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Entscheidung 12 K 2356/16.A


Metadaten

Gericht VG Potsdam 12. Kammer Entscheidungsdatum 03.09.2021
Aktenzeichen 12 K 2356/16.A ECLI ECLI:DE:VGPOTSD:2021:0903.12K2356.16.A.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 4 Abs 1 AsylVfG 1992, § 108 Abs 1 VwGO, § 99 Abs 1 S 1 VwGO

Tenor

Soweit die Kläger die Klage zurückgenommen haben, wird das Verfahren eingestellt.

Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nrn. 3 bis 6 und des Offensichtlichkeitsurteils in Nrn. 1 und 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. Juni 2016 verpflichtet, die Kläger als subsidiär Schutzberechtigte anzuerkennen.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger und die Beklagte je zur Hälfte; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die KIäger begehren internationalen Schutz.

Der 1969 geborene Kläger zu 1. und die 1974 geborenen Klägerin zu 2. sind seit 1996 miteinander verheiratet. Die 2000 geborene Klägerin zu 3. und der 2002 geborene Kläger zu 4. sind ihre gemeinsamen Kinder.

Die Kläger meldeten sich am 10. Februar 2014 in der Bundesrepublik Deutschland schutzsuchend. Am 25. Februar 2014 erhielten sie die Gelegenheit zur förmlichen Asylantragstellung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt). Sie gaben an, Syrien am 28. Dezember 2013 verlassen und über die Türkei auf dem Landweg kommend am 7. Februar 2014 in der Bundesrepublik Deutschland eingereist zu sein. Mit Bescheid vom 30. April 2014 wurden sie dem Landkreis Oberhavel zugewiesen. Es wurde weiterhin ein Termin zur Sprach- Textanalyse auf den 30. Mai 2014 anberaumt.

Am 24. Juli 2014 wurden der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. beim Bundesamt von Frau Herrmann angehört; Übersetzer war Herr Omer. Der Kläger zu 1. gab an, ein Sohn sei getötet worden. Man habe erfahren, dass er getötet worden sei; man habe den Leichnam indes bis heute nicht gefunden. Sein Vater sei im November 2013 getötet worden. Sie würden ihn - den Kläger zu 1. - in den Krieg einziehen. Auf die Frage, was gegen eine Rückkehr z.B. nach Armenien spreche, erklärte der Kläger als zu 1.: „Wohin sollte ich da gehen?“ Die Klägerin zu 2. gab an, überall sei Krieg gewesen, sie hätten Frauen und Kinder und ihren ältesten Sohn getötet. Auf die Frage, wie denn der heilige Ort für Yeziden heiße und wo dieser liege, antwortete die Klägerin zu 2.: „Lalesch im Irak“. Auf die Frage, was gegen eine Rückkehr z.B. nach Armenien spreche, antwortete die Klägerin zu 2.: „Wo liegt Armenien?“

Am 12. Januar 2016 machte das Referat MB 2 des Bundesamtes Mitteilung an das Referat MB 12 des Bundesamtes über ein Gutachten betreffend einer Frau zum Aktenzeichen 5730015 und über einen Mann zum Aktenzeichen 5730015. Beigefügt waren - unter der Überschrift Sprach- und Textanalyse - Angaben zu einem Gutachter mit dem Code: Kur405 und unter der Überschrift „Gutachten“ schriftliche Erläuterungen, die am Schluss das Datum des 8. Januar 2016 tragen, davor befindet sich die Buchstaben- und Ziffernkombination Kur405. Unterschrieben oder anderweitig signiert sind diese Erläuterungen nicht.

Mit Bescheid vom 24. Juni 2016, ausgefertigt am 28. Juni 2016 in Frankfurt (Oder) und zugestellt am 29. Juni 2016, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Asylanträge der Kläger als offensichtlich unbegründet ab. Der subsidiäre Schutzstatus werde nicht zuerkannt. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Ausländergesetzes würden nicht vorliegen.

Die Kläger wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Sollten sie die Ausreisefrist nicht einhalten, würden sie in einen der GUS-Staaten (namentlich: Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine oder Usbekistan) abgeschoben. Weiterhin wurde ein gesetzliches Einreise- und Aufenthaltsverbot festgesetzt.

