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Entscheidung 1 AR 34/21 (S)


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 1. Strafsenat Entscheidungsdatum 13.12.2021
Aktenzeichen 1 AR 34/21 (S) ECLI ECLI:DE:OLGBB:2021:1213.1AR34.21S.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

1. Die Auslieferung des Verfolgten E… an die Republik Polen zur Vollstreckung einer Restfreiheitsstrafe von sieben Monaten und 27 Tagen wegen Diebstahls entsprechend der im Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts Warszawa-Praga vom 26. August 2021 (V Kop 97/21) näher bezeichneten rechtskräftigen Verurteilung durch das Amtsgericht Warszawa-Żoliborz vom 18. Juni 2013 (IV K178/13) iVm. dem Beschluss des Amtsgerichts in Wołomin vom 30. Juli 2015 (II Ko 2275/15) ist unter Beachtung des Spezialitätsvorbehaltes zulässig.

2. Die Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg, die Auslieferung des Verfolgten E… an die Republik Polen zum Zwecke der vorgenannte Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten und 27 Tagen wegen der im Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts Warszawa-Praga vom 26. August 2021 (V Kop 97/21) dargelegten Straftat des Diebstahls zu bewilligen, wird nach vollinhaltlicher Überprüfung gerichtlich bestätigt.

3. Die Fortdauer der Auslieferungshaft wird angeordnet.

Gründe

I.

1. Die polnischen Justizbehörden ersuchen unter Bezugnahme auf den Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts Warschau-Praga vom 26. August 2021 (Az. V Kop 97/21), dem das Urteil des Amtsgerichts Warschau-Żoliborz vom 18. Juni 2013, rechtskräftig seit dem 26. Juni 2013 (IV K 178/13), zu Grunde liegt, um Auslieferung des Verfolgten E… zur Vollstreckung einer Reststrafe von sieben Monaten und 27 Tagen einer wegen fortgesetzten Diebstahls erkannten Freiheitsstrafe von acht Monaten. Die ursprünglich gewährte Strafaussetzung zur Bewährung widerrief das Amtsgericht in Wołomin mit Beschluss vom 30. Juli 2015 (II Ko 27/15); der Beschluss ist seit dem 29. August 2015 rechtskräftig.

Nach der deutschen Übersetzung der Sachverhaltsdarstellung im vorgenannten Europäischen Haftbefehl liegt dem Urteil der Vorwurf zugrunde, dass der Verfolgte entsprechend einem vorgefassten Plan fortgesetzt die Tankstelle B… Nummer 1…, die zum Konzern P… gehört, in der Ulica … 40 in W… aufsuchte und einen PKW …, an dem jeweils unterschiedliche Kennzeichen befestigt waren, mit Dieselkraftstoff betankte, ohne jeweils das Entgelt in Höhe von insgesamt 613,38 Zloty zu zahlen. Im Einzelnen handelte es sich um folgende Tankvorgänge: (1.) Am 15. April 2011 52,10 Liter zu 258,94 Złoty, (2.) am 26. April 2011 38,67 Liter zu 196,83 Złoty und (3.) am 4. Juli 2011 36,74 Liter zu 157,61 Złoty.

2. Der Verfolgte wurde am 4. November 2021 infolge der SIS-Ausschreibung an seinem Wohnort in N… vorläufig festgenommen. Am Folgetag wurde er durch das Amtsgericht Bad Freienwalde, das dem Verfolgten Rechtsanwältin W… aus Frankfurt (Oder) zur notwendigen Rechtsbeiständin bestellt hat, richterlich vernommen. Bei seiner richterlichen Anhörung vor dem Amtsgericht Bad Freienwalde hat sich der Verfolgte mit seiner Auslieferung an die Republik Polen im vereinfachten Auslieferungsverfahren nicht einverstanden erklärt und auch auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes nicht verzichtet.

Aufgrund der durch das Amtsgericht Bad Freienwalde am 5. November 2021 erlassenen Festhalteanordnung und des durch den Senat am 10. November 2021 erlassen Auslieferungshaftbefehls war der Verfolgte zunächst in der Justizvollzugsanstalt (1…), inhaftiert; seit dem 22. November 2021 befindet er sich in der Justizvollzugsanstalt (2…).

Wegen der Einzelheiten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den vorgenannten Auslieferungshaftbefehl vom 10. November 2021 verwiesen.

