen geeigneten Arbeitsplatz gegebenenfalls nach entsprechender Umorganisation zuzuweisen und er oder sie dies unterlässt.
3. In beiden Fällen muss der oder die Arbeitnehmer*in die in Betracht kommenden Einsatzmöglichkeiten aufzeigen. Darauf hat sich der oder die Arbeitgeber*in nach § 138 Absatz 2 ZPO einzulassen und substantiiert vorzutragen, weshalb diese nicht bestehen oder ihm oder ihr nicht zumutbar sind. Es obliegt dann dem oder der Arbeitnehmer*in, die Behauptungen des oder der Arbeitgeber*in zu widerlegen.
4. Die Darlegungslast des oder der Arbeitgeber*in verschärft sich, wenn er oder sie ein nach § 167 Abs. 2 SGB IX erforderliches BEM unterlassen hat. Er oder sie hat dann von vornherein umfassend darzulegen, weshalb keine zumutbaren Beschäftigungmöglichkeiten bestehen.
5. Zum Übergang des Anspruchs auf Arbeitsentgelt nach § 115 Absatz 1 SGB X wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld I und aufstockendem Arbeitslosengeld II als Bedarfsgemeinschaft.

Tenor

I. Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird - unter Zurückweisung der sofortigen Beschwerde im Übrigen - der Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 17. Juni 2021 - 57 Ca 6305/21 - teilweise abgeändert:

Dem Antragsteller wird für die I. Instanz Prozesskostenhilfe für den Antrag aus dem Klageentwurf vom 5. Juli 2021 im Umfang von 7.859,86 Euro brutto abzüglich 5.089,40 Euro netto nebst Zinsen mit Wirkung ab dem 16. November 2021 bewilligt.

Zur Wahrnehmung der Rechte in dieser Instanz wird dem Antragsteller Rechtsanwalt Andreas S beigeordnet.

Die Bewilligung erfolgt mit der Maßgabe, dass hinsichtlich der Prozesskosten vorläufig kein eigener Beitrag zu zahlen ist.

II. Die Gerichtsgebühr wird auf die Hälfte ermäßigt.

III. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen

Gründe

I. In dem Beschwerdeverfahren wendet sich der Antragsteller und Beschwerdeführer (im Folgenden: Antragsteller) gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Klage gegen seine Arbeitgeberin (im Folgenden: mögliche Beklagte) auf Arbeitsentgelt für die Zeit vom 19. März bis zum 30. Juni 2021.

Der Antragsteller ist verheiratet und hat drei minderjährige Kinder. Er ist bei der möglichen Beklagten seit dem 5. Juli 2011 als Bauhelfer auf der Grundlage des schriftlichen Arbeitsvertrages vom selben Tag (Blatt 8 ff. (fortfolgende) der Akten) mit monatlich 160 Stunden und einem Stundenlohn von 14,00 Euro beschäftigt. Die mögliche Beklagte betreibt in Berlin ein Bauunternehmen und beschäftigt über hundert Techniker*innen sowie mehrere hundert gewerbliche Facharbeiter*innen. Am 20. Mai 2019 erlitt der Antragsteller einen Arbeitsunfall und wird seitdem nicht mehr beschäftigt. Bei dem Arbeitsunfall kam es zu einem Abriss des Seitenbandes an seinem linken Daumen. Trotz mehrerer Operationen konnte die Stabilität des Daumengrundgelenks nicht wiederhergestellt werden, was dazu führte, dass die Kraft beim Spitzgriff gemindert und die linke Hand dadurch nicht mehr voll einsatzfähig ist. Ab dem 2. Juli 2019 nach Auslaufen der Entgeltfortzahlung bezog der Antragsteller Verletztengeld. Nachdem im November 2020 auch dieses ausgelaufen war, erhielt er monatlich 1.215,00 Euro Arbeitslosengeld I (ALG I) und aufstockend für sich und die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen 360,58 Euro Arbeitslosengeld II (ALG II). Seit dem 16. November 2021 erhält er nur noch ALG II.

