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Entscheidung VG 3 K 133/21.A


Metadaten

Gericht VG Cottbus 3. Kammer Entscheidungsdatum 06.01.2022
Aktenzeichen VG 3 K 133/21.A ECLI ECLI:DE:VGCOTTB:2022:0106.3K133.21.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Soweit der Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt worden ist, wird das Verfahren eingestellt.

Im Übrigen wird die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 05. Mai 2017 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Asylgesetz zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Die Klägerin ist afghanische Staatsangehörige hazarischer Volks- und schiitischer Religionszugehörigkeit. Sie reiste zusammen mit ihrem Ehemann und drei minderjährigen Kindern im Dezember 2015 in die Bundesrepublik ein. Ein weiteres Kind wurde in der Bundesrepublik geboren. Am 09. Mai 2016 stellten sie Asylanträge.

In ihrer Anhörung vor dem Bundesamt gaben die Klägerin und ihr Ehemann zu ihren Fluchtgründen im Kern an, ein Sohn ihres Onkels habe sie (die Klägerin) heiraten wollen. Damit sei ihr Vater nicht einverstanden gewesen, weil der Sohn des Onkels Paschtune und Sunnit sei. Nach der Heirat mit ihrem jetzigen Mann seien sie vom Sohn des Onkels und seiner Familie zur Scheidung aufgefordert und bedroht worden. Daraufhin seien sie ausgereist.

Mit Bescheid vom 05. Mai 2017 lehnte das Bundesamt die Anerkennung als Asylberechtigte ab, erkannte ihnen weder die Flüchtlingseigenschaft noch subsidiären Schutz zu (Ziffern 1 bis 3) und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vorliegen (Ziffer 4). Eine flüchtlingsrelevante Verfolgung sei nicht vorgetragen, vielmehr handele es sich den klägerischen Schilderungen zufolge um eine familiäre Streitigkeit. Ein ernsthafter Schaden drohe ihnen nicht. Sie seien bei Rückkehr keinen existenziellen Gefahren ausgesetzt.

Mit ihrer am 11. Mai 2017 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin – zunächst zusammen mit ihrem Ehemann und ihren Kindern im Verfahren mit dem Aktenzeichen 3 ... – ihr Begehren weiter.

Nachdem die Beklagte ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt hat und der Rechtsstreit in der Hauptsache insoweit für erledigt erklärt worden ist, trägt die Klägerin nun vor, ihr sei die Flüchtlingseigenschaft wegen ihrer zwischenzeitlich eingetretenen Verwestlichung zuzuerkennen.

Sie beantragt,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 05. Mai 2017 zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Asylgesetz zuzuerkennen,

hilfsweise ihr subsidiären Schutz zuzuerkennen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung nimmt sie Bezug auf den Inhalt des angegriffenen Bescheids.

Die Klägerin ist in der mündlichen Verhandlung am 6. Januar 2022 informatorisch angehört worden. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift verwiesen.

Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte im hiesigen Verfahren sowie im Verfahren mit dem Aktenzeichen 3 ... und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen, die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte trotz des Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, da diese zum Termin ordnungsgemäß und unter Hinweis auf § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) geladen worden ist.

Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

Im Übrigen hat die Klage Erfolg. Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitraum der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz [AsylG]) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG. Der Bescheid des Bundesamtes vom 05. Mai 2017 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG schließen das aus. Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann vom Staat sowie den weiteren in § 3c AsylG im Einzelnen aufgezählten Akteuren ausgehen.

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Maßgebend ist insoweit der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. September 2010 – 10 C 11/09 – juris). Dieser setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32).

Es ist Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich eine Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form vorzutragen (§ 25 Abs. 1 Satz 1 AsylG), wobei von ihm grundsätzlich zu erwarten ist, dass er die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und der Furcht vor einer Rückkehr ausreichend substantiiert, detailreich sowie widerspruchsfrei vorträgt. Er muss unter Angabe von Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus welchem sich – als wahr unterstellt – ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. März 1987 – 9 C 321/85 – juris). Hierzu gehört eine Schilderung der in seine Sphäre fallenden Ereignisse, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober 1989 – 9 B 405/89 – juris). Das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung gewinnen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Juli 1989 – 9 B 239/89 – juris).