3. Am 24. November 2021 ist dem Verfolgten durch das Amtsgericht Cottbus die beabsichtigte Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg als Bewilligungsbehörde, im Falle der Zulässigkeit der Auslieferung die Übergabe des Verfolgten an die polnischen Justizbehörden zu bewilligen und insbesondere Bewilligungshindernisse nach § 83b IRG nicht geltend zu machen, bekannt gegeben und er hierzu gemäß §§ 28, 79 Abs. 2 Satz 3 IRG richterlich angehört worden. Hierbei hat der Verfolgte erneut erklärt, mit einer Auslieferung an Polen im vereinfachten Verfahren nicht einverstanden zu sein und auch nicht auf den Grundsatz der Spezialität zu verzichten.

Die dem Verfolgten im Beisein seiner Rechtsbeiständin zur Kenntnis gegebene Absichtserklärung der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg als Bewilligungsbehörde hat folgenden Wortlaut:

 „Hinsichtlich der begehrten Auslieferung des Verfolgten nach Polen auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls des Bezirksgerichts in Warschau-Praga vom 26. August 2021 (Az. V Kop 97/21) zum Zwecke der Vollstreckung einer Reststrafe von sieben Monaten und 27 Tagen der durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts Warschau-Zoliborz vom 18. Juni 2013 (IV K 178/13) in Verbindung mit dem Beschluss des Amtsgerichts in Wolomin vom 30. Juli 2015 wegen Diebstahls erkannten Freiheitsstrafe von acht Monaten beabsichtigt der Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg, Bewilligungshindernisse nach § 83b IRG nicht geltend zu machen. Denn die in § 83b Abs. 1 IRG im Einzelnen aufgeführten Bewilligungshindernisse, die einer Auslieferung entgegenstehen würden, liegen bei dem Verfolgten nicht vor. Insbesondere sind die dem vorgenannten Urteil zugrundeliegenden Taten in Polen begangen worden und haben mithin ausschließlich Auslandsbezug.

 Auch liegen keine Gründe für die Ablehnung der Bewilligung nach § 83b Abs. 2 Nr. 2 IRG vor. Danach kann die Bewilligung der Auslieferung eines Ausländers, der im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, abgelehnt werden, wenn sein schutzwürdiges Interesse an der Strafvollstreckung im Inland überwiegt.

 Vorliegend ist zwar davon auszugehen, dass der Verfolgte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, da er seit dem 8. April 2014 in N… amtlich gemeldet ist, wo er mit seiner Ehefrau und vier Kindern wohnt. Auf ein überwiegendes schutzwürdiges Interesse an einer Strafvollstreckung im Inland kann sich der Verfolgte jedoch nicht berufen.

 Maßgeblich für diese Entscheidung ist es, ob durch die Verbüßung der Strafe im Inland die Resozialisierungschancen des Verfolgten erhöht werden (vgl. EuGH NJW 2011, 285, 286; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2009, 107, 108 und Beschluss vom 07.12.2010, 1 AK 50/10 - zit. nach Juris; OLG Köln, Beschluss vom 31.08.2009, 6 AuslA 41/09 - juris). Der Strafvollzug müsste also der Aufgabe, den Verurteilten zu einem künftigen Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu befähigen (vgl. dazu § 2 Satz 1 StVollzG), besser gerecht werden als die Strafvollstreckung im ersuchenden Staat. Insoweit ist über den gewöhnlichen Aufenthalt des Verfolgten in Deutschland hinaus - auch unter Beachtung des Gesichtspunktes des Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. OLG Karlsruhe NJW 2007, 2567, 2569) und der Gewährleistungen des Art. 8 Abs. 1 MRK - von Bedeutung, in welchem Maße die beruflichen, wirtschaftlichen, familiären und sozialen Beziehungen des Verfolgten in Deutschland verfestigt sind. Ferner ist wie bei jeder Auslieferungsentscheidung der Grundsatz des § 79 Abs. 1 IRG zu beachten, wonach eine zulässige Auslieferung nach dem aus der Vorschrift zweifelsfrei ersichtlichen gesetzgeberischen Willen im Regelfall auch zu bewilligen ist.

