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Entscheidung 2 U 33/21


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 2. Zivilsenat Entscheidungsdatum 07.12.2021
Aktenzeichen 2 U 33/21 ECLI ECLI:DE:OLGBB:2021:1207.2U33.21.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

1. Auf die Berufung des Beklagten wird das am 5. Juli 2021 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt (Oder) – Einzelrichter – zum Aktenzeichen 14 O 30/20 abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kläger tragen die Kosten des Rechtsstreits.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 686,39 € festgesetzt.

Gründe

I.

Das beklagte Land wendet sich gegen seine Verurteilung zur Tragung von Rechtsanwaltskosten, die für den Einspruch in einem Besteuerungsverfahren angefallen sind.

Die Kläger erklärten ihre Besteuerungsgrundlagen für die Einkommensteuer 2018 unter Verwendung des amtlich vorgeschriebenen Formulars „Anlage R“. Sie gaben hierbei in Zeile 31 als „Leistungen … aus einer Direktversicherung“ die in 2018 erlangte Kapitalabfindung von 18.816 € an. Das Finanzamt des Beklagten berücksichtigte diesen Betrag als Einkommen und setzte mit Steuerbescheid vom 4. November 2019 entsprechend eine Einkommensteuer von 4.086 € nebst Solidarzuschlag fest. Die Kläger erhoben anwaltlich vertreten Einspruch. Sie verwiesen darauf, dass die Leistung der Direktversicherung aus einem „Altvertrag“ resultiere, die deshalb nach § 40b EStG steuerbefreit sei, und übersandten ein entsprechendes Informationsblatt der Versicherung. Das Finanzamt setzte die Vollziehung des Bescheides aus und mit Änderungsbescheid vom 12. Dezember 2019 die Steuer und den Solidaritätszuschlag neu auf 0 € fest, den Betrag aus der Direktversicherung nicht mehr berücksichtigend. Mit Schreiben vom 31. Januar 2020 lehnte das Finanzamt den Antrag der Kläger auf Erstattung der vorgerichtlichen Anwaltskosten von 703,53 € ab. Es liege kein Fall der Amtshaftung vor. Es fehle an einer schuldhaften Amtspflichtverletzung. Die Angaben der Kläger im Besteuerungsverfahren seien im Rahmen der Verhältnismäßigkeit und Zweckmäßigkeit geprüft und dort korrigiert worden, wo die Kläger doppelte Angaben gemacht hätten. Eine Einordnung der Direktversicherung als „Altvertrag“ sei weder angezeigt noch notwendig gewesen. Die Unterlagen hätten eine entsprechende Einordnung nicht nahegelegt. Die erforderlichen Informationen hätten erst im Einspruchsverfahren vorgelegen.

Das Landgericht hat das beklagte Land mit dem angegriffenen Urteil, auf das im Übrigen gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 ZPO Bezug genommen wird, antragsgemäß zur Freistellung der Kläger von Anwaltskosten in Höhe von 686,39 € verurteilt. Zur Begründung heißt es: Der Anspruch gründe sich auf § 1 Abs. 1 StHG. Den Klägern sei mit den Anwaltskosten ein Schaden entstanden. Diesen hätten die Mitarbeiter des Beklagten in hoheitlicher Tätigkeit verursacht. Ihr Vorgehen sei rechtswidrig gewesen. Das werde bereits durch die anschließende Korrektur des ursprünglichen Steuerbescheides indiziert. Maßgeblich sei aber vor allem, dass das Finanzamt schon durch den Kontoauszug darüber informiert gewesen sei, dass es sich um die Leistung einer Direktversicherung gehandelt habe. Der Kontoauszug habe auch vorgelegen. Das ausdrückliche Bestreiten sei angesichts dessen nicht überzeugend, dass der Auszug Teil des Anlagenkonvoluts gewesen sei, das das Finanzamt den Klägern rückübersandt habe. Ein Mitverschulden sei den Klägern nicht anzulasten. Aus der „Ausfüllanleitung zur Anlage R“ ergebe sich, dass alle Leistungen aus einer Versicherung anzugeben seien, während die rechtliche Prüfung dem Finanzamt obliege.

