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Entscheidung VG 6 K 2518/17.A


Metadaten

Gericht VG Cottbus 6. Kammer Entscheidungsdatum 05.11.2021
Aktenzeichen VG 6 K 2518/17.A ECLI ECLI:DE:VGCOTTB:2021:1105.6K2518.17.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 3 Abs 1 AsylVfG 1992, § 3 Abs 4 AsylVfG 1992, § 3a AsylVfG 1992, § 3b Abs 1 AsylVfG 1992, § 3e AsylVfG 1992

Tenor

Soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.

Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 1, 3, 4, 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. September 2017 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 des Asylgesetzes zuzuerkennen.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt zuletzt noch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung subsidiären Schutzes und höchst hilfsweise die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistan.

Die Klägerin, eigenen Angaben zufolge am 4. April 1996 geborene afghanische Staatsangehörige und der Volksgruppe der Hazara zugehörig, reiste am 10. Juli 2017 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie am 12. Juli 2017 einen Asylantrag stellte.

Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 13. Juli 2017, die in der Sprache Dari durchgeführt wurde, gab die Klägerin im Wesentlichen an, dass sie schon mit 14 oder 15 Jahren von ihrem Bruder mit einem älteren Mann verheiratet worden sei, mit dem sie auch zwei Kinder habe. Dieser habe sie so schlecht behandelt, dass sie versucht habe, sich umzubringen. Noch während ihrer Ehe mit diesem Mann habe sie beim Telefonieren zufällig ihren jetzigen Ehemann kennengelernt. Nach mehreren Telefonaten habe sie begonnen, sich heimlich mit ihm zu treffen. Bei einem Treffen in ihrem Haus, seien sie von ihrem damaligen Ehemann erwischt worden. Ihrem jetzigen Mann sei die Flucht aus dem Haus gelungen, aber sie selbst sei von ihrem ehemaligen Ehemann zusammengeschlagen worden. Sie habe auch versucht sich das Leben zu nehmen, aber ihr damaliger Ehemann habe sie daran gehindert. Einen Tag später habe dieser sich von ihr in einer Moschee scheiden lassen und sie habe wieder zu ihren Brüdern zurückkehren müssen. Während sie dort lebte, sei sie von diesen geschlagen worden. Auch ihr ehemaliger Ehemann habe in dieser Zeit regelmäßig angerufen und damit gedroht, sie zu töten. Einmal habe er sie sogar mit dem Auto angefahren. Auch ihr jetziger Ehemann sei eines nachts angegriffen worden. Dessen Familie habe zwar bei ihren Brüdern um ihre Hand angehalten. Dies haben ihre Brüder jedoch abgelehnt, da die Familie ihres jetzigen Mannes sunnitischen und ihre eigene Familie schiitischen Glaubens sei. Zudem haben ihre Brüder auch herausgefunden, dass ihr jetziger Mann derjenige gewesen sei, wegen dem ihr ehemaliger Ehemann sich habe scheiden lassen. Um trotzdem zusammen leben zu können und aus Furcht vor ihrem Exmann und ihren Brüdern sei sie schließlich gemeinsam mit ihrem jetzigen Mann und mit finanzieller Hilfe durch dessen Vater aus Afghanistan geflohen. Im Iran habe sie ihren jetzigen Mann geheiratet. Anschließend haben sie mehrere Monate gemeinsam in der Türkei gelebt. Da ihr ehemaliger Ehemann jedoch herausgefunden habe, dass sie dort leben, haben sie aus Angst vor ihm auch die Türkei verlassen.
Mit Bescheid vom 18. September 2017 lehnte das Bundesamt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Asylanerkennung sowie die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen. Es forderte die Klägerin auf, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen und drohte ihr für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Afghanistan an. Ferner wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Gründe des Bescheides wird Bezug genommen.
Daraufhin hat die Klägerin am 26. September 2017 die vorliegende Klage erhoben. Zur Begründung bezieht sie sich auf ihr Vorbringen im Verwaltungsverfahren. Ergänzend beruft sie sich auf das Vorbringen ihres Ehemannes im ebenfalls beim Verwaltungsgericht Cottbus anhängigen Verfahren V .... . Weiter trägt sie vor, dass eine solche Ehrverletzung, wie sie ihr Exmann für sich beanspruche, im höchsten Maße Gefahren für die Betroffenen auslöse und staatlicher Schutz insoweit nicht zu erwarten sei. Ihr Exmann habe ihrem jetzigen Ehemann über Facebook Videobotschaften geschickt, in denen er ihnen mit dem Tode drohe. Dies zeige, dass eine Rückkehr nach Afghanistan den sicheren Tod bedeuten würde.

Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung ihren Antrag, sie als Asylberechtigte anzuerkennen, zurückgenommen.

Sie beantragt nunmehr,

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. September 2017 zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des vorgenannten Bescheides zu verpflichten, ihr subsidiären Schutz zuzuerkennen,
höchst hilfsweise die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des vorgenannten Bescheides zu verpflichten, festzustellen, dass zugunsten der Klägerin Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Aufenthaltsgesetz hinsichtlich Afghanistan vorliegen.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Bundesamtes verwiesen, die jeweils der Entscheidung zu Grunde lagen.

Entscheidungsgründe

Die Kammer konnte gemäß § 76 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) durch den Berichterstatter als Einzelrichter entscheiden, da diesem der Rechtsstreit durch Beschluss vom 26. April 2021 übertragen worden ist.

Der Einzelrichter konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten mündlich verhandeln und entscheiden, weil die Beklagte mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist, § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Soweit die Klägerin die Klage in der mündlichen Verhandlung im Hinblick auf die begehrte Anerkennung als Asylberechtigte zurückgenommen hat, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

Im Übrigen ist die Klage zulässig und begründet. Die Klägerin hat in dem für die Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamts vom 18. September 2017 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin (daher) in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Klägerin ist die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.

Nach § 3 Abs. 4 i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Ein Ausländer ist – vorbehaltlich des Vorliegens einer der in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG genannten Ausnahmefälle - nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 EMRK keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer diese Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig davon, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Im Fall der Vorverfolgung greift jedoch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie), wonach die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von einer solchen Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird (vgl. BVerwG, Urteile vom 19. April 2018 – 1 C 29.17 -, juris Rn. 14 f., vom 1. Juni 2011 – 10 C 25.10 -, juris Rn. 22 und vom 27. April 2010 – 10 C 5.09 -, juris Rn. 20 ff.).

Nach diesen Maßstäben hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe afghanischer Frauen, denen eine außereheliche Beziehung (Zina) zur Last gelegt wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 AsylG), wäre sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer geschlechtsspezifischen Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG ausgesetzt.

Der Klägerin droht Verfolgung im Sinne der §§ 3 Abs. 1, 3a AsylG. Insoweit kann hier offen bleiben, ob sie bereits vor ihrer Ausreise Verfolgungshandlungen ausgesetzt war. Denn das Gericht ist davon überzeugt, dass der Klägerin jedenfalls im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan solche individuellen, flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungshandlungen wegen des von ihr begangenen Ehebruchs drohen würden.

Die Klägerin hat glaubhaft kontinuierlich und in Übereinstimmung mit den Angaben ihres Ehemannes in der mündlichen Verhandlung zu dem ebenfalls bei Verwaltungsgericht Cottbus anhängigen Verfahren VG 6 .... . vorgetragen, dass sie bereits im Alter von ca. 15 Jahren mit einem deutlich älteren Mann verheiratet wurde, der sie schlecht behandelte und auch gewalttätig ihr gegenüber war. Glaubhaft und auch im Einzelnen nachvollziehbar hat sie geschildert, wie sie während dieser Ehe ihren heutigen Ehemann kennenlernte und mit diesem eine (auch) sexuelle Beziehung einging, was ihr damaliger Ehemann entdeckte. Die Klägerin hat insoweit lebensnah und plausibel Einzelheiten zum Kennenlernen ihres jetzigen Mannes per Telefon, zu den kurzen Treffen an ihrer Haustür und zu den Umständen der Entdeckung der Beziehung durch ihren damaligen Ehemann vorgetragen. Insbesondere die Ausführungen zu Letzterem sind überzeugend. Frei von Widersprüchen und Übertreibungen berichtete die Klägerin, wie sie ihren Geliebten im Glauben darauf, dass sich ihr Ehemann mit den übrigen Familienmitgliedern auf einer Feier aufhalte, zu sich nach Hause bestellte, sie dort im Schlafzimmer miteinander intim wurden, dabei von dem unerwartet zurückkehrenden Ehemann erwischt wurden und ihrem heutigen Mann noch die Flucht durch das Schlafzimmerfenster gelang. Im Kern besehen auch keine Zweifel daran, dass sich der damalige Ehemann in Absprache mit ihren Brüdern am nächsten Tag in einer Moschee hat scheiden lassen und die Klägerin anschließend bis zu ihrer Flucht wie eine Gefangene in deren Haus leben musste. Ebenso ist plausibel, dass ihre Brüder aufgrund der Brautwerbung der Eltern ihres heutigen Ehemannes schließlich auch von dessen Identität als Ehebrecher Kenntnis erlangt haben.