 Unter Beachtung der vorstehend dargestellten Maßstäbe ist anzunehmen, dass die bestehenden Bindungen des Verfolgten im Bundesgebiet nicht geeignet sind, die Resozialisierungschancen im Falle einer Inlandsvollstreckung zu erhöhen. Zwar lebt der Verfolgte mit seiner Familie seit mehreren Jahren in Deutschland. Indes ist sein Aufenthalt nicht ausreichend gefestigt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte mit Bescheid vom 11. April 2014 (Bl. 38 f d. SB) den Asylantrag des Verfolgten ab und ordnete seine Abschiebung nach Polen an, wo er bereits ein Asylverfahren durchgeführt hatte und ihm subsidiärer Schutz zuerkannt worden war. Seine dagegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) mit rechtskräftigem Beschluss vom 22. November 2019 (Bl. 116 ff d. SB) zurück. Der Verfolgte verfügt lediglich über eine befristete Duldung, da die erforderlichen Reisedokumente für die Durchführung der Abschiebung fehlen.

 Gefestigte berufliche oder wirtschaftliche Bindungen in Deutschland sind nicht vorhanden. Zwar lebt die Familie des Verfolgten im Inland. Die familiären Bindungen können indes durch Haftbesuche sowie briefliche und telefonische Kontakte aufrechterhalten werden.

 Überdies würde eine merkliche Erhöhung der Resozialisierungschancen durch die Strafvollstreckung in Deutschland voraussetzen, dass der hiesige Strafvollzug seiner Aufgabe gerecht werden könnte, den Verfolgten zu einem künftigen Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu befähigen, wofür unabdingbare Grundlage ist, dass sich der Verfolgte in deutscher Sprache in einem Maße verständigen kann, das eine inhaltliche Auseinandersetzung mit seinen Straftaten etwa im Gespräch mit den im Strafvollzug behandelnden Personen ermöglicht (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2009, 107; OLG Celle, Beschluss vom 10. September 2012 - 1 Ausl 26/12). Dies ist kaum gewährleistet. Im Rahmen der Anhörung beim Amtsgericht Bad Freienwalde - wie auch bei den Anhörungen in dem früheren Auslieferungsverfahren 53 AuslA 66/17 (Bl. 11, 22, 74 d. SB) - musste zur Vernehmung des Verfolgten jeweils ein Dolmetscher herangezogen werden. Für einen erfolgreichen ‚Behandlungsvollzug‘ in Deutschland aber sind hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache unerlässlich, über die der Verfolgte nicht verfügt.

 Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Vollstreckung der Strafe in Polen für den Verfolgten eine besondere Härte darstellen würde, liegen nicht vor. Vielmehr ist davon auszugehen, dass dem Verfolgten, der sich nach seinen Angaben von Mai 2005 bis Februar 2014 in Polen aufgehalten habe und etwas polnisch spreche (Bl. 33 f d. SB), die dortigen Lebensverhältnisse nicht fremd sind.

 Nach alledem liegen aus Sicht der Bewilligungsbehörde nach Abwägung aller für und gegen den Verfolgten sprechenden Umstände keine Gründe vor, die einer Übergabe des Verfolgten an die polnischen Behörden zum Zwecke der Strafvollstreckung entgegenstehen.

 Es steht dem Verfolgten frei, zu dieser Entschließung zu Protokoll Stellung zu nehmen. Für eine mögliche schriftliche Stellungnahme gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg wird eine Frist von einer Woche gesetzt."

Der Verfolgte ist der avisierten Bewilligung der Auslieferung mit Schriftsatz seiner Beiständin vom 1. Dezember 2021 entgegengetreten, er ist der Auffassung, dass seine Auslieferung an Polen unzulässig sei.

4. Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat unter dem Datum des 8. November 2021, eingegangen beim Brandenburgischen Oberlandesgericht am selben Tag, beantragt, die Auslieferung des Verfolgten an die Republik Polen zum Zweck der Vollstreckung einer Restfreiheitsstrafe von sieben Monaten und 27 Tagen wegen der o.gen. Verurteilung des Amtsgerichts Warszawa-Żoliborz vom 18. Juni 2013, rechtskräftig seit dem 26. Juni 2013 (IV K 178/13), für zulässig zu erklären, die Zustimmung zu der beabsichtigten Bewilligung der Auslieferung durch die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg zu erteilen und die Fortdauer der Auslieferungshaft anzuordnen.

Dem Verfolgten wurde über seine Rechtsbeiständinnen rechtliches Gehör zu den Anträgen der Generalstaatsanwaltschaft gegeben.

II.

Der Senat entscheidet entsprechend den Anträgen der Generalstaatsanwaltschaft; die gesetzlichen Voraussetzungen für die erstrebten Anordnungen liegen vor.