Das am 5. Juli 2021 verkündete Urteil ist dem beklagten Land am 6. Juli 2021 zugestellt worden, das am 21. Juli 2021 Berufung eingelegt hat, welche es am 3. September 2021 begründet hat.

Das beklagte Land ist der Auffassung, der ursprüngliche Steuerbescheid sei nicht rechtswidrig gewesen. Es sei schon irrig anzunehmen, dies werde durch seine spätere Abänderung indiziert. Sie könne nämlich verschiedenste Gründe haben. Maßgeblich sei die Rechts- und Tatsachengrundlage des Erstbescheides. Der Kontoauszug habe tatsächlich nicht vorgelegen, die Kläger ihre dahingehende Behauptung nicht bewiesen. Das aber könne dahinstehen, da der Kontoauszug auch nur die Leistung einer „Direktversicherung“ erkennen lasse und nicht, worauf allein es ankomme, ob sie aus einem Altvertrag im Sinne des § 40b EStG (mit § 52 Abs. 40 EStG) resultiere. Zur den „Ausfüllhinweisen zur Anlage R“ sei ihm das rechtliche Gehör abgeschnitten worden. Sie seien erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgelegt worden, ohne dass ihm trotz entsprechenden Antrags Gelegenheit gegeben worden sei, hierzu vorzutragen. Das Urteil sei deshalb auch eine Überraschungsentscheidung. Die Ausfüllhinweise stützten auch nicht das Vorbringen der Kläger. Tatsächlich seien die hier in Rede stehenden Leistungen gar nicht einzutragen gewesen. Die Erläuterungen zur Prüfung durch das Finanzamt bezögen sich auf Versicherungen der Gruppe 1 und nicht auf solche der Gruppe 3, um die es hier gehe. Dem Finanzamt habe im Moment der erstmaligen Veranlagung nur eine Mitteilung der Direktversicherung über die Zahlung vorgelegen, aus der sich gerade nicht ergeben habe, dass sie aus einem Altvertrag resultiere. Eine proaktive Pflicht zur Nachfrage habe nicht bestanden. Denn das Risikomanagementsystem habe nicht angeschlagen. Nachdem das Finanzamt erstmalig im Einspruchsverfahren auf die tatsächlichen Umstände hingewiesen worden sei, habe es sogleich die Festsetzung geändert. Es sei nicht rechtswidrig, den Angaben des Steuerpflichtigen zu folgen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage unter Abänderung des am 5. Juli 2021 verkündete Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) zum Aktenzeichen 14 O 30/20 abzuweisen.

Die Kläger beantragen

die Zurückweisung der Berufung.

Sie verteidigen das angegriffene Urteil. Eine Überraschungsentscheidung liege nicht vor, es seien alle notwendigen Hinweis gegeben worden und von dem Beklagten als fachkundiger Behörde Angaben zum Inhalt der „Anlage R“ zu erwarten gewesen. Der ursprüngliche Steuerbescheid sei rechtswidrig gewesen und deshalb auch von dem Beklagten geändert worden. Zum Mitverschulden der Kläger müsse der Beklagte vortragen, woran es fehle. Das Finanzamt hätte die Angaben der Kläger rechtlich überprüfen müssen, nicht zuletzt da ihm die Angaben des Arbeitgebers zur Versteuerung der Beiträge zur Direktversicherung ‒ wenn auch nicht verknüpft mit den hiesigen Steuerdaten – vorgelegen hätten. Etwaige Irrtümer der Kläger beim Ausfüllen der auch zwischen Juristen in ihrer Aussage streitigen „Anlage R“ könnten ihnen als Verbraucher nicht vorgeworfen werden.

II.

Die zulässige Berufung ist begründet. Den Klägern steht der geltend gemachte Anspruch auch unter Berücksichtigung ihres Vorbringens in ihrem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 23. November 2021 weder als Amts- noch als Staatshaftungsanspruch zu.

1.