Ein Antrag des Antragstellers auf Erwerbsminderungsrente wurde zurückgewiesen, da die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit (MdE) nicht mindestens 20 % betrage. Ein im Widerspruchsverfahren eingeholtes Gutachten kam zu dem Schluss, beim Antragsteller bestehe ein MdE von lediglich 10 %. Mit Bescheid vom 31. März 2021 wurde der Widerspruch des Antragstellers bestandskräftig zurückgewiesen.

Im Juli 2020 fand auf Veranlassung der Berufsgenossenschaft Bau (BG Bau) eine Belastungsprobe ohne Erfolg statt. Ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) nach § 167 Absatz 2 SGB IX (Neuntes Buch Sozialgesetzbuch) wurde nicht durchgeführt. Der Antragsteller sprach den Geschäftsführer der möglichen Beklagten mehrfach auf Möglichkeiten einer Weiterbeschäftigung an, jedoch ohne Ergebnis. Mit anwaltlichem Schreiben vom 18. März 2021 (Blatt 12 f. (folgende) der Akten) forderte der Antragsteller die mögliche Beklagte auf, ihm einen leidensgerechten Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen und bot seine Arbeitskraft ausdrücklich an. Zwar sei davon auszugehen, dass er nicht mehr im bisherigen Maß als Bauhelfer einsetzbar sei, andere Tätigkeiten seien aber durchaus möglich. Mit einem weiteren Schreiben vom 9. April 2021 (Blatt 14 f. der Akten) machte der Antragsteller Vergütung wegen Annahmeverzugs geltend. Mit Schreiben vom 15. April 2021 (Blatt 16 f. der Akten) teilte die mögliche Beklagte dem Antragsteller mit, eine leidensgerechte Beschäftigung sei nicht möglich. Daran hätte nach ihrer ebenfalls geäußerten Auffassung auch die Durchführung eines BEM nichts geändert.

Mit Schriftsatz vom 11. Juni 2021 beantragte der Antragsteller die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Verfahrensbevollmächtigten für eine beabsichtigte Klage auf Abrechnung und Auszahlung des Nettoentgelts. Mit Beschluss vom 17. Juni 2021 hat das Arbeitsgericht den Antrag zurückgewiesen, weil die beabsichtigte Klage keine hinreichende Erfolgsaussicht habe. Der als Stufenklage auszulegende Antrag sei unzulässig, weil unbestimmt. Außerdem sei er auch unbegründet, weil ein Anspruch auf Abrechnung nach § 108 Absatz 1 Satz 1 GewO (Gewerbeordnung) nur bei Zahlung bestehe. Ein oder eine Arbeitnehmer*in habe Anspruch auf Zahlung des vereinbarten Bruttoentgelts, welches er oder sie gegebenenfalls selbst berechnen müsse.

Gegen diesen dem Antragsteller am 25. Juni 2021 zugestelltem Beschluss hat der Antragsteller mit am 13. Juli 2021 beim Arbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz sofortige Beschwerde eingelegt und einen Klageentwurf mit einem geänderten, auf die Zahlung des Bruttoentgelts gerichteten Klageantrag eingereicht. Weiter hat er vorgetragen, er könne weiterhin einfache Arbeiten ausführen, da lediglich die Benutzung seiner linken Hand eingeschränkt sei. Er könne zwar seiner Tätigkeit als Bauhelfer nicht in der bisherigen Weise nachkommen. Es gebe aber genügend einfache Tätigkeiten, die er trotz der Einschränkung ausüben könne. Er könne auch nicht nur Fegen oder „Saubermachen“, sondern auch andere Tätigkeiten übernehmen, die im täglichen Baubetrieb anfielen, wie beispielsweise Auf- und Abladen der Lieferfahrzeuge oder Kontrolltätigkeiten bei der Fertigstellung von Wohnungen. Auf den Baustellen gebe es immer genug Tätigkeiten, die er unter Schonung seines linken Daumens ausführen könne und die ihm der jeweilige Polier mit Rücksicht auf seine Einschränkung zuweisen könne.

