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Visum; Familiennachzug; Antrag; Antragstellung; fristwahrende Anzeige; Minderjährigkeit


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat Entscheidungsdatum 19.01.2022
Aktenzeichen OVG 3 M 185/20 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2022:0119.OVG3M185.20.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 36 Abs 2 AufenthG, § 29 Abs 2 S 2 Nr 1 AufenthG, § 29 Abs 2 S 3 AufenthG, § 71 Abs 2 AufenthG, Art 11 Abs 1 EGRL 86/2003, Art 5 Abs 1 EGRL 86/2003

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 1. Dezember 2020 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

Die Beschwerde des im Juli 1999 geborenen, aus Syrien stammenden Klägers gegen die erstinstanzliche Versagung von Prozesskostenhilfe ist nicht begründet. Die Klage auf Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu dem im Bundesgebiet lebenden Vater, dem mit Bescheid vom 27. Mai 2016 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne von § 166 Abs. 1 VwGO, § 114 Abs. 1 ZPO.

Die Bejahung hinreichender Erfolgsaussichten setzt grundsätzlich nicht voraus, dass der Prozesserfolg schon gewiss ist. Es genügt vielmehr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die jedenfalls dann gegeben ist, wenn der Ausgang des Verfahrens offen ist und ein Obsiegen ebenso in Betracht kommt wie ein Unterliegen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. März 1999 - 6 B 121/98 - juris Rn. 8; VGH Mannheim, Beschluss vom 21. November 2006 - 11 S 1918/06 - juris Rn. 7; W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl., § 166 Rn. 8). Prozesskostenhilfe darf demgegenüber verweigert werden, wenn die Erfolgschance lediglich eine entfernte ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 11. August 2020 - 2 BvR 437/20 - juris Rn. 4 und vom 28. Oktober 2019 - 2 BvR 1813/18 - juris Rn. 27).

Gemessen daran kommt eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht in Betracht. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung des begehrten Visums gemäß §§ 6 Abs. 3, 29 Abs. 2, 32 AufenthG, denn er ist im Juli 2017 18 Jahre alt geworden und war damit bei einer – zu seinen Gunsten unterstellten formlosen - Beantragung des Visums im Mai 2019 entgegen § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG bereits volljährig (zur Maßgeblichkeit der Antragstellung beim Kindernachzug vgl. BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 – 1 C 17/08 – juris Rn. 10; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. August 2020 – OVG 12 B 18.19 – juris Rn. 20 ff.). Angesichts dessen kann offenbleiben, ob dem Kläger mit dem Verwaltungsgericht und der Beklagten tatsächlich eine bislang fehlende Antragstellung entgegengehalten werden kann.

Eine wirksame Antragstellung liegt allerdings entgegen der Beschwerde weder in der Abgabe der fristwahrendenden Anzeige über das Online-Portal des Auswärtigen Amtes, noch in der (zusätzlichen) Abgabe der fristwahrenden Anzeige gegenüber der für den Vater des Klägers zuständigen Ausländerbehörde gemäß § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG. Beide Anzeigen dienen lediglich dazu, die Drei-Monats-Frist des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG zu wahren, innerhalb derer ein Visumantrag gestellt werden muss, damit ein privilegierter Nachzug unabhängig von dem Nachweis ausreichenden Wohnraums und einer ausreichenden Sicherung des Lebensunterhalts möglich ist. Da der Kläger bis zum Erreichen der Volljährigkeit auch keinen formlosen Visumantrag gestellt hat, kommt es frühestens auf die versuchte Vorsprache im Mai 2019 an, bei der es dem Kläger, der seinem Vorbringen zufolge mit den übrigen Familienmitgliedern einen Termin gebucht hatte, nicht einmal möglich war, einen formlosen Antrag zu stellen. Die näheren Umstände sind hier nicht entscheidungserheblich, weil der Kläger zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht mehr minderjährig war.

I. Die von dem Kläger am 16. August 2016 abgegebene fristwahrende Anzeige über das (allgemeine) Online-Portal des Auswärtigen Amtes stellt keinen wirksamen Visumantrag bei der gemäß § 71 Abs. 2 AufenthG insoweit allein zuständigen Auslandsvertretung dar. Dies ergibt sich vor allem aus dem Hinweis, der dem Formular „Fristwahrende Anzeige“ beigefügt ist, und den der Kläger mit dem hiervon gefertigten Ausdruck u.a. im gerichtlichen Verfahren vorgelegt hat. Der in englischer und deutscher Sprache verfasste Hinweis lässt sich – ausgehend vom objektiven Empfängerhorizont - nur so verstehen, dass das Auswärtige Amt die Abgabe der fristwahrenden Anzeige nicht als Teil oder ersten Schritt der Antragstellung betrachtet.

So heißt es dort, „dass dieser Ausdruck lediglich der Antragsvorbereitung dient, zur Antragstellung also explizit weitere Schritte erfolgen müssen.“ Ferner wird darauf aufmerksam gemacht, dass „eine vorherige Übersendung dieses Ausdrucks an die Auslandsvertretung“ nicht notwendig sei und er nicht vor Visumantragstellung verarbeitet werden könne. Letzteres verdeutlich zusätzlich, dass das Auswärtige Amt die im Online-Portal erklärte fristwahrende Anzeige - auch mangels erforderlicher Angaben zum Aufenthaltsort der nachzugswilligen Familienangehörigen - noch keiner zuständigen Auslandsvertretung zuordnen kann und dass – entsprechend § 71 Abs. 2 AufenthG - nur dort eine wirksame Beantragung des Visums, ggf. auch formlos, möglich ist. Der Ausdruck der fristwahrenden Anzeige mit dem generierten QR-Code dient im Visumverfahren vor der Auslandsvertretung offensichtlich lediglich als Nachweis dafür, dass die Drei-Monats-Frist des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG eingehalten worden ist (vgl. zu alledem auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Dezember 2021 – OVG 3 M 53/21 – juris Rn. 9).