Rechtsgrundlage des Amtshaftungsanspruchs ist § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 34 GG. Voraussetzung der auf die Körperschaft übergeleiteten Haftung ist, dass ein Beamter im haftungsrechtlichen Sinne in Ausübung eines ihm von der Beklagten anvertrauten Amtes schuldhaft eine den Klägern gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt und so den Klägern einen Schaden verursacht hat, für den – bei nur fahrlässigem Handeln des Beamten – die Kläger nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermögen. Rechtsgrundlage des Staatshaftungsanspruchs ist § 1 Abs. 1 des gemäß Art. 9 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 des Einigungsvertrags in Verbindung mit dessen Anlage II B Kap. III Sachgeb. B Abschn. III unter den dort genannten Maßgaben in Brandenburg als Landesrecht weitergeltenden Gesetzes zur Regelung der Staatshaftung der Deutschen Demokratischen Republik – Staatshaftungsgesetz (StHG) – vom 12. Mai 1969 in der Fassung des Ersten Brandenburgischen Rechtsbereinigungsgesetzes 3. September 1997 (nachfolgend StHG Bbg). Danach haftet für Schäden, die einer natürlichen oder einer juristischen Person hinsichtlich ihres Vermögens oder ihrer Rechte durch Mitarbeiter oder Beauftragte staatlicher oder kommunaler Organe in Ausübung staatlicher Tätigkeit rechtswidrig zugefügt werden, das jeweilige staatliche oder kommunale Organ.

Diese Voraussetzungen liegen jeweils nicht vor. Das Finanzamt des Beklagten hat weder eine ihm den Klägern gegenüber bestehende Amtspflicht im Sinne des § 839 Abs. 1 BGB verletzt, noch rechtswidrig im Sinne des § 1 Abs. 1 StHG gehandelt.

a)

Es ist die grundlegende Amtspflicht des Beamten, die Aufgaben und Befugnisse des Staates oder der Körperschaft, für die er tätig wird, im Einklang mit dem objektiven Recht wahrzunehmen und auszuüben. Die öffentlich-rechtlichen Rechtspflichten, die die öffentliche Hand dem Bürger gegenüber hat, bestimmen zugleich die persönlichen Amtspflichten, die dem Amtswalter obliegen. Er ist deswegen verpflichtet, sich an Recht und Gesetz zu halten, also die Verfassung, die förmlichen Gesetze, Rechtsverordnungen, Satzungen und sonstige Rechtsvorschriften, auch des Rechts der Europäischen Union, zu beachten. Da die Gerichte letztlich über die Auslegung und Anwendung von Normen zu befinden haben, hat der Beamte auch die Pflicht, die für seine Amtsausübung einschlägige Rechtsprechung zu berücksichtigen (Dörr, in: BeckOnline-Großkommentar mit Stand 1. August 2021, § 839 BGB Rdnr. 142; Papier/Shirvani, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 839 BGB Rdnr. 246). Hierzu gehört die Pflicht, vor einer hoheitlichen Maßnahme, die geeignet ist, einen anderen in seinen Rechten zu beeinträchtigen, den Sachverhalt im Rahmen des Zumutbaren so umfassend zu erforschen, dass die Beurteilungs- und Entscheidungsgrundlage nicht in wesentlichen Punkten zum Nachteil des Betroffenen unvollständig bleibt. Dieser ist prinzipiell zuvor anzuhören (Dörr ebd. Rdnr. 143 f). Vorschriften über die Zuständigkeit, die Form und das Verfahren sind einzuhalten (Papier/Shirvani ebd. Rdnr. 260; Dörr ebd. Rdnr. 147 f).

Die primäre Pflicht der öffentlichen Verwaltung zum rechtmäßigen Handeln liegt auch dem Staatshaftungsgesetz zugrunde. Ihre Haftung hängt daher davon ab, ob das in Rede stehende Verwaltungshandeln wie beispielsweise ein Steuerbescheid objektiv rechtmäßig oder rechtswidrig ist. Diese Frage beantwortet sich generell nur danach, ob die durch den Verwaltungsakt getroffene Regelung sachlich richtig ist und mit der objektiven Rechtslage übereinstimmt oder ob sie sachlich falsch ist und gegen die Rechtslage verstößt (BGH, Urteil vom 27. Juni 2019 – III ZR 93/18, NVwZ 2019, 1696, Rdnr. 10; Urteil vom 19. Januar 2006 – III ZR 82/05, BGHZ 166, 22 = LKV 2006, 523; Senat, Urteil vom 26. Juni 2012 – 2 U 46/11, BeckRS 2012, 14954, Rdnr. 34 bei juris).