Die mögliche Beklagte hat eingewandt, sie halte den Arbeitsplatz des Antragstellers als Bauhelfer unverändert vor, der Antragsteller habe das Arbeitsangebot jedoch stets abgelehnt. Einen leidensgerechten Arbeitsplatz mit leichteren Tätigkeiten wie zum Beispiel Fegen und Reinigungsarbeiten könne sie dem Antragsteller nicht anbieten, weil es einen solchen Arbeitsplatz im Unternehmen nicht gebe. Die Tätigkeit als Bauhelfer beinhalte praktisch ausschließlich körperliche Tätigkeiten wie das Bedienen von Baumaschinen, Lage/Transport- und Aufräumarbeiten sowie Reinigungsarbeiten nach verrichteter Arbeit.

Mit Beschluss vom 19. August 2021 hat das Arbeitsgerichts der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen. Ein Anspruch auf Arbeitsentgelt aus Annahmeverzug bestehe nicht, da eine leidensgerechte Beschäftigung die Zuweisung eines anderen Arbeitsplatzes erfordere und außerdem zweifelhaft sei, ob die vom Antragsteller genannten Tätigkeiten eine Vollzeitbeschäftigung begründen könnten.

Der Antragsteller wendet dagegen ein, er habe seine Arbeitsleistung als Bauhelfer angeboten. Bauhelfer führten in der Regel einfache Zuarbeiten aus. Dies sei ihm auch weiterhin möglich. Er habe auch bisher einfache Zuarbeiten ausgeführt. Das Führen von Baumaschinen oder Arbeiten an Maschinen habe nur unregelmäßig zu seinen Aufgaben gehört. Hilfsweise mache er Schadensersatz in Höhe des ausstehenden Arbeitsentgelts geltend. Die mögliche Beklagte habe stets verlangt, dass er wie bislang sämtliche Tätigkeiten eines Bauhelfers übernehme, und sei nicht bereit gewesen, auf seine Einschränkung Rücksicht zu nehmen.

Die mögliche Beklagte bleibt dabei, ein Arbeitsangebot des Antragstellers als Bauhelfer habe es nie gegeben. Er habe die Übernahme seiner arbeitsvertraglich geschuldeten und vor der Verletzung ausgeübten Tätigkeit vielmehr abgelehnt und auf einem leidensgerechten - anderen - Arbeitsplatz beharrt. Das Berufsbild des Bauhelfers lasse eine Aufspaltung der zuarbeitenden Tätigkeiten in „handfreie“ und sonstige Tätigkeiten nicht zu. Dennoch habe es erhebliche Bemühungen gegeben, anderweitige Einsatzmöglichkeiten zu prüfen und diese mit dem Antragsteller zu erörtern, aber leider ohne Erfolg.

Wegen des weiteren Vortrags der Verfahrensbeteiligten wird auf die wechselseitigen Schriftsätze verwiesen.

II. Die sofortige Beschwerde hat teilweise Erfolg.

Nach § 78 Satz 1 ArbGG (Arbeitsgerichtsgesetz) gelten für Beschwerden gegen Entscheidungen der Arbeitsgerichte die für Beschwerden gegen Entscheidungen der Amtsgerichte maßgeblichen Vorschriften der Zivilprozessordnung entsprechend. Ebenso gelten nach § 11a Absatz 1 ArbGG im arbeitsgerichtlichen Verfahren die für die Prozesskostenhilfe geltenden Vorschriften der Zivilprozessordnung entsprechend.

1. Die sofortige Beschwerde ist nach § 127 Absatz 2 Satz 2 ZPO (Zivilprozessordnung) an sich statthaft sowie nach § 127 Absatz 2 Satz 3 ZPO, § 569 Absatz 2 ZPO frist- und formgerecht eingelegt worden. Sie ist daher zulässig.

