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Entscheidung 36 BRH 1/21


Metadaten

Gericht LG Cottbus Kammer für Rehabilitierungssachen Entscheidungsdatum 23.09.2021
Aktenzeichen 36 BRH 1/21 ECLI ECLI:DE:LGCOTTB:2021:0923.36BRH1.21.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Der Beschluss des Rates des Kreises ... vom 25.04.1985 wird, soweit auf seiner Grundlage die Einweisung des Betroffenen in die Spezialkinderheime „ ... “ in ... und „ ... “ in ... veranlasst worden ist, für rechtsstaatswidrig erklärt und aufgehoben.

Der Betroffene hat in der Zeit vom 28.08.1985 bis zum 24.08.1988 zu Unrecht eine Freiheitsentziehung erlitten.

Es besteht dem Grunde nach ein Anspruch des Betroffenen auf Erstattung der Kosten und notwendigen Auslagen des früheren Verfahrens im Verhältnis von zwei Mark der Deutschen Demokratischen Republik zu einer Deutschen Mark.

Die Entscheidung ergeht gerichtskostenfrei. Die notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Landeskasse.

Gründe

I.

Der Betroffene begehrt mit seinem Antrag vom 21.12.2020 die Rehabilitierung wegen Aufenthalten in den Spezialkinderheimen „ ... “ in ... im Zeitraum vom 28.08.1985 bis zum 04.07.1987 und „ ... “ in ... im Zeitraum vom 04.07.1987 bis zum 24.08.1988.

Zur Begründung beruft sich der Betroffene auf die Vermutung des § 10 Abs. 3 S. 1 StrRehaG n.F. und schildert, dass er im Spezialkinderheim ... Strafarbeiten habe verrichten müssen. Die Strafe habe in langem Stehen mit angehobenen, ausgestreckten Armen, auf die man ein Buch gelegt habe, bestanden. Habe man die Arme sinken lassen, habe man von den Erziehern mit einem Zeigestock Schläge erhalten. Außerdem sei er zur Strafe in die im Keller gelegene Arrestzelle gebracht worden. Duschen sei generell nur mit kaltem Wasser möglich gewesen. Nachts sei man mit sehr vielen anderen Kindern und ohne jede Privatsphäre in einem Gruppenschlafsaal untergebracht gewesen. Dreimal täglich seien ihm – ohne Erklärung – Medikamente verabreicht worden. In der Folge habe er regelmäßig unter Schlaflosigkeit gelitten. Im Spezialkinderheim ... habe es als Strafe ganztägig Nahrungsentzug gegeben. Erzieher hätten, zu „Erziehungszwecken“ in Anwesenheit der anderen Gruppenmitglieder, Schläge in das Gesicht getätigt. Wenn man es nicht geschafft habe, Mahlzeiten vollständig aufzuessen, sei das Essen in einen hineingezwungen worden, indem es die Erzieher dem Kind in den Mund hereingedrückt hätten. Als Strafmaßnahme habe er drei Stunden in einer Ecke stehen müssen und Schläge erhalten. Auf dem Appellplatz sei man von den Lehrern sehr schmerzhaft gekniffen worden, wenn man nicht exakt am vorgesehenen Platz gestanden habe. Man habe dadurch fast permanent blaue Flecke davongetragen.

II.

Die Eltern des am 26.08.1976 geborenen Betroffenen, bei denen der Betroffen zunächst lebte, ließen sich im April 1981 scheiden. Ihr Erziehungsrecht für den Betroffenen war dann für ein Jahr ausgesetzt. In der Folge erhielt die Mutter des Betroffenen das Erziehungsrecht. Im Jahr 1984 heiratete die Mutter des Betroffenen erneut.

Der Betroffene kam 1981 in das Kinderheim ... und danach ab 1983 in das Kinderheim ... . Ab August 1983 hielt er sich, mit anderen Geschwistern, im Haushalt seiner Mutter in ... . auf.