b)

Das gilt uneingeschränkt auch für die Finanzverwaltung. Ihre Pflicht zum rechtmäßigen Handeln fordert konkret, dass die Veranlagung, Erhebung und Beitreibung von Steuern nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen und im Rahmen des gesetzlich Zulässigen erfolgt. Diese Pflicht besteht auch gegenüber dem Steuerschuldner (Staudinger/Wöstmann (2020) § 839 BGB Rdnr. 742).

Dies verlangt, dass die Finanzbehörde die Voraussetzungen des Steuer- oder Abgabentatbestandes in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zutreffend ermittelt und sodann die geltend gemachten Beträge in richtiger Höhe festsetzt, wobei die Pflicht zur Sachverhaltsermittlung namentlich aus § 88 AO folgt (Senat, Urteil vom 11. Juli 2006 – 2 U 27/05 –, Rdnr. 14). Danach hat die Finanzbehörde den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. Sie hat alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen. Art und Umfang der Ermittlungen bestimmt sie nach den Umständen des Einzelfalls sowie nach den Grundsätzen der Gleichmäßigkeit, Gesetzmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit; an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten ist sie nicht gebunden.

Der in § 88 Abs. 1 AO normierte Amtsaufklärungsgrundsatz legt damit die Verantwortung für die Aufklärung der entscheidungserheblichen Sachverhaltsumstände und die eventuell erforderliche Verifizierung durch die Erhebung von Beweisen in die Hand der Finanzbehörde. Sie soll sämtliche für den Einzelfall bedeutsamen Umstände feststellen und somit die materielle Wahrheit soweit möglich ermitteln. Das Gesetz eröffnet ihr ein eigenes Ermittlungsermessen zur Bestimmung von Art und Umfang der Ermittlungen, die sie an den Umständen des Einzelfalls auszurichten hat. Andererseits obliegen den Verfahrensbeteiligten weitreichende Steuererklärungs- und Mitwirkungspflichten, deren Folge allerdings prinzipiell nur die notwendige Kooperation begründet, nicht hingegen eine Verantwortungsgemeinschaft. Bei begründeten Zweifeln an der Richtigkeit der Sachverhaltsangaben des Steuerpflichtigen bleibt die Finanzverwaltung gehalten, diese auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen und bei einer verweigerten Mitwirkung von Amts wegen die Besteuerungsgrundlagen von sich aus zu ermitteln. Sie behält damit dem Grunde nach die alleinige rechtliche Verantwortung für den Prozess der Sachverhaltsaufklärung und der Sachverhaltsfeststellung (vgl. Kobor, in: Beck’scher Online-Kommentar zur Abgabenordnung, 17. Edition mit Stand 1. Juli 2021, § 88 AO Rdnr. 20).

Das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens hat allerdings die Mitwirkungspflichten und -obliegenheiten der Steuerpflichtigen zum 1. Januar 2017 deutlich verstärkt. Zur Vermeidung eines die Grenzen der Verfassungsmäßigkeit auch des materiellen Steuerrechts tangierenden Vollzugsdefizits und zur Beförderung eines effizienten, rechtmäßigen und gleichmäßigen Steuervollzugs (BT-Drs. 18/7457 S. 46) hat es die Amtsermittlung unter das Gebot der Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit gestellt, das neben die unverändert weiterbestehenden Prinzipien der Verhältnismäßigkeit, Gleichmäßigkeit und Rechtmäßigkeit treten soll (BT-Drs. 18/7457 S. 48). Nach § 88 Abs. 2 Satz 2 AO können daher bei der Entscheidung der Behörde über Art und Umfang der Ermittlungen allgemeine Erfahrungen der Finanzbehörden sowie Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit berücksichtigt werden. Unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungseffektivität im Sinne eines möglichst wirksamen Mitteleinsatzes und der Verwaltungseffizienz im Sinne eines möglichst ressourcenschonenden Mitteleinsatzes kann – und sollte – sich die Finanzbehörde auf dem Gebiet der Massenverwaltung bei ihrer Ermittlungstätigkeit auch von Praktikabilitätserwägungen leiten lassen und eine Abwägung zwischen dem erforderlichen Aufklärungsaufwand einerseits und der Größenordnung der in Rede stehenden steuerlichen Auswirkung andererseits vornehmen (Kobor ebd. Rdnr. 32). Die Finanzbehörde muss den Angaben des Steuerpflichtigen grundsätzlich nicht mit Misstrauen begegnen, sondern kann diese als zutreffend unterstellen, sofern keine Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit bestehen (BFH, Beschluss vom 17. Januar 2005 – VI B 4/04, BeckRS 2005, 25007552).