2. Die sofortige Beschwerde ist auch teilweise begründet. Im Übrigen ist sie unbegründet.

a) Nach § 114 Satz 1 ZPO ist einer Prozesspartei, die - wie der Antragsteller - nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Dabei dürfen wegen des verfassungsrechtlichen Gebots der weitgehenden Angleichung der Situation Bemittelter und Unbemittelter bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes die Anforderungen an die Erfolgsaussicht nicht überspannt werden (vergleiche BVerfG (Bundesverfassungsgericht) 15. Oktober 2015 - 1 BvR 1790/13 - Rn. (Randnummer) 19 f.). Die Prüfung der Erfolgsaussichten darf nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (BVerfG 15. Oktober 2015 - 1 BvR 1790/13 - Rn. 19). Dem genügt das Gesetz, indem § 114 ZPO die Gewährung von Prozesskostenhilfe bereits dann vorsieht, wenn nur hinreichende Erfolgsaussicht besteht, ohne dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss. Das bedeutet zugleich, dass Prozesskostenhilfe verweigert werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (BVerfG 4. August 2016 - 1 BvR 380/16 - Rn. 12).

b) Nach diesen Grundsätzen ist dem Antragsteller für die beabsichtigte Klage im Umfang von 7.859,86 Euro brutto abzüglich 5.089,40 Euro netto erhaltener Sozialleistungen Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Verfahrensbevollmächtigten zu gewähren. Im Übrigen hat das Arbeitsgericht den Antrag zu Recht zurückgewiesen.

aa) Die beabsichtigte Klage hat dem Grunde nach hinreichende Aussicht auf Erfolg. Nach dem Vorbringen der Verfahrensbeteiligen kommt ein Anspruch des Antragstellers auf Arbeitsvergütung für die Zeit vom 19. März bis zum 30. Juni 2021 sowohl unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs als auch unter dem Gesichtspunkt des im Beschwerdeverfahren hilfsweise geltend gemachten Schadensersatzes in Betracht. Es handelt sich auch nicht nur um eine entfernte Erfolgschance.

(1) Ein Anspruch auf Vergütung für die Zeit vom 19. März bis zum 30. Juni 2021 aus Annahmeverzug kommt nach § 615 Satz 1 in Verbindung mit § 611a Absatz 2 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) und dem Arbeitsvertrag des Antragstellers in Betracht, wenn der Antragsteller trotz seiner Einschränkung weiterhin als Bauhelfer einsetzbar war, auch wenn er nicht mehr alle Tätigkeiten eines Bauhelfers ausführen konnte.

(a) Zwar gerät ein oder eine Arbeitgeber*in nach § 293 BGB nur in Annahmeverzug, wenn der oder die Arbeitnehmer*in seine oder ihre Arbeitsleitung für die von dem oder der Arbeitgeber*in im Rahmen des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts nach § 106 Satz 1 GewO zuletzt wirksam zugewiesene Tätigkeit anbietet. Dagegen reicht es nicht aus, wenn sich das Arbeitsangebot auf andere, zwar vom Arbeitsvertrag umfasste, aber bisher nicht zugewiesene Tätigkeiten bezieht, da es sich hierbei nicht um die im Sinne des § 294 BGB zu bewirkende Arbeitsleistung handelt (vergleiche dazu BAG vom 19. Mai 2010 - 5 AZR 162/09 - Rn. 13 ff.). Vorliegend entspricht jedoch - anders als bei dem Sachverhalt, der der zitierten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zugrunde lag - die im Arbeitsvertrag vereinbarte Tätigkeit als Bauhelfer der vom Antragsteller zu bewirkenden Arbeitsleistung, da die mögliche Beklagte keine Konkretisierung der geschuldeten Tätigkeit als Bauhelfer auf bestimmte Tätigkeiten eines Bauhelfers vorgenommen hat. Vielmehr konkretisiert sich die Tätigkeit des Antragstellers auf bestimmte Verrichtungen erst durch entsprechende Einzelanweisungen des Poliers. Dass es dem Polier im Rahmen des § 106 Satz 1 GewO jedoch nicht möglich oder der möglichen Beklagten unzumutbar wäre, bei der Zuweisung der konkreten Tätigkeiten auf die Einschränkungen des Antragstellers Rücksicht zu nehmen (vergleiche dazu BAG 4. Oktober 2005 - 9 AZR 632/04 - Rn. 14), hat die mögliche Beklagte nicht dargelegt (zur Darlegungs- und Beweislast BAG 4. Oktober 2005 - 9 AZR 632/04 - Rn. 28 mwN). Dies liegt auch nicht auf der Hand.