Ausgehend von diesem rechtlichen Maßstab sind die Voraussetzungen für eine Flüchtlingszuerkennung für die Klägerin erfüllt. Im vorliegenden Einzelfall ist das Gericht zu der Erkenntnis gelangt, dass diese im Falle einer freiwilligen oder zwangsweisen Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen aufgrund eines flüchtlingsschutzrelevanten Merkmals droht. Sie befindet sich aus begründeter Furcht vor einer geschlechtsspezifischen Verfolgung außerhalb Afghanistans. Sie ist aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe afghanischer Frauen, deren Identität westlich geprägt ist (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 AsylG), im Fall der Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG ausgesetzt.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgrenzbare Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft. Eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 AsylG bilden danach auch solche afghanischen Frauen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr nach Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann. Derart in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frauen teilen im erstgenannten Fall einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund, im zweitgenannten Fall bedeutsame Merkmale im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Hs. 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgrenzbaren Identität von der afghanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet. Afghanische Frauen, die dieser sozialen Gruppe angehören, können sich je nach den Umständen des Einzelfalls aus begründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG außerhalb Afghanistans aufhalten (VG Cottbus, Urteil der Kammer vom 03. Dezember 2021 – 9 K 311/18.A – S. 9 d. EA, n.v.; Urteil der Kammer vom 02. Oktober 2020 – 3 K 2207/16.A – S. 13 d. EA; vgl. auch Niedersächsisches OVG, Urteil vom 21. September 2015 – 9 LB 20/14 – juris Rn. 26 ff.; VG München, Urteil vom 01. Juli 2020 – M 4 K 16.35270 – juris Rn. 24; einschränkend: VG Karlsruhe, Urteil vom 25. Oktober 2018 – A 2 K 7355/17 – juris Rn. 40; offenlassend: VG Potsdam, Urteil vom 05. Februar 2018 – 7 K 3239/16.A – juris Rn. 47).

Das Gericht geht angesichts der derzeitigen Erkenntnismittellage davon aus, dass afghanische Frauen, deren Identität in der beschriebenen Weise westlich geprägt ist, in Afghanistan je nach den Umständen des Einzelfalls auch ohne eine Vorverfolgung oder Vorschädigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure zumindest in der Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG), ausgesetzt sein können.

Bereits vor der Machtergreifung Afghanistans durch die Taliban am 15. August 2021 bestanden für Frauen unterschiedliche Restriktionen, insbesondere ein beschränkter Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit, ungerechtfertigte Bestrafung für „Sittenverbrechen“, ungleiche Beteiligung an der Regierung, Zwangsverheiratung und Gewalt (UNHCR, Eligibility guidelines for assessing the international protection needs for asylum-seekers from Afghanistan vom 30. August 2018, S. 66 ff., m.w.N). Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzten, wurden gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert. Sie konnten sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es galten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, Bestrafungen aufgrund von Verletzungen des afghanischen Gewohnheitsrechts oder der Scharia trafen Berichten zufolge in überproportionaler Weise Frauen und Mädchen, etwa Inhaftierung aufgrund von „Verstößen gegen die Sittlichkeit“ wie beispielsweise dem Erscheinen ohne angemessene Begleitung. So wurde ihnen beispielsweise durch religiöse und traditionelle Haltungen vorgegeben, in der Öffentlichkeit eine Burka zu tragen (EASO, Country of Origin Information Report: Afghanistan Individuals targeted under societal and legal norms, December 2017, S. 36). Nach den Richtlinien des UNHCR zum Schutzbedarf afghanischer Asylsuchender konnte daher je nach den Umständen des Einzelfalls nicht nur bei afghanischen Frauen, die bereits Opfer sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt oder schädlicher traditioneller Bräuche geworden oder entsprechend gefährdet sind, sondern auch bei afghanischen Frauen, die nach der öffentlichen Wahrnehmung gegen die sozialen Sitten verstoßen, ein Bedarf an internationalem (Flüchtlings-) Schutz bestehen (vgl. zu alldem: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, S. 87 ff.).