Das Gericht ist ebenso davon überzeugt, dass der Klägerin aufgrund des begangenen Ehebruchs mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch ihren ehemaligen Ehemann und ihre Brüder droht, da der Ehebruch von diesen und ihren Familien als Ehrverletzung aufgefasst wird.

So gilt nach der Erkenntnislage Ehebruch bzw. außerehelicher Geschlechtsverkehr, bezeichnet als Zina, sowohl nach afghanischem Gewohnheitsecht als auch nach der Scharia als schweres moralisches Verbrechen und wird mit drakonischen Strafen bedacht (vgl. hierzu und zu Folgendem: ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Außereheliche sexuelle Beziehungen und deren Konsequenzen nach paschtunischem Gewohnheitsrecht, einschließlich der Rolle der Dschirgas, 7.11.2018, S. 1 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr, 2.10.2012, S. 1 ff). Eines Zina-Vergehens bzw. –Verbrechens kann sich sowohl der Mann wie auch die Frau schuldig machen und beide werden bestraft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2021, S. 13). Die Bestrafungen treffen aber Frauen und Mädchen in stärkerem Ausmaß und auch die Strafe ist für diese häufig härter (vgl. EASO, Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020, S. 79; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Außereheliche sexuelle Beziehungen und deren Konsequenzen nach paschtunischem Gewohnheitsrecht, einschließlich der Rolle der Dschirgas, 7.11.2018, S. 2; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 88). Sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe werden darüber hinaus von der afghanischen Gesellschaft weithin als Entehrung der Familie angesehen (vgl. Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 24. Mai 2016 zu Afghanistan: Besondere Gefährdung von Frauen, S. 3). Insbesondere Frauen und Mädchen, welche die Familienehre in dieser Weise verletzen, droht Gewaltanwendung bis hin zu Ehrenmorden (vgl. EASO, Country Guidance Afghanistan, Dezember 2020, S. 53 u. 79; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, S. 84 f., 90; EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 55). Da sie in Afghanistan als Trägerinnen der Familienehre gesehen werden, müssen sie, wenn sie gegen Bräuche, Traditionen oder Ehre verstoßen, die Konsequenzen dafür tragen (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.8.2018, Fn. 480). So dokumentierte die unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission (AIHRC) für die ersten 10 Monate des Jahres 2020 bspw. 167 Morde an Frauen, bei denen es sich hauptsächlich um Ehrenmorde gehandelt haben soll (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2021, S. 13).

Das Gericht hat keinen Grund daran zu zweifeln, dass auch der Klägerin eine solche Gewaltanwendung droht. Nach ihren glaubhaften Angaben sowohl gegenüber dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung, hat ihr ehemaliger Ehemann bis zu ihrer Flucht mehrfach telefonisch damit gedroht, sie umzubringen. Ebenso glaubhaft hat die Klägerin entsprechende Bedrohungen durch ihre Brüder geschildert. Dass möglicherweise keiner der Vorgenannten versucht hat, in der Zeit vor ihrer Flucht die verbalen Drohungen in die Tat umzusetzen, steht dem nicht entgegen. So ist das Gericht nämlich nicht davon überzeugt, dass das von der Klägerin zwar glaubhaft und widerspruchsfrei geschilderte Erfasstwerden von einem PKW auf dem Weg zu einem Arzt tatsächlich im Zusammenhang mit dem begangenen Ehebruch stand. Vielmehr kann es sich hierbei ebenso um einen gewöhnlichen Verkehrsunfall mit anschließender Fahrerflucht gehandelt haben. Ebenso wenig ist das Gericht davon überzeugt, dass es bereits in der Türkei zu einer konkreten Verfolgung der Klägerin und ihres Ehemanns gekommen ist. Der von der Klägerin geschilderte Vorfall auf einem dortigen Basar stellt aus Sicht des Gerichts kein hinreichend konkretes Verfolgungsgeschehen dar. Allerdings kann beides hier dahinstehen. Denn nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist das Gericht davon überzeugt, dass sich ein auf einer Ehrverletzung beruhender Racheakt auch noch Jahre nach dem eigentlichen Vergehen ereignen kann (vgl. zu solchen Fällen: EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, Fn. 428 u. 890; vgl. insoweit auch zur möglichen Dauer sog. Blutfehden: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 111; EASO, Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 96) und auch der Klägerin weiterhin ein solcher Racheakt durch ihren ehemaligen Ehemann oder ihre Brüder droht.

Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch eine staatliche Verfolgung seitens der nunmehr dort herrschenden Taliban drohen würde. Denn diese haben sowohl während ihrer ersten Herrschaft als auch vor dem nunmehrigen Machtwechsel in den von ihnen kontrollierten Gebieten unmenschliche bzw. besonders drastische Strafen für Ehebruch oder andere Zina-Vergehen verhängt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2021, S. 14; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 16.9.2021, S. 61). Diese reichten von Auspeitschungen bis hin zu Hinrichtungen durch Steinigung (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2021, S. 14; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 90). Solche menschenrechtswidrigen Strafen sind als Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu qualifizieren. Die Klägerin wäre insoweit auch einer realen Verfolgungsgefahr ausgesetzt. Das Gericht geht insoweit davon aus, dass die Klägerin im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan als Rückkehrerin aus dem westlichen Ausland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wenigstens eine Befragung bzw. Überprüfung durch Taliban-Kräfte zu erwarten hätte, bei der ebenso wahrscheinlich die Gründe ihrer Flucht aufgedeckt werden würden. Denn das bereits aufgrund ihrer Flucht bestehende Misstrauen der Taliban der Klägerin gegenüber wird sich durch ihren mehrjährigen Aufenthalt in Deutschland weiter verfestigt haben, so dass sie in besonderem Maß deren Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde (so auch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 8 November 2021 – 5a K 6226/17.A -, juris Rn. 48).

Die der Klägerin drohenden Vergeltungs- und Strafmaßnahmen knüpfen – wie von § 3a Abs. 3 AsylG vorausgesetzt – an einen Verfolgungsgrund im Sinne der §§ 3 Abs. 1, 3b AsylG an. Der Verfolgungsgrund ist die Zugehörigkeit der Klägerin zu einer bestimmten sozialen Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Beide Voraussetzungen (a) und (b) müssen kumulativ vorliegen (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 – C-199/12 bis C-201/12 -, juris Rn. 45).

Vorliegend gehört die Klägerin der bestimmten, abgrenzbaren sozialen Gruppe afghanischer Frauen an, denen wegen Ehebruchs bzw. außerehelichen Geschlechtsverkehrs, bezeichnet als Zina, eine Verfolgung droht. (vgl. VG München, Urteil vom 14. Juli 2017 – M 18 K 17.30384 -, juris Rn. 28; VG Würzburg, Urteil vom 20. Februar 2018 – W 1 K 16.32644 -, juris Rn. 24; für von Ehrenmord bedrohte Frauen allgemein: Marx, AsylG, 10. Aufl., § 3b Rn. 53; für Irak: VG Braunschweig, Urteil vom 30. Juli 2021 – 2 A 275/18 -, juris Rn. 36; vgl. für (auch) von Zwangsverheiratung betroffene Frauen: VG Hannover, Urteil vom 3. März 2020 – 7 A 1787/20 -, juris Rn. 35 ff.; VG Potsdam, Urteil vom 7. April 2021 – 13 K 1838/17.A -, juris S. 13; VG Würzburg, Urteil vom 14. März 2019 – W 9 K 17.31742 -, juris Rn. 31; VG München, Urteil vom 25. April 2017 – M 26 K 16.34294 -, juris Rn. 27; die Existenz einer solchen Gruppe offen lassend: VG Cottbus, Urteil vom 7. Juli 2020 – 3 K 1464/17.A -, juris Rn. 36; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 12. März 2020 – 7 K 133/16.A -, n. v.; eine solche Gruppe ablehnend: VG Leipzig, Urteil vom 5. Juni 2018 – 8 K 1787/17.A -, juris S. 6). Bei Frauen, denen Zina-Vergehen vorgeworfen werden, besteht eine deutlich nach außen abgegrenzte und von der afghanischen Gesellschaft als andersartig empfundene Identität. Denn aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel droht diesen nicht nur die Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung und Gewalt durch Familienangehörige, sondern insbesondere auch gesellschaftliche Ächtung (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 73; Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 24. Mai 2016 zu Afghanistan: Besondere Gefährdung von Frauen, S. 11), da sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe von weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft als Schande für die Familie oder die Gemeinschaft betrachtet werden (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 82). Zwar können auch Männer Stigmatisierung und Verfolgung wegen Zina-Anschuldigungen ausgesetzt sein (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 90; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Mai 2021, S. 13). Wie bereits dargelegt trafen Bestrafungen aufgrund von Zina-Vergehen jedoch schon in der Vergangenheit in überproportionaler Weise Frauen und Mädchen und auch die Strafe war für diese häufig härter als für Männer. Es ist davon auszugehen, dass sich dies aufgrund der Machtübernahme der Taliban nicht nur fortsetzen, sondern sogar noch verstärken wird. Denn kennzeichnend für deren erste Regierungszeit von 1996 bis 2001 war eine tiefgreifende Diskriminierung und Entrechtung von Frauen und Mädchen (vgl. hierzu UK Home Office, Country Policy and Information Note Afghanistan: Fear of the Taliban, Oktober 2021, S. 35). Zudem sind Frauen und Mädchen als Trägerinnen der Familienehre in unverhältnismäßig hohem Maße von sogenannten Ehrenmorden betroffen (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, 84 f.). Mithin liegt eine geschlechtsspezifische Verfolgung vor.