Der Rat des Kreises ... ordnete mit nicht näher bekanntem Beschluss vom 25.04.1985 die Heimerziehung des Betroffenen an. In der Folge befand er sich in den Spezialkinderheimen „ ... “ in ... (Zeitraum vom 28.08.1985 bis zum 04.07.1987) und „ ... “ in ... (Zeitraum vom 04.07.1987 bis zum 24.08.1988). Einer Karteikarte des Heimes in ... ist als Grund der Heimeinweisung zu entnehmen: „Gefährdung der sozialen u. schulischen Entw. Disziplinlosigkeiten in der Schule u. Elternhaus“. Auf einer anderen Karteikarte des Heimes in ... heißt es zur Familiensituation: „ ... wurde durch seine Fehlverhaltensweisen zum Außenseiter der Familie.“.

An den Aufenthalt des Betroffenen im Spezialkinderheim ... schloss sich eine Unterbringung in dem Normalkinderheim ... ab dem 28.08.1988 an, diese ist nicht Gegenstand des Rehabilitierungsverfahrens.

III.

Die Feststellungen der Kammer beruhen auf Angaben des Betroffenen und Kopien des Hausbuches des Kinderheimes ... nebst einem Auszug aus der Geschwisterakte des Betroffenen und seines Bruders ..., die der Landkreis Spree-Neiße mit Schreiben vom 17.02.2021 übersandt hat. Weitere Unterlagen, insbesondere eine Ausfertigung des Heimeinweisungsbeschlusses vom 25.04.1985, konnten nicht mehr aufgefunden werden.

IV.

Die Staatsanwaltschaft Cottbus hat in ihrer Stellungnahme vom 30.06.2021 (Bl. 32 ff. d.A.) beantragt, den Antrag des Betroffenen als unbegründet zurückzuweisen.

Zur Begründung hat die Staatsanwaltschaft ausgeführt, der Sachverhalt gebe nicht her, dass der Betroffene einer politischen Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Die in der Neufassung des § 10 StrRehaG geäußerte Vermutung, dass eine Einweisung in ein Spezialkinderheim der politischen Verfolgung oder sachfremden Zwecken gedient habe, sei für den vorliegenden Fall nicht anzunehmen. Aus den Unterlagen ergebe sich, dass die familiäre Situation für die Entwicklung des Betroffenen schwierig gewesen sei und er sich schon vor der Einweisung in die beiden Spezialkinderheime in mehreren Kinderheimen befunden habe, da eine ordnungsgemäße Betreuung und Erziehung im Elternhaus nicht möglich gewesen sei. Als Grund für die Einweisung des Betroffenen in ein Spezialkinderheim seien insbesondere die verfestigten Fehlverhaltensweisen des Betroffenen angeführt worden. Die politisch motivierte Umerziehung sei wohl aus diesem Grunde zu verneinen, da der Betroffene nach der Unterbringung in den Spezialkinderheimen wieder in einem Normalkinderheim habe untergebracht werden können. Es sei vorliegend nicht erkennbar, dass die Heimeinweisung ausschließlich aus dem Grund erfolgt sei, eine politisch motivierte Umerziehung des Betroffenen vorzunehmen. Die Unterbringung in Spezialkinderheimen habe zudem in keinem groben Missverhältnis zum Anlass des Beschlusses der Jugendhilfe gestanden. Dabei sei zu berücksichtigen, dass der Betroffene in einem nicht unerheblichen Zeitraum in einer Mehrzahl von Kinderheimen untergebracht gewesen sei und daher nicht ausgeschlossen werden könne, dass es aufgrund der besonderen familiären Konstellation schwierig gewesen sei, für den Betroffenen geeignete Unterbringungsmaßnahmen zu finden.

V.

Der zulässige Antrag des Betroffenen ist begründet.

Nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (StrRehaG) findet das Gesetz auf eine außerhalb eines Strafverfahrens ergangene gerichtliche oder behördliche Entscheidung, mit der eine Freiheitsentziehung in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Beitrittsgebiet) aus der Zeit vom 08.05.1945 bis zum 02.10.1990 angeordnet worden ist, entsprechende Anwendung. Dies gilt insbesondere für eine Anordnung einer Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche, die der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient hat.