Die durchgeführte Sprachanalyse habe zum Ergebnis, dass die Herkunft der Kläger sprachlich geografisch mit Sicherheit den GUS-Staaten zuzuordnen sei. Eine Herkunft aus Syrien, Irak, Türkei und Iran sei ausgeschlossen worden. Die unterbliebene Offenlegung ihrer wahren Identität oder Staatsangehörigkeit sei ihnen als Täuschung gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG vorzuwerfen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des angegriffenen Bescheides wird auf die Blätter 15 bis 19 der Gerichtsakten verwiesen.

Am 6. Juli 2016 haben die Kläger zum Aktenzeichen VG 6 K 2356/16.A Klage erhoben und erfolglos einen Aussetzungsantrag zum Aktenzeichen VG 6 L 614/16.A gestellt. Die 6.Kammer des Verwaltungsgerichts Potsdam übertrug das Klageverfahren mit Beschluss vom 24. August 2016 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung und gab das Verfahren zum 1. Januar 2017 an die 12. Kammer des Gerichts ab.

Mit Schreiben vom 20. April 2017 wurde die Beklagte aufgefordert, die vollständigen Originalverwaltungsvorgänge vorzulegen. Ferner wurde sie um Vorlage sämtlicher Sprachaufzeichnungen der Kläger, insbesondere der mit dem Sprachgutachten untersuchten Aufzeichnungen sowie deren Übersetzungen ersucht. Sie reichte daraufhin lediglich zwei passwortgeschützte Tonträger (CDs) ein, die die angeforderten Sprachaufnahmen enthalten sollen. Wegen der näheren Einzelheiten des Übersendungsschreibens wird auf Bl. 50 der Gerichtsakten verwiesen.

Die Kläger machen geltend, sie seien staatenlose Syrer kurdischer Volkszugehörigkeit jesidischen Glaubens. Sie stammten aus dem Dorf Tolko bei Hasaka in Syrien. Sie hätten von der Tierzucht gelebt. Fluchtauslösendes Ereignis sei die Entführung ihres Sohnes aus dem Heimatort gewesen.

Die Kläger nahmen der mündlichen Verhandlung die weitergehende Klage zurück und beantragen durch ihren Prozessbevollmächtigten,

die Beklagte unter Aufhebung der Nrn. 3 bis 6 und des Offensichtlichkeitsurteils in Nrn. 1 und 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. Juni 2016 zu verpflichten, den Klägern den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

hilfsweise,

festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und/oder 7 des Aufenthaltsgesetzes in ihrer Person vorliegen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Klage einzig unter Bezugnahme auf die angefochtene Entscheidung entgegengetreten.

Mit der Ladung wurde die Beklagte aufgefordert, zur mündlichen Verhandlung einen Beamten oder Angestellten zu entsenden, der mit einem schriftlichen Nachweis über die Vertretungsbefugnis versehen und über die Sach- und Rechtslage ausreichend unterrichtet ist.

Wegen weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die dazu von der Beklagten vorgelegten Ausdrucke elektronisch gespeicherter Daten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Der Einzelrichter ist aufgrund des Übertragungsbeschlusses vom 24. August 2016 zur Entscheidung berufen. Dieser Übertragungsbeschluss ist weiterhin wirksam. Ergibt sich aus einer Veränderung der Geschäftsverteilung die Zuständigkeit einer anderen Kammer, so geht eine zur Einzelrichterentscheidung übertragene Rechtssache auf den bei der neuen Kammer zuständigen Einzelrichter über (vgl. Gersdorf in Posser/Wolff, VwGO Kommentar, 2. Aufl. 2014, Anm. 39 zu § 6 VwGO, m. w. N. zum Streitstand). Denn die Übertragungsfrage ist nach einheitlichen gesetzlichen Kriterien zu beantworten (a. A. Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar zum AsylG, Stand: August 2020, Anm. 29 zu § 76 AsylG, m. w. N. zum Streitstand).

Das Gericht kann trotz des Fernbleibens eines Vertreters der Beklagten und des Klägers zu 1. und der Klägerin zu 3. von der mündlichen Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind, § 102 Abs. 2 VwGO.

Soweit die Kläger ihre Klage zurückgenommen haben, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

Soweit die Klage von den Klägern aufrechterhalten wird, ist sie zulässig. Die Klage wurde insbesondere fristgerecht innerhalb der Wochenfrist des § 74 Abs. 1 2. HS AsylG bei dem Verwaltungsgericht erhoben. Auch haben die Kläger an der Aufhebung des Offensichtlichkeitsausspruchs ein allgemeines Rechtsschutzinteresse. Weil das Bundesamt sich im angegriffenen Bescheid auf § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG (nunmehr: AsylG) beruft, haben die Kläger wegen der Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 S. 2 AufenthG das rechtlich relevante Interesse, die durch den Offensichtlichkeitsausspruch gesetzte Rechtsfolge beseitigen zu können (vgl. auch Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Urteil vom 4. Januar 2007 - 14 A 66/06 -, juris. Rn. 23).