Wirksamer Schutz vor dieser flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgung ist nicht ersichtlich. Die Taliban, als nunmehrige staatliche, afghanische Akteure, wären weder in der Lage noch gewillt, die Klägerin vor einer Verfolgung durch ihren ehemaligen Ehemann oder ihre Brüder zu schützen (§§ 3c Nr. 3, 3d AsylG). Vielmehr droht der Klägerin - wie oben dargelegt – auch von deren Seite Verfolgung.

Auch auf inländische Fluchtalternativen (§ 3e AsylG) kann die Klägerin nicht (mehr) verwiesen werden, seitdem die Taliban das gesamte Land unter ihrer Kontrolle halten. Davon abgesehen kann angesichts der derzeitigen humanitären Situation in Afghanistan von der Klägerin vernünftigerweise nicht erwartet werden, sich dort mit ihrer Familie niederzulassen. Es ist in Afghanistan kein Ort ersichtlich, an dem es ihr und ihrer Familie gelingen würde, ihr Existenzminimum zu sichern. Die aktuelle Wirtschafts- und Versorgungslage in Afghanistan ist so schlecht, dass selbst ein alleinstehender, gesunder und arbeitsfähiger, erwachsener Mann nur dann in der Lage wäre, in Afghanistan sein notwendiges Existenzminimum sicherzustellen, wenn in seiner Person besondere begünstigende Umstände vorlägen. Insoweit wird auf die Ausführungen der Kammer in den zuletzt ergangenen Entscheidungen vom 2. November 2021 (- 6 K 1418/17.A -, S. 9 ff. d. EA) und vom 12. November 2021 (- 6 K 708/17.A -, S. 7 ff. d. EA) verwiesen. Vorstehendes gilt umso mehr für eine – wie hier der Fall – Familie mit einem Kleinkind. Denn bei lebensnaher Betrachtung ist davon auszugehen, dass die Klägerin gemeinsam mit ihrem Ehemann und dem im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ein Jahr alten Kind nach Afghanistan zurückkehren würde, da sie auch in Deutschland gemeinsam mit diesen lebt (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 -, juris Rn. 15 f.). Besondere begünstigende Umstände, die eine Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums der Familie hier möglich erscheinen lassen, liegen nicht vor. Insoweit wird auf die Entscheidungsgründe des Urteils der Kammer in dem Klageverfahren des Ehemanns der Klägerin (Az.: VG 6 K 248/17.A) verwiesen.

Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 – 3 i. V. m. Satz 2 AsylG von der Flüchtlingsanerkennung ausgeschlossen ist, bestehen vorliegend nicht.

Da der Klägerin nach alldem die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, sind auch die Ziffern 3 und 4 des Bescheides vom 18. September 2017 aufzuheben. Über den subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist nur bei Nichtzuerkennung der in den Rechtsfolgen für den Antragsteller günstigeren Flüchtlingseigenschaft zu befinden (vgl. Heusch, in: BeckOK AuslR, § 31 AsylG Rn. 12). Von Feststellungen zum Vorliegen der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG kann nach § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG im hier gegebenen Fall der Gewährung internationalen Schutzes abgesehen werden.

Die Klage ist in Bezug auf die Ziffern 5 und 6 des angegriffenen Bescheides ebenfalls begründet. Der Bescheid erweist sich insoweit als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass der in Ziffer 5 verfügten Abschiebungsandrohung liegen wegen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vor (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG). Demnach kann auch das in Ziffer 6 auf der Grundlage von § 75 Nr. 12, § 11 AufenthG verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot samt seiner Befristung keinen Bestand haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.