II. Nichts anderes folgt hier daraus, dass der Vater des Klägers die Anzeige am 18. August 2016 auch gegenüber der für ihn zuständigen Ausländerbehörde abgegeben hat. Bei dem in § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG genannten „Antrag“ des bereits im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen handelt es sich nicht um einen förmlichen Visumantrag, sondern lediglich um eine fristwahrende Anzeige, die die in den Verfahrensvorschriften des Aufenthaltsgesetzes geregelte Zuständigkeit für die Antragstellung im Ausland (§ 71 Abs. 2 AufenthG) und das Erfordernis einer persönlichen Vorsprache durch den Nachzugswilligen nicht berührt. Dies ergibt sich sowohl aus dem Zweck der Regelung als auch aus dem systematischen Zusammenhang (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. Januar 2022 - OVG 3 M 22/21 - juris).

§ 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG verfolgt mit der Möglichkeit einer fristwahrenden Antragstellung durch den im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen bei der für ihn im Inland zuständigen Ausländerbehörde, die im vom Ausland aus zu betreibenden Visumverfahren gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthV zustimmen muss, den Zweck, den auf eine sehr kurze Zeitspanne von drei Monaten beschränkten privilegierten Zuzug von Ehegatten und minderjährigen Kindern eines Flüchtlings nicht zusätzlich unnötig zu erschweren. Die im Ausland verbliebenen Familienangehörigen werden nicht immer in der Lage sein, fristgerecht innerhalb von drei Monaten einen Visumantrag bei der für sie nach § 71 Abs. 2 AufenthG zuständigen Auslandsvertretung zu stellen, weil sie unter Umständen erst mit Verspätung von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfahren oder angesichts schwieriger Bedingungen in Krisengebieten oder bei einer die Kapazitäten der Auslandsvertretung übersteigenden Nachfrage nicht rechtzeitig einen Vorsprachetermin erhalten können (vgl. auch BT-Drs. 16/5065, S. 172).

Es ist unter keinem Gesichtspunkt erkennbar, dass der Gesetzgeber mit dieser Ausnahmevorschrift die ausdrücklich und abschließend normierte Zuständigkeit der Auslandsvertretung für die Visumantragstellung gemäß § 71 Abs. 2 AufenthG in Verbindung mit § 81 Abs. 1 AufenthG modifizieren wollte. Auch wenn er in § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG den Begriff „Antrag“ verwendet, ist sowohl vom Sinn und Zweck der Regelung als auch im Hinblick auf ihren systematischen Zusammenhang letztlich (nur) eine fristwahrende Anzeige gemeint, die eine Antragstellung durch den nachzugswilligen Familienangehörigen im Sinne von §§ 71 Abs. 2, 81 Abs. 1 AufenthG einschließlich seiner im Hinblick auf die Identitätsklärung grundsätzlich erforderlichen Vorsprache bei der zuständigen Auslandsvertretung (vgl. dazu OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 5. März 2019 – OVG 3 L 67.17 – juris Rn. 5 und vom 27. Juli 2017 – OVG 3 M 92.17 - juris Rn. 6) nicht ersetzt. Die in § 71 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG normierte Zuständigkeitsverteilung zwischen den Ausländerbehörden im Bundesgebiet und den Auslandsvertretungen spiegelt sich auch in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthV wider. Danach bedarf das Visum zur Familienzusammenführung stets (nur) der internen Zustimmung der für den vorgesehenen Aufenthaltsort zuständigen Ausländerbehörde gegenüber der Auslandsvertretung, während der Nachzugswillige das Visumverfahren allein vor der Auslandsvertretung als zuständiger Behörde führt.

Da es sich nach alledem bei der fristwahrenden Anzeige im Bundesgebiet nicht um einen förmlichen Visumantrag handelt und ihr bis auf die Fristwahrung keine weiteren Wirkungen zukommen, ist die für den Visumantrag nicht zuständige Ausländerbehörde auch nicht verpflichtet, die Anzeige an die nach § 72 Abs. 2 AufenthG zuständige Auslandsvertretung weiterzuleiten (vgl. auch Hailbronner, Ausländerrecht, § 29 AufenthG Rn. 16).

Nichts anderes folgt aus Art. 11 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (Familienzusammenführungsrichtlinie), wonach die Mitgliedstaaten festlegen, dass der Antrag auf Einreise und Aufenthalt entweder von dem Zusammenführenden oder von den Familienangehörigen gestellt werden muss. § 81 Abs. 1, § 71 Abs. 2 AufenthG verdeutlichen, dass der Gesetzgeber die Erteilung des Visums allein von einem wirksamen Antrag der noch im Ausland befindlichen Familienangehörigen abhängig macht, und dass er das ihm unionsrechtlich zustehende Wahlrecht gerade nicht durch eine zusätzliche formale Antragstellung im Inland mit der Verpflichtung der Ausländerbehörde zur Übermittlung des Antrags an die zuständige Auslandsvertretung erweitern wollte.

Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Visums nach § 36 Abs. 2 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Eine außergewöhnliche Härte im Sinne dieser Vorschrift setzt grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15/12 - juris Rn. 12). Das ist hier nicht glaubhaft gemacht. Soweit sich die Beschwerde auf Art. 8 Abs. 1 EMRK (bzw. Art. 6 Abs. 1 GG) beruft, lässt sich allein daraus kein Nachzugsrecht ableiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 127 Abs. 4 ZPO. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es wegen der gesetzlich bestimmten Festgebühr nicht.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).