Die Klage ist, soweit sie aufrechterhalten wird, auch begründet. Die Ablehnung der Anerkennung der Kläger als subsidiär schutzberechtigt ist rechtswidrig und verletzt diese deshalb in ihren Rechten, § 113 Abs.5 S. 1 VwGO.

Nach Würdigung aller in dem Verfahren erlangten Tatsachen ist der Einzelrichter gemäß § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO zu der Überzeugung gelangt, dass die Kläger aus Syrien stammen, yezidische Kurden sind und ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG droht, weshalb sie als subsidiär Schutzberechtigte anzuerkennen sind. Hierzu ist das Bundesamt zu verpflichten.

Im Rahmen seiner Überzeugungsbildung ist das Gericht nach § 86 Abs. 1 VwGO gehalten, alle für die Entscheidung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs auf Erlass des begehrten Verwaltungsaktes in eigener Verantwortung durch ausreichende Erforschung des Sachverhaltes (vgl. Kopp/Schenke VwGO Kommentar, 24. Aufl., 2018, Anm. 4 zu § 108 VwGO) festzustellen und die Streitsache in vollem Umfang spruchreif zu machen (vgl. Kopp/Schenke, a. a. O., Anm. 193 zu § 113 VwGO, m. w. N.). Dabei sind dem Gericht naturgemäß Grenzen dadurch gesetzt, dass in der Regel vielfach Lebenssachverhalte aufzuklären und zu bewerten sind, die sich im Ausland zugetragen haben (sollen). Insoweit unterliegt die Möglichkeit richterlicher Sachverhaltsermittlung Einschränkungen. Es ist in diesem Zusammenhang deshalb auch zu beachten, dass sich ein schutzsuchender Ausländer typischerweise in einem Beweisnotstand befindet, was die Vorgänge in seinem Herkunftsstaat und die Verfügbarkeit von Beweismitteln betrifft. Dies ist bei der richterlichen Entscheidungsfindung im Hinblick auf die Würdigung des Vortrages eines schutzsuchenden
Ausländers zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. April 1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 658; OVG Magdeburg, Urteil vom 25. Mai 2011 - 3 L 374/09 -, zitiert nach juris, Rn. 51; VG Potsdam, Urteil vom 16. September 2016
- VG 12 K 2187/14.A -, S. 8 des Urteilsabdrucks). Daher ist es grundsätzlich
ausreichend, wenn der Vortrag eines Schutzsuchenden substantiiert ist, eine
nachvollziehbare Erklärung für etwaige Lücken gegeben werden kann, sein
Vorbringen schlüssig und plausibel ist und nicht im Widerspruch zu den für seinen Fall relevanten besonderen und allgemeinen Informationen steht, Art. 4 Abs. 5 a bis c QualRL. Für die Glaubhaftigkeit des Verfolgungsvorbringens gilt nach den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen, dass es einem Schutzsuchenden obliegt, von sich aus umfassend die Gründe für das verfolgungsbedingte Verlassen des Heimatstaates unter Angabe genauer Einzelheiten in sich stimmig darzulegen. Der Vortrag, insbesondere zu den in die eigene Sphäre fallenden Ereignissen, muss geeignet sein, den Schutzanspruch zu tragen. Wesentliche Widersprüche und Steigerungen im Vorbringen führen regelmäßig dazu, dass dieses nicht als glaubhaft angesehen werden kann.

Die Kläger sind nach dem Eindruck des Einzelrichters, den er sich in der mündlichen Verhandlung von den erschienenen Klägern verschafft hat, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit kurdische Yeziden, die sich dauerhaft in Syrien aufgehalten haben. Aufgrund ihrer Kenntnisse von den Örtlichkeiten in Syrien, des kleinen Ortes Tolko (andere Schreibweise: Tolku), der in der Nähe der Stadt Hasaka liegt, spricht Überwiegendes dafür, dass die Kläger von dort stammen. Aufgrund ihres geringen Bildungsstandes und ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit der Yeziden, ist nachvollziehbar, dass sie von sich aus keine weiteren Angaben zu Hasaka machen konnten.