(b) Der Antragsteller hat behauptet, er könne nach wie vor Zuarbeiten eines Bauhelfers ausführen, und mehrere Tätigkeiten benannt. Die mögliche Beklagte müsse bei der Zuweisung der konkreten Tätigkeiten lediglich Rücksicht auf die Einschränkungen seiner linken Hand nehmen. Dies sei auch möglich, weil auf den Baustellen immer auch leichtere Tätigkeiten anfielen, die er trotz seiner Einschränkung ausführen könne. Die mögliche Beklagte hat sich hierzu entgegen § 138 Absatz 2 ZPO nicht konkret eingelassen, sondern lediglich pauschal behauptet, das Berufsbild des Bauhelfers lasse eine Aufspaltung der zuarbeiteten Tätigkeiten in „handfreie“ und sonstige Tätigkeiten nicht zu.

(2) Sollte man zu dem Ergebnis kommen, dass die zu bewirkende Arbeitsleistung sämtliche bei der möglichen Beklagten anfallende Bauhelfertätigkeiten umfasst, weil sich die Tätigkeit nicht sinnvoll auf dem Antragsteller mögliche Zuarbeiten und solche Zuarbeiten, die er nicht mehr ausführen kann, aufteilen lässt, käme ein Schadensersatzanspruch nach § 280 Absatz 1 BGB in Verbindung mit § 241 Absatz 2 BGB in Betracht.

(a) Nach § 241 Absatz 2 BGB ist der oder die Arbeitgeber*in aufgrund der arbeitgeberseitigen Rücksichtnahmepflicht verpflichtet, einem oder einer Arbeitnehmer*in, der oder die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage ist, die im Sinne des § 294 BGB zu bewirkende Arbeitsleistung zu erbringen, im Rahmen des rechtlich Möglichen und Zumutbaren einschließlich einer gegebenenfalls erforderlichen Vertragspassung eine den gesundheitlichen Einschränkungen des oder der Arbeitnehmer*in entsprechende Tätigkeit zuzuweisen (vergleiche dazu BAG 3. Dezember 2019 - 9 AZR 78/19 - Rn. 21 mwN). Dies dürfte erst recht gelten, wenn die Einschränkungen - wie vorliegend - auf einem Arbeitsunfall beruhen und zu einer Behinderung - wenn auch keiner Schwerbehinderung - des oder der Arbeitnehmer*in geführt haben. Das kann auch bedeuten, dass der oder die Arbeitgeber*in verpflichtet ist, die Erledigung der anfallenden Tätigkeiten entsprechend umzuorganisieren (vergleiche BAG 14. Oktober 2020 - 5 AZR 649/19 - Rn. 27). Hingegen besteht keine Verpflichtung, einen zusätzlichen, bisher nicht vorhandenen und auch nicht benötigten Arbeitsplatz zu schaffen (BAG 3. Dezember 2019 - 9 AZR 78/19 - Rn. 24).

(b) Hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast, gilt nichts anderes, als wenn der oder die Arbeitnehmer*in Ansprüche aus Annahmeverzug geltend macht. Danach trägt nach den allgemeinen Regeln grundsätzlich der oder die Arbeitnehmer*in die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen. Er oder sie muss grundsätzlich die Beschäftigungsmöglichkeiten aufzeigen, die seinem oder ihrem eingeschränkten Leistungsvermögen sowie seine oder ihre Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechen. Hierauf hat sich der oder die Arbeitgeber*in nach § 138 Absatz 2 ZPO durch substantiierten Tatsachenvortrag einzulassen und gegebenenfalls vorzutragen, aus welchen Gründen die aufgezeigten Beschäftigungsmöglichkeiten nicht bestehen oder deren Zuweisung ihm oder ihr unzumutbar ist. Zu dieser sekundären Behauptungslast gehört gegebenenfalls auch die Darlegung, dass kein entsprechender freier Arbeitsplatz vorhanden ist und auch nicht durch Versetzung freigemacht werden kann. Es obliegt dann dem oder der Arbeitnehmer*in der Nachweis, dass entgegen der Behauptung des oder der Arbeitgeber*in ein geeigneter Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Jedoch treten Erleichterungen für den oder die Arbeitnehmer*in ein, wenn der oder die Arbeitgeber*in der Verpflichtung zur Durchführung eines BEM nicht nachgekommen ist. In diesem Fall hat er oder sie auch ohne Benennung konkreter Einsatzmöglichkeiten durch den oder die Arbeitnehmer*in darzutun, dass ihm eine zumutbare Beschäftigung des oder der in seinem oder ihren Leistungsvermögen eingeschränkten Arbeitnehmer*in nicht möglich war (vergleiche BAG 14. Oktober 2020 - 5 AZR 649/19 - Rn. 35 mwN).