Im strafrechtlichen Rehabilitierungsverfahren muss das Gericht nach § 10 Abs. 1 StrRehaG unter Ausnutzung aller ihm im Freibeweisverfahren zur Verfügung stehenden Mittel Hinweisen auf eine politische Verfolgung oder auf sonstige sachfremde Gründe nachgehen. Da das Gericht hierzu von Amts wegen verpflichtet ist, sind an die Darlegung durch den Antragsteller keine allzu hohen Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.12.2014, Az.: 2 BvR 2063/11, mwN.; VerfGH Berlin, Beschluss vom 16.01.2019, Az.: 145/17). Die Nichterweislichkeit anspruchsbegründender Tatsachen – im vorliegenden Fall Tatsachen, die für einen mit der Anordnung der Heimerziehung der Betroffenen verbundenen sachfremden Zweck sprechen – geht grundsätzlich zu Lasten des den Antrag stellenden Betroffenen. Die Rehabilitierungsgerichte sind von Verfassungs wegen nicht gehalten, im Zweifel für den antragstellenden Betroffenen zu entscheiden; der Grundsatz in dubio pro reo gilt nicht (BVerfG, a.a.O., Verfassungsgericht des Landes Brandenburg vom 16.03.2018, Az.: VfgBbg 56/16).

Eine Ausnahme von vorgenannten Beweisgrundsätzen hat der Gesetzgeber allerdings durch das Sechste Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR und zur Änderung des Adoptionsvermittlungsgesetzes vom 22.11.2019 (BGBl. I, S. 1752) mit dem neuen § 10 Abs. 3 S. 1 StrRehaG geschaffen, der für die dort geregelten Fälle eine Beweiserleichterung in Form einer Vermutung zugunsten des Antragstellers bei der Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts anordnet. Nach § 10 Abs. 3 S. 1 StrRehaG n. F. wird vermutet, dass die Entscheidung über die Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche, auf die nach dem Gesetzeswortlaut weiterhin maßgeblich abzustellen ist, der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient hat, wenn eine Einweisung in ein Spezialheim oder in eine vergleichbare Einrichtung, in der eine zwangsweise Umerziehung erfolgte, stattgefunden hat.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für das Gelten der oben genannten Vermutung liegen im konkreten Fall vor. Der Betroffene wurde in zwei verschiedene Spezialkinderheime, bei denen es sich um Spezialheime i. S. d. §10 Abs. 3 S. 1 StrRehaG gehandelt hat, eingewiesen und war im maßgeblichen Zeitraum in diesen Spezialheimen untergebracht.

Welche Heime zu den Spezialheimen zu rechnen sind, ergibt sich aus der abschließenden Aufzählung in § 2 Abs. 1 der Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe vom 22.04.1965 (GBl. DDR Teil II Nr. 53). Nach Nr. 2 dieser Vorschrift gehören Spezialkinderheime wie die in ... und ... zu den Spezialheimen.

Die Vermutung, dass die Anordnung der Unterbringung in einem Spezialkinderheim sachfremden Zwecken diente, ist im konkreten Fall des Betroffenen nicht widerlegt.

Für die Prüfung, ob die Vermutung des § 10 Abs. 3 StrRehaG widerlegt ist, gilt nach § 10 Abs. 1 StrRehaG der Grundsatz der Amtsermittlung; das Gericht bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen, insbesondere etwaige Beweiserhebungen, nach pflichtgemäßem Ermessen. Auf die bereits oben getätigten weiteren Ausführungen zum Freibeweisverfahren wird verwiesen. Die Widerlegung der Vermutung des § 10 Abs. 3 S. 1 StrRehaG n.F. erfordert daher die positive Feststellung, dass die Unterbringung nicht auch der politischen Verfolgung oder sonstigen sachfremden Zwecken gedient hat (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 07.01.2021, Az.: 2 Reha 15/20; OLG Jena, Beschluss vom 16.11.2020, Az.: 1 Ws-Reha 6/17). Es reicht also für ein Entkräften der Vermutung in keinem Fall aus, dass sie nur erschüttert wird, weil sie nur möglicherweise unrichtig ist. Vielmehr muss sie durch den vollen Beweis des Gegenteils widerlegt werden; das Gericht muss vom Gegenteil der Vermutung überzeugt sein (OLG Jena, a.a.O.). In der Gesetzesbegründung zum Vermutungstatbestand (vgl. BT-Drs. 19/14427, S. 28) heißt es ausdrücklich, dass beide Vermutungen [des § 10 Abs. 3 StrRehaG] durch die Feststellung widerlegt werden können, dass die Anordnung aus anderen Gründen, wie beispielsweise Fürsorgeerwägungen oder zur Vollstreckung einer Jugendstrafe geschehen ist (vgl. auch OLG Rostock, Beschluss vom 12.02.2020, Az.: 22 Ws Reha 2/20). Die Vermutung ist auch widerlegt, wenn vom Rehabilitierungsgericht sicher festgestellt werden kann, dass die Unterbringung in einem Normalheim nicht ausgereicht hätte (vgl. OLG Brandenburg, a.a.O.).