Das von den Klägern in der mündlichen Verhandlung gesprochene kurdisch konnte vom Übersetzer nicht eindeutig zugeordnet werden. Der forensisch sehr erfahrene Übersetzer konnte eine Herkunft der Kläger aus Syrien jedenfalls nicht ausschließen. Das Vorbringen der Kläger zu ihrer Herkunft ist nach Auffassung des Einzelrichters glaubhaft. Das Vorbringen der Kläger selbst bietet für das Gericht keine Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen zu ihrer Herkunft.

Die Personen der Kläger sind glaubwürdig, weil insbesondere die Klägerin zu 2. auf Befragen des Gerichts, ob sie Armenien kenne, erklärt hat, dass dort vor zwei Jahren ein heiliger Ort eingerichtet wurde. Die von der Klägerin zu 2. in der mündlichen Verhandlung spontan und ohne Zögern gemachten Angaben entsprechen den Tatsachen. Eine andere Verbindung zu Armenien, wie sie offenbar die Anhörerin des Bundesamtes am 24. Juli 2014, warum auch immer, vermutet hat, ist daher nach Überzeugung des Einzelrichters mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht anzunehmen.

Eine anderweitige Herkunft der Kläger, etwa aus ehemaligen GUS-Staaten, namentlich aus Armenien, ist auch nach dem Inhalt der Ausdrucke elektronisch gespeicherter Daten des Bundesamtes nicht wahrscheinlich.

Die in den Ausdrucken elektronisch gespeicherter Daten des Bundesamtes befindlichen und als Sprach- und Textanalyse bezeichneten Erläuterungen haben keinerlei gutachterlichen Beweiswert. Grundsätzlich kann eine Behörde insbesondere Auskünfte jeder Art einholen und Äußerungen von Sachverständigen einholen, § 26 Abs. 1 VwVfG. Somit kann das Bundesamt grundsätzlich eine Sprach- und Textanalyse in Form eines Gutachtens zur Herkunft eines Asylantragstellers einholen. Die mit den Ausdrucken elektronisch gespeicherter Daten eingereichten Erläuterungen 8. Januar 2016 sind indes kein Gutachten, sondern erweisen sich als rechtlich unbeachtlich.

Für eine rechtlich verwertbare Sprach- und Textanalyse fehlt es schon an einem den Ausdrucken elektronisch gespeicherter Daten des Bundesamtes zu entnehmenden Gutachterauftrag, der an eine bestimmte natürliche Person gerichtet ist. Die Kenntnisnahme des vollständigen Sachverhalts durch das Gericht mag daran scheitern, dass das Bundesamt sich auch im Fall der Kläger weigert, seine Originalverwaltungsvorgänge vorzulegen (vgl. zu dieser beharrlich aufrecht erhaltenen Verwaltungspraxis zuletzt VG Potsdam, Beschluss vom 7. Mai 2021 - VG 12 L 99/21.A -, juris Rn. 18 m. w. N.). Das Verwaltungsgericht kann die Erfüllung der Verpflichtung des § 99 Abs. 1 S. 1 VwGO nicht erzwingen, sondern kann und muss grundsätzlich die Weigerung der Behörde, ihre Verwaltungsvorgänge vollständig vorzulegen, bei seiner Beweiswürdigung berücksichtigen (vgl. Kopp/Schenke VwGO Kommentar, 24. Aufl. 2018, Anm. 7 zu § 99 VwGO).

Die in den Ausdrucken elektronisch gespeicherter Daten befindlichen und als Sprach- Textanalyse bezeichneten Erläuterungen sind jedenfalls schon deshalb nicht als Gutachten verwertbar, weil sich in den vorgelegten Ausdrucken elektronisch gespeicherter Daten kein Gutachterauftrag finden lässt. Somit lässt sich für das Gericht weder der Verfasser noch der Gegenstand dieser Ausführungen feststellen. Eine weitere Sachverhaltsaufklärung in dieser Richtung hat das Bundesamt dadurch vereitelt, dass es der Aufforderung des Gerichts, zur mündlichen Verhandlung einen Beamten oder Angestellten zu entsenden, der mit einem schriftlichen Nachweis über die Vertretungsbefugnis versehen und über die Sach- und Rechtslage ausreichend unterrichtet ist, nicht nachgekommen ist. Damit hat sich das Bundesamt jedweder richterlichen Nachfrage zum Verfasser und zum Auftrag für die Sprach- und Textanalyse entzogen, geschweige denn, seinerseits irgendein Beweisangebot gemacht. Die Sachverhaltsaufklärungspflicht durch das Gericht endet aber dort, wo die Mitwirkungspflicht der Beteiligten beginnt. Dies gilt auch für Behörden (vgl. etwa zur Amtsermittlungspflicht nationaler Gerichte EuGH, Urteil vom 14. Juni 2017- C-615/15, beck-online, Rn.15, 16).