(c) Dass die mögliche Beklagte ein BEM durchgeführt hat, hat sie selbst nicht behauptet. Sie hat lediglich pauschal behauptet, sie habe - leider ohne Erfolg - erhebliche Bemühungen unternommen, anderweitige Einsatzmöglichkeiten zu prüfen und diese mit dem Antragsteller zu erörtern. Welche konkreten Bemühungen sie unternommen hat und in welchem Rahmen sie welche Möglichkeiten mit dem Antragsteller erörtert hat, hat sie jedoch nicht dargelegt.

bb) Was die Höhe der begehrten Zahlung betrifft, hat die beabsichtigte Klage nach dem bisherigen Vorbringen des Antragstellers jedoch nur im Umfang vom 7.859,86 Euro brutto abzüglich 5.089,40 Euro netto erhaltener Sozialleistungen hinreichende Aussicht auf Erfolg.

(1) Nach § 3 des Arbeitsvertrages des Antragstellers vom 4. Juli 2011 in Verbindung mit § 3 Nr. 1.1 und 1.2 des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe (BRTV) vom 28. September 2018 beträgt die mit dem Antragsteller vereinbarte Arbeitszeit von 160 Stunden pro Monat 92,31 % der durchschnittlichen regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche bzw. 173,33 Stunden pro Monat und verteilt sich unregelmäßig auf das Jahr. In den Monaten Januar bis März und Dezember (Winterarbeitszeit) beträgt regelmäßige tarifliche Arbeitszeit wöchentlich 38 Stunden (montags bis donnerstags jeweils 8 Stunden und freitags 6 Stunden), und in den Monaten April bis November (Sommerarbeitszeit) wöchentlich 41 Stunden (montags bis donnerstags jeweils 8,5 Stunden und freitags 7 Stunden). Der BRTV vom 28. September 2018 wurde durch Bekanntmachung vom 7. Mai 2019 (BAnz (Bundesanzeiger) AT (Amtlicher Teil) 07.05.2019 B2) mit Wirkung ab dem 1. Januar 2019 für allgemeinverbindlich erklärt und gilt deshalb nach § 4 Absatz 1 in Verbindung mit § 5 Absatz 4 TVG (Tarifvertragsgesetz) auch für das Arbeitsverhältnis des Antragstellers mit der möglichen Beklagten unmittelbar und zwingend.

(a) Danach betrug die regelmäßige Arbeitszeit des Antragstellers im März 2021 montags bis donnerstags 7,39 Stunden (92,31 % von 8 Stunden) und freitags 5,54 Stunden (92,31 % von 6 Stunden) und in den Monaten April bis Juni 2021 montags bis donnerstags 7,85 Stunden (92,31 % von 8,5 Stunden) und freitags 6,46 Stunden (92,31 % von 7 Stunden). Insgesamt belief sich die regelmäßige Arbeitszeit des Antragstellers im Zeitraum vom 19. bis zum 31. März 2021 auf 62,81 Stunden (7 x 7,39 Stunden und 2 x 5,54 Stunden), im April 2021 auf 165,75 Stunden (17 x 7,85 Stunden und 5 x 6,46 Stunden), im Mai 2021 auf 159,29 Stunden (17 x 7,85 Stunden und 4 x 6,46 Stunden) und im Juni 2021 auf 167,14 Stunden (18 x 7,85 Stunden und 4 x 6,46 Stunden). Dass der Antragsteller aufgrund einer Betriebsvereinbarung oder einer einzelvertraglichen Vereinbarung abweichend von der arbeitsvertraglichen Regelung und der Regelung in § 3 Nr. 1.2 BRTV regelmäßig von montags bis freitags 8 Stunden beschäftigt worden war, was nach § 3 1.41 BRTV zulässig sein könnte, lässt sich weder seinem Vorbringen noch der eingereichten Entgeltabrechnung für den Monat Juni 2019 entnehmen.