Unter offenbarem Rückgriff auf diesen schon zuvor bestehenden Grundsatz hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens den Angaben der Steuerpflichtigen noch stärkeres Gewicht beigemessen. Er hat den Finanzbehörden mit § 155 Abs. 4 AO die Möglichkeit einer ausschließlich automationsgestützten Bearbeitung von dazu geeigneten Steuererklärungen eingeräumt. Diese „zentrale Maßnahme der Modernisierung des Besteuerungsverfahrens“ soll es ihnen ermöglichen, ihre personellen Ressourcen auf die wirklich prüfungsbedürftigen Fälle zu konzentrieren (BT-Drs. 18/7457 S. 48). Hierfür können die Finanzbehörden Steuerfestsetzungen allein auf der Grundlage der ihnen vorliegenden Informationen und der Angaben des Steuerpflichtigen vornehmen, § 155 Abs. 4 Satz 1 AO. Voraussetzung ist die vollautomatische Bearbeitung der Steuererklärung, mit deren Hilfe über so genannte Risikoparameter die Angaben geprüft werden sollen, die das Erfahrungswissen der Steuerverwaltungen fallgruppenspezifisch bündeln. Zudem sind mit dem so genannten Risikomanagementsystem des § 88 Abs. 5 AO Vorkehrungen angeordnet, die ein hinreichendes Entdeckungsrisiko und damit die Beachtung des verfassungsrechtlichen Verifikationsgebots gewährleisten. Neben einer ausreichenden Zufallsauswahl soll das System entsprechende Sachverhalte auch zur Prüfung durch Amtsträger „aussteuern“, wenn bestimmte Risikofilter anschlagen und auch den Bearbeitern anlassbezogen ein Eingreifen ermöglichen (BT-Drs. 18/7457 S. 48). Anderenfalls kann die Festsetzung allein ausschließlich automationsgestützt erfolgen, also ohne eine Prüfung durch Amtsträger. Die gesamte Bearbeitung erfolgt innerhalb der Finanzverwaltung alleine programmgesteuert auf Basis der vorprogrammierten Datenverarbeitung. Entscheidungsgrundlage sind in diesem Fall allein die der Finanzbehörde vorliegenden Angaben des Steuerpflichtigen (zum Beispiel aus seiner aktuellen Steuererklärung oder aus früheren Steuererklärungen) und die ihr vorliegenden Informationen des Steuerpflichtigen oder Dritter (BT-Drs. 18/7457 S. 82; Rosenke, in: Beck’scher Online-Kommentar zur Abgabenordnung ebd., § 155 AO Rdnr. 226 und 229). Damit wird eine manuelle Prüfung des Einzelfalls zugunsten einer datentechnischen Prüfung aufgegeben. Der automatische Steuerbescheid steht damit einer Steueranmeldung im Sinne der §§ 167 f AO nahe, unterscheidet sich von dieser aber dadurch, dass er eine Festsetzung nicht nur fingiert, sondern selbst beinhaltet, und er deshalb auch nicht von vornherein unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht. Der vollautomatische Steuerbescheid setzt dabei keine elektronische Steuererklärung voraus. Die zur Erzeugung des Steuerbescheides erforderliche Daten können auch durch Mitarbeiter des Finanzamtes eingegeben werden, zum Beispiel durch Scannen einer traditionellen, schriftlichen Steuererklärung (Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 167. Lieferung mit Stand August 2021, § 155 AO Rdnr. 44 f).

c)

Nach diesen Maßstäben hat das Finanzamt vorliegend nicht rechtswidrig gehandelt.