Auf die weiteren Mängel der Sprach- und Textanalyse (vgl. dazu nur VG Stuttgart, Urteil vom 20. Februar 2012 - A 11 K 4225/11 -, juris Rn.27 und OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 27. März 1992 - 7B 10321/92 -, juris) und Widersprüche ist vor diesem Hintergrund deshalb nicht weiter einzugehen.

Die Kläger sind zunächst nach alledem als mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aus Syrien stammende kurdische Yeziden anzusehen. Als solche sind sie subsidiär schutzberechtigt.

Gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt insbesondere eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts, § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG.

Die Kläger sind bereits im Jahre 2013 unmittelbar von willkürlicher Gewalt im Rahmen des in Syrien herrschenden Bürgerkriegs bedroht gewesen. Der Kläger zu 4. hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, dass er in der Nähe seines Heimatortes Kampfhandlungen wahrgenommen hat und die Klägerin zu 2. hat in der mündlichen Verhandlung anschaulich geschildert, wie auch der Heimatort der Familie 2013 von einer militärischen Gruppierung aufgesucht worden ist und ihr ältester Sohn in diesem Zusammenhang entführt wurde und möglicherweise zu Tode gekommen ist. Die Klägerin zu 2. war in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich ergriffen, als sie der Verschleppung ihres ältesten Sohnes berichtet. Das Gericht sieht ihre Schilderung als glaubhaft an. Sie hat insoweit ersichtlich nicht übertrieben oder dramatisiert. Ihre Angaben decken sich zudem mit denen, die der Kläger zu 1. bei seiner Anhörung unabhängig von den Angaben der Klägerin zu 2. vor dem Bundesamt gemacht hat. Die Angaben der Kläger können deshalb vom erkennenden Gericht insgesamt als glaubhaft bewertet werden.

In Syrien herrscht - abhängig von den von den Klägern geschilderten Ereignissen - seit mehreren Jahren ein bewaffneter innerstaatlicher Konflikt erheblichen Ausmaßes und erheblicher Gewaltanwendung gegen die Zivilbevölkerung. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit finden seitens der Truppen und Milizen des Regimes von Baschar Al-Assad und von mit ihm verbündeten Organisationen ebenso wie von seinen oppositionellen Kriegsgegnern auch derzeit in Syrien statt.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat in seiner Sitzung am 22. Februar 2014 in der Resolution 2139 daran erinnert, dass der Zivilbevölkerung lebensnotwendige Gegenstände vorenthalten und der humanitäre Zugang zu ihnen verweigert wird, einschließlich der vorsätzlichen Behinderung von Hilfslieferungen und dass diese Maßnahmen einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht darstellen können. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat in der Resolution die weit verbreiteten Verstöße gegen die Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts durch die syrischen Behörden und die Menschenrechtsmissbräuche und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht durch bewaffnete Gruppen entschieden verurteilt. Weiterhin hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verlangt, dass alle Parteien sofort alle Angriffe auf Zivilpersonen sowie den unterschiedslosen Einsatz von Waffen in bevölkerten Gebieten, einschließlich Beschuss und Bombenangriffen wie den Einsatz von Fassbomben, und Methoden der Kriegsführung, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen oder unnötiges Leid zu verursachen, einzustellen. Er hat an die Verpflichtung erinnert, zwischen der Zivilbevölkerung und Kombattanten zu unterscheiden. Weiterhin hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen daran erinnert, dass nach dem humanitären Völkerrecht Verwundeten und Kranken so umfassend und so schnell wie möglich die für ihren Zustand erforderliche medizinische Pflege und Betreuung gewährt werden muss und dass medizinisches und humanitäres Personal, Einrichtungen und Transporte geschont und geschützt werden müssen. Zudem hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen entschieden die willkürliche Inhaftierung und Folter von Zivilpersonen in Syrien, namentlich in Gefängnissen und Hafteinrichtungen, sowie den Menschenraub, die Entführungen und das Verschwindenlassen verurteilt und verlangt, dass diese Praktiken sofort beendet und alle willkürlich inhaftierten Personen, zuerst die Frauen und Kinder, sowie Kranke, Verwundete und ältere Menschen, einschließlich Personal der Vereinten Nationen und Journalisten freigelassen werden. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterstreicht die Notwendigkeit der Straflosigkeit für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und für Menschenrechtsverletzungen und -missbräuche ein Ende zu setzen.