(b) Daher beläuft sich der mögliche Arbeitsentgeltanspruch des Antragstellers für den Zeitraum vom 19. bis zum 31. März 2021 auf 879,34 Euro brutto, für April 2021 auf 2.320,50 Euro brutto, für Mai 2021 auf 2.230,06 Euro brutto, für Juni 2021 auf 2.339,96 Euro brutto und für den Gesamtzeitraum vom 19. März bis zum 30. Juni 2021 auf insgesamt 7.859,86 Euro brutto und nicht etwa 8.288,00 Euro brutto.

(2) Von den möglichen Arbeitsentgeltsansprüchen des Antragstellers sind aufgrund des Bezugs von ALG I und aufstockendem ALG II insgesamt 5.089,40 Euro netto abzuziehen. Denn insoweit wären die Ansprüche nach § 115 Absatz 1 SGB X (Zehntes Buch Sozialgesetzbuch) auf die Bundesagentur für Arbeit bzw. das Jobcenter R übergegangen, mit der Folge, dass der Antragsteller nicht bzw. nicht mehr aktiv legitimiert ist.

(a) Nach § 115 Absatz 1 SGB X gehen Vergütungsansprüche des oder der Arbeitnehmer*in gegen den oder die Arbeitgeber*in auf den oder die Sozialleistungsträger über, soweit der oder die Arbeitgeber*in die Ansprüche nicht erfüllt hat und der oder die Sozialleistungsträger deshalb Sozialleistungen an den oder die Arbeitnehmer*in erbracht hat. Das heißt, zwischen dem nicht gezahlten Arbeitsentgelt und den bezogenen Sozialleistungen muss eine zeitliche Kongruenz dergestalt bestehen, dass die Sozialleistungen tatsächlich an die Stelle des Arbeitsentgelts getreten sind (BAG 10. April 2014 - 2 AZR 812/12 - Rn. 77 mwN). Soweit Sozialleistungen selbst dann gewährt werden müssen, wenn der oder die Arbeitgeber*in der Vergütungspflicht rechtzeitig und vollständig nachkommt, findet eine Anspruchsübergang nicht statt (BAG 21. März 2012 - 5 AZR 61/17 - Rn. 24).

(aa) Nach § 337 Absatz 2 SGB III (Drittes Buch Sozialgesetzbuch) wird ALG I nachträglich für den vorangegangenen Monat ausgezahlt, während ALG II nach § 42 Absatz 1 SGB II (Zweites Buch Sozialgesetzbuch) monatlich im Voraus gewährt wird. Daher geht beim Bezug von ALG I der Anspruch auf Arbeitsentgelt für den Monat auf die Bundesagentur für Arbeit über, für den das ALG I gezahlt wird (vergleiche BAG 17. November 2010 - 10 AZR 649/09 - Rn. 14 und 16). Hingegen geht beim Bezug von ALG II der Anspruch auf Arbeitsentgelt für den Monat auf das Jobcenter über, das in dem Monat fällig ist, für den ALG II gezahlt wird (Maul-Sartori, NZA (Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht) 2017, 91, 95). Dabei sind bei Bedarfsgemeinschaften nach § 34c SGB II nicht nur die dem oder der Arbeitnehmer*in zustehenden Leistungen, sondern die an die Bedarfsgemeinschaft insgesamt erbrachten Leistungen zu berücksichtigen (dazu BAG 21. März 2012 - 5 AZR 61/11 - Rn. 15, näher dazu auch Maul-Sartori, NZA 2017, 91, 93).