Hinsichtlich der Anordnung der Heimerziehung des Betroffenen und seiner Unterbringung in den beiden Heimeinrichtungen in ... und ... stehen fast keine Unterlagen mehr zur Verfügung. Den insoweit vorgenommenen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Cottbus und den beiden vom Betroffenen vorgelegten Karteikarten ist lediglich zu entnehmen, dass dem Heim in ... bekannt war, dass eine Gefährdung der sozialen und schulischen Entwicklung und Disziplinlosigkeiten in der Schule und im Elternhaus Gründe für die Heimeinweisung waren. Das Heim in ... ist davon ausgegangenen, dass der Betroffene durch seine Fehlverhaltensweisen zum Außenseiter der Familie geworden war.

Damit ist zwar – wie die Staatsanwaltschaft Cottbus in ihrer Stellungnahme zu Recht ausgeführt hat – angedeutet, dass eine ordnungsgemäße Betreuung und Erziehung im Elternhaus nicht möglich gewesen ist. Das erklärt auch, warum der Betroffene vor und nach den Aufenthalten in den beiden Spezialheimen in Normalkinderheimen untergebracht gewesen ist. Da jedoch die Jugendhilfeakten und insbesondere die Einweisungsentscheidung des Rates des Kreises Guben vom 25.04.1985 nicht mehr vorhanden sind, lässt sich nicht feststellen, ob für die Entscheidung zur Einweisung des Betroffenen in ein Spezialkinderheim nicht auch noch andere Gründe vorgelegen haben, die möglicherweise nicht sachgerecht gewesen sind. Zudem kann die Kammer deswegen auch nicht beurteilen, ob das Gewicht und die Summe der Einweisungsgründe es seinerzeit gerechtfertigt haben, den Betroffenen in Spezialheime mit den dort generell herrschenden schwierigen Lebensbedingungen einzuweisen, ohne dass die Entscheidung letztlich als sachwidrig erscheint. Mithin kann im konkreten Fall nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass die Vermutung des § 10 Abs. 3 S. 1 StrRehaG n.F. widerlegt ist. Genau für solche Fälle des Fehlens wesentlicher Teile der behördlichen Unterlagen mit der Folge, dass der Sachverhalt nicht mehr aufgeklärt werden kann, hat der Gesetzgeber die Vermutung des § 10 Abs. 3 S. 1 StrRehaG n.F. geschaffen.

Zum Zeitraum des Aufenthalts des Betroffenen in den beiden Spezialkinderheimen haben die Nachforschungen ergeben, dass er am 28.08.1985 in das Spezialkinderheim ... verbracht worden ist. Das ergibt sich aus einer die Person des Betroffenen betreffenden Karteikarte des Heimes, die als Tag der Einweisung den 28.08.1985 nennt. Auf der gleichen Karteikarte ist auf der Rückseite vermerkt, dass der Betroffene am 04.07.1987 in das Spezialkinderheim „ ... “ nach ... verlegt worden ist. Dort befand er sich bis zum 24.08.1988. Das letztgenannte Datum ergibt sich aus einer weiteren Karteikarte, die vom Spezialkinderheim ... angelegt worden ist. Auf der Rückseite dieser Karteikarte ist dargelegt, dass die Unterlagen des Betroffenen am 24.08.1988 an das Normalkinderheim ... weitergeleitet worden seien, wo sich der Betroffene dann auch entsprechend dem Hausbuch des Normalkinderheimes ab dem 28.08.1988 aufgehalten hat.

VI.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 6 Abs. 1, 14 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 StrRehaG.