Wie sich aus den einschlägigen Erkenntnismitteln und Presseberichten ergibt, hat sich die auch zuvor nicht einfache Situation für Frauen seit der Machtergreifung der Taliban im Sommer 2021 extrem verschlechtert. Zwar versprachen Sprecher der Talibanführung Menschenrechte einzuhalten, einschließlich der Rechte von Frauen und Mädchen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 16. September 2021, S. 82). Jedoch wird weiterhin über unterschiedlich ausgeprägte und im Vergleich zu vorher deutlich verschärfte Repressionen und Einschränkungen für Frauen berichtet, die Kleidungsvorschriften, die Pflicht zur männlichen Begleitung in der Öffentlichkeit, Einschränkungen bei Schulbesuchen und Berufsausübung bis hin zur Zwangsverheiratung betreffen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, Stand: 21. Oktober 2021, S. 11; BAMF, Briefing Notes, 10. Januar 2022, S. 2). Die Taliban haben innerhalb kurzer Zeit viele Frauenrechte abgeschafft und Restriktionen eingeführt. So können viele Frauen ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen, den Mädchen wurde der Zugang zu weiterführenden Schulen verweigert (BAMF, Briefing Notes, 20. Dezember 2021, S. 2), Proteste von Aktivistinnen seien gewaltsam unterdrückt und protestierende Frauen festgenommen worden (BAMF, Briefing Notes, 13. Dezember 2021, S. 2). Seit November dürften zudem keine Filme oder Serien mehr gezeigt werden, in denen Frauen eine Rolle spielen (Spiegel, Taliban geben sich als Frauenrechtler, https://www.spiegel.de/ausland/afghanistan-taliban-veroeffentlichen-erlass-zu-frauenrechten-a-69dfb663-dc4f-4754-ba66-69cc9ef45b1b). Zudem verlassen viele Frauen das Haus kaum noch, weil die Taliban noch immer keine klaren Bekleidungsvorschriften für Frauen vorgegeben haben und viele befürchten, von den Taliban wegen ihrer Kleidung hart zurechtgewiesen zu werden. Die vorherrschende Atmosphäre der Angst und Verunsicherung führt dazu, dass Frauen schrittweise aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt werden und nur noch über einen sehr eingeschränkten Zugang zu Bildung, Gesundheit, Schutz, Politik und Arbeit verfügen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update der SFH-Länderanalyse, 31. Oktober 2021, S. 10 f.). Das afghanische Ministerium für Frauenangelegenheiten wurde geschlossen und ersetzt durch eine Abteilung zur Durchsetzung religiöser Pflichten (BBC News, Afghanistan: Taliban morality police replace women's ministry, vom 17. September 2021). Auch die Zahl der Fälle von Gewalt gegen Frauen soll in den letzten Monaten gestiegen sein (BAMF, Briefing Notes, 20. Dezember 2021, S. 2) und Frauenhäuser seien geschlossen worden. Zudem hätten die Taliban u.a. viele wegen Gewalt in der Ehe verurteilte Straftäter aus den Gefängnissen entlassen (BAMF, Briefing Notes, 13. Dezember 2021, S. 2). Jüngst erklärte das Tugendministerium, Frauen dürften das Haus nur noch verlassen, wenn es unbedingt notwendig sei (BAMF, Briefing Notes, 10. Januar 2022, S. 2). In den nördlichen Provinzen wurden ihnen verboten, Badehäuser zu betreten (ebd.).

Unter Frauen, die nach der öffentlichen Wahrnehmung gegen die sozialen Sitten verstoßen, sind solche Frauen zu verstehen, deren Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird. Hierzu können nicht nur Frauen zählen, die – wie z.B. Parlamentarierinnen, Beamtinnen, Journalistinnen, Anwältinnen, Frauen- und Menschenrechtsaktivistinnen oder Lehrerinnen – Aktivitäten im öffentlichen Leben entfalten, damit dem traditionellen Rollenbild widersprechen und von konservativen Elementen in der Gesellschaft systematisch eingeschüchtert, bedroht, attackiert und gezielt getötet werden (UK Home Office, Country Policy and Information Note, Afghanistan: Women fearing gender-based violence, Version 3.0, März 2020, S. 28). Vielmehr verstoßen nach der öffentlichen Wahrnehmung in der afghanischen Gesellschaft auch solche Frauen gegen die sozialen Sitten, deren Identität derart westlich geprägt ist, dass ihr Verhalten deutlich vom Rollenbild der Frau in der afghanischen Gesellschaft abweicht (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update der SFH-Länderanalyse, 12. September 2019, S. 13).

Allerdings ist die Annahme eines westlichen Lebensstils nach § 3b Abs. 1 Nr. 4a AsylG nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht, und eine Aufgabe dieser Lebenseinstellung nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist. Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frau im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt ist, bedarf einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen. Denn die konkrete Situation afghanischer Frauen kann sich je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden. Insbesondere ist zu berücksichtigen, ob und inwieweit die betreffende afghanische Frau voraussichtlich durch einen Familien- oder Stammesverbund vor Verfolgungsmaßnahmen geschützt werden kann. Eine Verfolgungsgefahr besteht vor allem für alleinstehende Frauen und Frauen ohne männlichen Schutz (Niedersächsisches OVG, Urteil vom 21. September 2015 – 9 LB 20/14 – juris Rn. 38 ff.).