(bb) Hingegen geht der Anspruch auf Arbeitsentgelt nicht über, soweit es sich um Einkommen handelt, das nach § 11b SGB II absetzbar ist und das sich der oder die Arbeitnehmer*in auch bei rechtzeitiger Leistung des oder der Arbeitgeber*in nicht hätte anrechnen müssen, sondern behalten dürfte (vergleiche BAG 21. März 2012 - 5 AZR 61/11 - Rn. 25; LAG (Landesarbeitsgericht) Berlin-Brandenburg 7. November 2014 - 6 Sa 1148/14 - Rn. 69 ff. zitiert nach juris; LAG Mecklenburg-Vorpommern 2. November 2010 - 5 Sa 91/20 - Rn. 125 zitiert nach juris; Maul-Sartori, NZA 2017, 91, 95). Das betrifft neben den Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen (§ 11b Absatz 1 Nr. 1 und 2 SGB II) insbesondere die Pauschale für Versicherungen und Aufwendungen nach § 11b Absatz 2 SGB II von 100,00 Euro monatlich und die Einkommensfreibeträge nach § 11b Absatz 3 SGB II von 20 % bezogen auf ein Bruttoeinkommen von mehr als 100,00 Euro bis zu 1.000,00 Euro und von 10 % bezogen auf ein Bruttoeinkommen von mehr als 1.000,00 Euro bis zu 1.200,00 Euro bzw. bei mindestens einem Kind bis zu 1.500,00 Euro (LAG Berlin-Brandenburg 7. November 2014 - 6 Sa 1148/14 - Rn. 71 f. zitiert nach juris; Maul-Sartori, NZA 2017, 91, 95).

Für die Berechnung der wegen des Bezugs von ALG II übergegangenen Ansprüche ist daher zunächst das Nettoentgelt zu ermitteln und anschließend sind von diesem die Pauschale und die Einkommensfreibeträge nach § 11b Absatz 2 und 3 SGB II abzusetzen (Maul-Sartori, NZA 2017, 91, 95). Der danach verbleibende Betrag geht dann bis zur Höhe des bezogenen ALG II auf das Jobcenter über.

(b) Damit muss sich der Antragsteller auf seine möglichen Vergütungsansprüche für die Zeit vom 19. bis zum 30. Juni 2019 insgesamt 5.089,40 Euro netto anrechnen lassen. Das ergibt sich aus folgender Berechnung, wobei sich die anteiligen Beträge für den Monat März 2021 am Verhältnis der Arbeitstage im Zeitraum vom 19. bis zum 31. März 2021 zur Gesamtzahl der Arbeitstage im März 2021 orientieren und das Nettoentgelt für die einzelnen Monate mit dem Brutto-Netto-Rechner 2021 des Handelsblatts errechnet ist:

        

 März 2021

 April 2021

 Mai 2021

 Juni 2021

 ALG I

  475,44

  1.215,00

  1.215,00

  1.215,00

 ALG II

  87,33

  289,79

  289,44

  302,40

 im Einzelnen:

                                

 Nettoentgelt

  727,38

  1.834,79

  1.834,44

  1.847,40

 abzüglich ALG I

  475,44

  1.215,00

  1.215,00

  1.215,00

 abzüglich Pauschale

  39,13

  100,00

  100,00

  100,00

 abzüglich Freibetrag 1

  125,48

  180,00

  180,00

  180,00

 abzüglich Freibetrag 2

        

  50,00

  50,00

  50,00

 = Gesamt (ALG I und II)

  562,77

  1.504,79

  1.504,44

  1.517,40

III. Die Entscheidung über die Gerichtsgebühr beruht auf der Anlage 1 zu § 3 Absatz 2 GKG, Teil 8 Gebührentatbestand Nr. 8614 letzter Satz, 1. Alternative. Unter Berücksichtigung dessen, dass die sofortige Beschwerde sowohl dem Grunde nach als auch zum Teil hinsichtlich der Höhe der beabsichtigten Klageforderung Erfolg hat, ist eine Ermäßigung der vom Antragsteller zu entrichtenden Gebühr auf die Hälfte angemessen.

IV. Für die Zulassung der Rechtsbeschwerde besteht nach § 72 Abs. 2, § 78 Satz 2 ArbGG kein Anlass.