1. Die Auslieferung des Verfolgten an die polnischen Justizbehörden zur Strafvollstreckung erweist sich als zulässig.

Die Auslieferung des Verfolgten an die polnischen Justizbehörden zum Zwecke der Strafvollstreckung ist nach dem durch das EuHbG vom 20. Juli 2006 umgesetzten Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten sowie nach den maßgeblichen Bestimmungen des Achten Teils des IRG nicht unzulässig; Gründe, die einer Auslieferung entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich.

Die Auslieferungsfähigkeit ist nach den §§ 3, 81 Nr. 2 IRG gegeben.

Die dem Urteil vom 18. Juni 2013 zugrundeliegenden Taten sind auch nach deutschem Recht als Diebstahl strafbar (§ 3 Abs. 1 IRG, §§ 242, 53 StGB). Das Maß der zu vollstreckenden Freiheitsstrafe beträgt mehr als vier Monate (§ 81 Nr. 2 IRG).

Der übermittelte Europäische Haftbefehl enthält überdies die nach § 83a Abs. 1 Nrn. 1-6 IRG erforderlichen Angaben. Er gibt die Identität des Verfolgten an, nennt die Bezeichnung und Anschrift der ausstellenden Justizbehörde, enthält Ausführungen zur Art und zur rechtlichen Würdigung der Straftaten einschließlich der gesetzlichen Bestimmungen sowie zur verhängte Strafe und beschreibt die Umstände, unter denen die Taten begangen worden sind, mit Angabe der Tatzeit, des Tatortes und der Tatmodalitäten des Verfolgten ausreichend. Eine inhaltliche Überprüfung des dem Europäischen Haftbefehl zugrundeliegenden Urteils findet im Rahmen des Auslieferungsverfahrens nicht statt.

Die Vollstreckung des Urteils ist nicht verjährt. Ausweislich der Angaben im Europäischen Haftbefehl tritt die Strafvollstreckungsverjährung am 26. Juni 2028 ein.

Der Umstand, dass das zu vollstreckende Urteil in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist, begründet – entgegen der Auffassung der Beiständin des Verfolgten im Anwaltsschriftsatz vom 1. Dezember 2021 – kein Auslieferungshindernis. Die Verurteilung beruhte – wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 8. Dezember 2021 zutreffend darlegt – nach dem Inhalt des Europäischen Haftbefehls auf einer Absprache zwischen dem Verfolgten und der Staatsanwaltschaft; seine Abwesenheit stellt daher kein Auslieferungshindernis im Sinne des § 83 Nr. 3 IRG dar. Denn auf Verfahren ohne mündliche Verhandlung - im vorliegenden Fall wurde nach Art. 335 der polnischen Strafprozessordnung verfahren - findet § 83 Nr. 3 IRG keine Anwendung (vgl. Hackner in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 83 IRG Rn. 7; OLG Celle, Beschluss vom 18.12.2012, 1 Ausl 56/12, zit. n. juris). Über § 73 Satz 2 IRG muss allein gewährleistet sein, dass dem Verfolgten rechtliches Gehör gewährt worden ist (vgl. Grützner/Pötz/Kress-Böse, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., § 83 IRG Rn. 9).

Entgegen der Auffassung der Beiständin liegen diese Voraussetzungen hier vor. Unter lit. F des Europäischen Haftbefehls (Seite 5 der deutschen Übersetzung des Europäischen Haftbefehls) ist dazu ausgeführt, dass der Verfolgte die ihm zur Last gelegten Taten gestanden und eine Strafe beantragt hat, die der Staatsanwalt wiederum genehmigt habe. Unter Berücksichtigung dieses Antrages habe ihn das Amtsgericht Warszawa-Żoliborz zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Diese Angaben belegen, dass hier das in Art. 335 der polnischen Strafprozessordnung geregelte Verfahren zur Anwendung kam, wonach die Staatanwaltschaft bei dem Gericht einen Antrag auf Verurteilung und Verhängung einer mit dem Beschuldigten vereinbarten Strafe stellen kann und das Gericht diesen Antrag bei der Entscheidung berücksichtigt. Dass die entsprechende konkrete Norm der polnischen Strafprozessordnung in dem Europäischen Haftbefehl nicht aufgeführt ist, steht dem nicht entgegen, denn mit der Mitteilung, dass die Verurteilung auf einer Vereinbarung über die Strafe zwischen dem Verfolgten und der Staatsanwaltschaft beruhte, werden die maßgeblichen Tatsachen für das Verfahren nach Art. 335 der polnischen StPO dargelegt. Die Verteidigungsrechte des Verfolgten sind durch seine Zustimmung zu der Verfahrensweise bei Verhängung der seinerseits beantragten Strafe gewahrt worden.