In der Folgezeit hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in weiteren Resolutionen eine Einstellung der Feindseligkeiten in Syrien verlangt (vgl. UN Resolutionen 2254 und 2268). In der Resolution 2254 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erneut verlangt, dass alle Parteien alle Angriffe auf Zivilpersonen und ziviler Objekte, einschließlich Angriffen auf medizinische Einrichtungen und Sanitätspersonal, sowie jeden unterschiedslosen Einsatz von Waffen, unter anderem Artillerie- und Bombenangriffe, sofort einstellen.

Bedauerlicherweise haben diese Resolutionen der Vereinten Nationen seitens der Konfliktparteien keine Beachtung gefunden (vgl. Urteil des VG Potsdam vom 12. Juni 2017 - 12 K 3308/16.A -, S. 12 ff. des Urteilsabdrucks mit weiteren Nachweisen). Der Bürgerkrieg in Syrien ist auch noch keinesfalls beendet (vgl. zum aktuellen Stand und den Folgen des Krieges den Lagebericht des AA vom 4. Dezember 2020, S. 26 ff.). Im Bereich der Heimat der Kläger steht das Regime des Präsidenten Assad unmittelbar bewaffneten kurdischen Kräften gegenüber, freilich ohne dass es derzeit zu (größeren) bewaffneten Auseinandersetzungen kommt.

Der Rückgang militärischer Gewalt in jüngerer Zeit in Teilen Syriens ist keinesfalls mit einem Ende des Konflikts gleichzusetzen. Auch die humanitäre Situation ist in weiten Teilen des Landes nach wie vor verheerend. Große Teile der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Anton Friesen und der Fraktion der AfD, BT-Drucks. 19/4893 und Lagebericht des AA vom 4. Dezember 2020, a. a. O.), sodass den Klägern auch derzeit keine Rückkehr nach Syrien zugemutet werden kann, weil auch eine innerstaatliche Fluchtalternative derzeit in Syrien nicht existiert, § 3 e AsylG.

Die Anerkennung der Kläger als subsidiär Schutzberechtigte entspricht im Übrigen der aktuellen Entscheidungspraxis der Beklagten für syrische Staatsangehörige oder staatenlose Personen die ihren ständigen Aufenthalt in Syrien hatten.

Auch die gegen die gegen das Offensichtlichkeitsurteil gerichteten Klagen haben in der Sache Erfolg. Das Offensichtlichkeitsurteil ist schon deshalb aufzuheben, weil die Kläger nach dem Ergebnis des Verfahrens und der mündlichen Verhandlung entgegen der Annahme des Bundesamtes nicht über ihre Identität getäuscht haben und somit die vom Bundesamt angenommenen Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG (nunmehr: AsylG) nicht belegt werden können. Anträge auf Gewährung von Flüchtlingsschutz suchenden Personen, die ihren ständigen Aufenthalt in Syrien haben, dürften wegen der dort herrschenden Kriegs- und Machtverhältnisse jedenfalls in Fällen kurdischer Yeziden, denen - wie den Klägern - Kampfhandlungen drohten und die diesem Zusammenhang Gefahren und Übergriffe erleiden mussten, nach allgemeinen Vorschriften des § 30 Abs. 1 und 2 AsylG nicht als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden können.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 155 Abs. 2 und 154 Abs. 1 VwGO. Das Gericht hält es für angemessen den Anspruch auf Flüchtlingsschutz, hinsichtlich dessen die Kläger die Klage zurückgenommen haben, mit der Hälfte des Interesses zu bewerten. Insoweit trifft die Kläger die Kostenlast. Hinsichtlich des anderen Teils hat die Beklagte als Unterliegende die Kosten des Verfahrens zu tragen. Dem auf Aufhebung des Offensichtlichkeitsurteils gerichteten Antrag misst das Gericht nur einen geringen und deshalb kostenrechtlich zu vernachlässigenden Teil bei.

Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83 b AsylG.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten beruht auf §§ 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709 S. 2 und 711 ZPO.