Der Erstbescheid vom 4. November 2019 war nicht rechtswidrig. Er entsprach zwar – wie unstreitig erst nachträglich im Einspruchsverfahren festgestellt wurde – objektiv nicht der materiellen Rechtslage. Die Zahlung aus der vor dem Jahr 2005 geschlossenen Direktversicherung unterlag wegen der nach § 52 Abs. 40 EStG weiter zulässigen vorgelagerten Besteuerung der Beiträge nach § 40b EStG nicht auch der nachgelagerten, und war deshalb nicht als sonstige Einkünfte im Sinne des § 22 Nr. 5 EStG steuerbar (vgl. etwa Weber-Grellet, in: Schmidt, EStG, 35. Auflage 2016, § 22 EStG Rdnr. 125 und Krüger ebd. § 40b EStG Rdnr. 2). Der Bescheid war gleichwohl rechtmäßig. Ihm lagen die der Finanzbehörde im Moment seines Erlasses allein vorliegenden Informationen zugrunde: Die Kläger hatten die Einkünfte als aus einer Direktversicherung stammend angegeben. Das entsprach der Meldung der Versicherung selbst. Hinweise auf das Vorliegen des Ausnahmetatbestandes eines vor 2005 geschlossenen Versicherungsvertrages hatte die Finanzbehörde nicht. Das gilt im Übrigen unabhängig von der streitigen Frage, ob ihr der Kontoauszug vorlag, auf den die Kläger handschriftlich „Direktvers.“ vermerkt hatten. Denn dieser Vermerk lässt weder das Datum des Vertragsschlusses noch die Pauschalbesteuerung der Beiträge erkennen.

Die der Behörde vorliegenden Informationen waren nach der Grundwertung des Gesetzes in § 155 Abs. 4 AO die allein maßgeblichen. Unerheblich ist dabei nach dem Gesagten, dass die Kläger die Steuern nicht elektronisch, sondern auf einem Papierformular erklärten. Nach den Angaben des Beklagten gab die zuständige Mitarbeiterin die Daten in das Datenverarbeitungssystem des Finanzamtes ein. Anlass für eine personelle, das heißt manuelle Bearbeitung des Steuerfalls hatte das Finanzamt eigenem Bekunden zufolge nicht. Die Kläger zeigen auch keine dahingehenden Anhaltspunkte auf. Das System „steuerte“ diesen Fall auch nicht mittels des Risikomanagementsystems nach § 88 Abs. 5 AO „aus“. Indizien für ein Fehlverhalten dieses Systems sind nicht vorgetragen.

Auf die dem Finanzamt nicht bekannte objektive Sach- und Rechtslage kam es daher nicht an. Aus diesem Grunde kommt auch der Abänderung des Bescheides im Einspruchsverfahren nicht die unter bestimmten ‒ hier nicht gegebenen – Umständen im Einzelfall bejahte Indizwirkung für die Rechtswidrigkeit des abgeänderten Bescheides zu (vgl. dazu Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 23. März 2009 – 1 U 28/08 –, Rdnr. 12; Senat, Urteil vom 26. Juni 2012 – 2 U 46/11 –, Rdnr. 34; Beschluss vom 21. Januar 2021 – 2 U 116/20 –, Rdnr. 4 bei juris). Vielmehr lagen der Behörde im Moment der Abänderung mit der – nicht datierten – Information der Versicherung neue, ihr zuvor nicht bekannte Informationen vor. Sie veränderten die maßgebliche Beurteilungsgrundlage und gaben folglich Anlass für eine Überprüfung des Bescheides und für die Neufestsetzung der Steuer.

d)

Auf ein etwaiges Mitverschulden der Kläger kommt es nach allem nicht entscheidungserheblich an.

2.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10, § 711, § 713 ZPO. Die Streitwertfestsetzung folgt §§ 43, 47 und 48 GKG.

3.

Begründeter Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht (§ 543 Abs. 2 ZPO).