Auch der Umstand, dass das Amtsgericht Warszawa-Żoliborz den Verfolgten persönlich zu der Verhandlung geladen hat, stellt, da der Beschuldigte in dem Verfahren nach Art. 335 der polnischen StPO ein Recht auf Anwesenheit bei der Sitzung hat (Art. 343 § 5 der polnischen StPO), die Angaben in dem Europäischen Haftbefehl nicht in Frage.

Schließlich betrifft die von der Beiständin zitierte Randnummer der Senatsentscheidung vom 22. Januar 2020 (1 AR 29/19, BeckRS 2020, 1078, Rn. 40) - anders als hier - den Fall einer Zustellung durch Niederlegung. Entgegen der Behauptung der Beiständin ergibt sich aus dem zitierten Beschluss nicht, dass die polnischen Behörden ggf. in einem Einzelfall eine persönliche Ladung eines Verfolgten bejaht hätten, obwohl diese tatsächlich nicht erfolgte.

Der Umstand, dass die zunächst gewährte Strafaussetzung zur Bewährung offenbar ohne mündliche Anhörung des Verfolgten widerrufen worden ist, steht dessen Auslieferung nicht entgegen. Insbesondere liegt ein Verstoß gegen wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung (§ 73 Satz 1 IRG) nicht vor. Zwar ist einem Verurteilten vor der Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO Gelegenheit zur mündlichen Anhörung zu geben. Aber auch nach deutschem Recht ist anerkannt, dass die mündliche Anhörung unterbleiben kann, wenn sie unmöglich ist, weil der Verurteilte aufgrund unbekannten Aufenthalts nicht erreichbar ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage, § 453 Rn. 6 m. w. N.). Von Letzterem ist hier auszugehen, weil der Verfolgte sich nach Erkenntnissen der Polizei Brandenburg seit dem 7. Februar 2014 in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten hatte.

Soweit der Verfolgte von seiner in Deutschland lebenden Familie zeitweise getrennt werden wird, rechtfertigt dies – wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 8. Dezember 2021 ebenfalls zutreffend darlegt – die Annahme eines Auslieferungshindernisses im Sinne von § 73 Satz 2 IRG nicht, da eine solche ohnehin nur zeitweise Trennung keinen außergewöhnlichen Härtefall darstellt, welcher den Kernbestand der sich aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ergebenden Garantie der Achtung seines Privat- und Familienlebens verletzen könnte, zumal der Verfolgte die Kontakte zu seiner Familie durch Briefe und Telefonate aufrecht erhalten kann. Zudem wäre die Verbüßung einer rechtskräftig verhängten Strafe auch im Inland mit wesentlichen Einschränkungen des Familienlebens verbunden (vgl. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Auflage, § 73 IRG Rn. 105), die die Strafvollstreckung auch in Deutschland nicht verhindern würde, so dass dieser Gesichtspunkt der Auslieferung nicht entgegensteht.

Ebenfalls zutreffend führt die Generalstaatsanwaltschaft aus, dass die von der Beiständin befürchtete Möglichkeit einer Weiterlieferung des Verfolgten von Polen an die Russische Föderation nicht besteht. Dem Verfolgten wurde in Polen wegen der ihm im Falle seiner Ausweisung nach Russland drohenden Gefahr von Folter oder unmenschlicher bzw. erniedrigender Behandlung oder Bestrafung subsidiärer Schutz gewährt (Bl. 64 ff. Sonderband)). Dieser Schutzstatus besteht für den Verfolgten ausweislich der Gründe des Urteils des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 22. November 2019 weiterhin (VG 2 K 558/14.A, Bl. 116 ff. Sonderband). Danach habe der deutsche Liaisonbeamte bei der polnischen Ausländerbehörde am 31. August 2018 mitgeteilt, dass der Verfolgte in Polen über einen subsidiären Schutz verfüge (VG 2 K 558/14.A, Bl. 117 Sonderband). Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass dem Verfolgten trotz dieses Schutzstatus eine Weiterlieferung nach Russland drohen könnte, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

2. Hinsichtlich der avisierten Bewilligung der Auslieferung durch die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg ist im Hinblick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 24. November 2020 (Az. C-510/19), wonach die deutsche Staatsanwaltschaft infolge der Weisungsgebundenheit nach §§ 146, 147 GVG keine „vollstreckende Justizbehörde" nach Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI) ist, in europarechtskonformer Auslegung von § 79 Abs. 2 IRG eine Überprüfung durch den Senat veranlasst und erforderlich.

In der Sache führt die vollinhaltliche Überprüfung der von der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg über die Auslieferung des Verfolgten getroffene Entschließung, keine Bewilligungshindernisse geltend zu machen, zu deren Bestätigung. Denn die in § 83b Abs. 1 Nr. 1 bis 4 IRG im Einzelnen aufgeführten Bewilligungshindernisse, die einer Auslieferung entgegenstehen würden, liegen beim Verfolgten nicht vor. Insbesondere sind die dem Verfolgten von den polnischen Behörden zur Last gelegten Taten in der Republik Polen begangen worden und haben ausschließlich Auslandsbezug. Auch sind Gründe für die Ablehnung der Bewilligung nach § 83b Abs. 2 Nr. 2 IRG nicht ersichtlich.

Der Umstand, dass die Familie des Verfolgten gegenwärtig in Deutschland lebt, rechtfertigt – wie in der Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft zur Versagung der Bewilligung zutreffend dargelegt – kein überwiegendes Interesse an einer Strafvollstreckung im Inland. Wie die zuständige Ausländerbehörde auf Anfrage der Generalstaatsanwaltschaft des Landes am 7. Dezember 2021 mitgeteilt hat, ist nicht nur der Verfolgte, sondern auch seine Familie insgesamt ausreisepflichtig (Bl. 178 d. A.). Ihr weiterer Aufenthalt in Deutschland ist daher nicht gesichert. Dass der Verfolgte, nachdem er sein Heimatland verlassen und sich ca. neun Jahre in Polen aufgehalten hatte, seit nunmehr knapp acht Jahren in Deutschland lebt, begründet ebenfalls kein Bewilligungshindernis. Es ist davon auszugehen, dass dem Verfolgten aufgrund seines langjährigen Aufenthalts in Polen die dortigen Lebensverhältnisse nicht weniger vertraut sind als die in Deutschland. Die Beiständin hat eingeräumt, dass die Kenntnisse des Verfolgten von der deutschen und der polnischen Sprache etwa vergleichbar seien. Bei dieser Sachlage ist nicht anzunehmen, dass die Resozialisierungschancen des Verfolgten durch seine Auslieferung an Polen wesentlich verschlechtert werden. Die Kontakte zwischen dem Verfolgten und seiner Familie können zumindest - wie oben dargelegt - durch Briefe und Telefonate aufrechterhalten werden.

3. Die Fortdauer der Auslieferungshaft ist anzuordnen. Der Haftgrund der Fluchtgefahr besteht aus den im Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 10. November 2021 genannten Gründen fort. Dem Verfolgten steht im Falle seiner Auslieferung die Vollstreckung einer nicht unerheblichen Freiheitsstrafe von knapp acht Monaten bevor. Dieser Umstand stellt erfahrungsgemäß einen hohen Fluchtanreiz dar. Die bestehenden Bindungen des Verfolgten in Deutschland sind nicht geeignet, dem Fluchtanreiz ausreichend entgegenzuwirken. Zwar lebt der Verfolgte mit seiner Familie in N…, wo er seit 8. April 2014 gemeldet ist. Allerdings verfügt der seit dem 4. Januar 2020 ausreisepflichtige Verfolgte lediglich über eine bis zum 31. Dezember 2021 befristete Duldung (vgl. Bl. 178 d.A.), so dass es an einem gefestigten Aufenthalt in Deutschland fehlt. Der Asylantrag des Verfolgten ist durch Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 22. November 2019, rechtskräftig seit 4. Januar 2021 (VG 2 K 558/14A), abgelehnt worden. Weitere Beziehungen, etwa aufgrund einer Beschäftigung, bestehen ebenfalls nicht. Es steht daher zu erwarten, dass der Verfolgte sich ohne die Anordnung und den Vollzug der Auslieferungshaft dem weiteren Verfahren durch Flucht entziehen wird. Weniger einschneidende Maßnahmen gemäß § 25 Abs. 1 IRG bieten keine ausreichende Gewähr, die Auslieferung an die Republik Polen sicherzustellen.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit steht bei der gegebenen Sachlage der Fortdauer der Auslieferungshaft gegen den Verfolgten nicht entgegen.