Ausgehend von diesen Maßstäben ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin im Fall der Rückkehr in ihre Heimat Maidan Wardak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe afghanischer Frauen, deren Identität westlich geprägt ist, ausgesetzt wäre.

Es bestehen keine Zweifel, dass die Klägerin eine solche nachhaltige Prägung erfahren hat. Ihrem äußeren Erscheinungsbild in der mündlichen Verhandlung nach unterschied sie sich nicht von westlichen Frauen. Sie trug weder ein Kopftuch noch sonst traditionelle oder im Ansatz verhüllende Kleidung. Im Gegenteil: Sie trat selbstbewusst mit blondierten Haaren auf, trug Make-Up und erschien in Hose und mit Lederjacke. Zum Kopftuch äußerte sie glaubhaft, dieses sogleich nach ihrer Ausreise aus Afghanistan in der Türkei abgelegt zu haben. Dies habe sie bereits zuvor gewollt, in Afghanistan sei dies aber nicht möglich. Die Klägerin hat sich in Deutschland schnell integriert, trifft ihre täglichen Entscheidungen selbst und handelt eigenständig. Ihre Deutschkenntnisse waren derart ausgeprägt, dass sie in der Lage war, sich auf Deutsch zu verständigen. Sie hat auch eine klare, selbstbewusste Meinung zur gleichberechtigten Stellung der Frau geäußert und den Anspruch formuliert, sich nicht allein um die Kinderbetreuung und den Haushalt zu kümmern. Dies mache sie gemeinsam mit ihrem Ehemann. Sie lässt ihre Kinder in einem Kindergarten betreuen und hat glaubhaft geschildert, auch ohne ihren Mann Freundinnen zu treffen. Nach Auffassung des Gerichts unterscheidet sich die Klägerin damit sowohl von ihrem Äußeren als auch von ihrem Auftreten und Wirken nicht von anderen Müttern in Deutschland. Sie hält es für selbstverständlich, auch als Frau über ein eigenes Konto zu verfügen, das sie gleich zu Beginn ihres Aufenthalts in Deutschland habe einrichten lassen. Völlig überrascht habe sie auf die Frage des Gerichts geantwortet, jeder habe doch ein Konto. Sie hat hier bereits gearbeitet und äußert nachdrücklich den glaubhaften Wunsch, nach Abschluss ihres Deutschkurses einer Tätigkeit in einer Kindertagesstätte oder in einem Altenheim nachzugehen und eine Weiterbildung zur Erzieherin zu absolvieren. Zudem verfügt die Klägerin über einen Führerschein, den sie ihren Angaben zufolge auch nutzt und gelegentlich sogar dann am Steuer sitzt, wenn sie von ihrem Mann begleitet wird. Darüber hinaus führte sie aus, vor der Coronapandemie und den Umzug der Familie nach C ... in einer Einrichtung Sport getrieben zu haben und gern Fahrrad zu fahren. Auch lebt sie ihren glaubhaften Angaben nach den muslimischen Glauben nicht mehr in der Form, wie es von ihr in der afghanischen patriarchalischen Gesellschaft verlangt würde. In der mündlichen Verhandlung hat sie eine erhebliche Distanz zu den Glaubenstraditionen und dem religiösen Leben in ihrem Herkunftsland zum Ausdruck gebracht. So hält sie insbesondere die muslimischen Regeln nicht ein, trägt kein Kopftuch, fastet und betet nicht.

Das Gericht geht davon aus, dass die westliche Lebensweise, die sich die Klägerin angeeignet hat, auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Dabei ist insbesondere ihr Wandel zu berücksichtigen, den sie von einer ein Kopftuch tragenden jungen Frau zu einer das Kopftuch ablegenden, emanzipierten und selbstbewussten Erwachsenen unmittelbar nach ihrer Ausreise aus Afghanistan und sodann in Deutschland vollzogen hat. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin nicht dazu in der Lage wäre, sich einem dem traditionellen Sitten- und Rollenbild von Frauen in Afghanistan angepassten Lebensstil zu unterwerfen. Angesichts der geschilderten Umstände geht das Gericht auch davon aus, dass die westliche Lebensweise in der Persönlichkeit der Klägerin so tief verwurzelt ist, dass sie sie nicht mehr ablegen kann. Jedenfalls aber wäre es unzumutbar, die Klägerin dazu zu zwingen, sich nunmehr einem dem traditionellen Sitten und Rollenbild von Frauen in Afghanistan angepassten Lebensstil zu unterwerfen. Denn sie müsste dafür den wesentlichen Kerngehalt ihrer Persönlichkeit aufgeben, wodurch ihre Menschenrechte verletzt würden.

Weder ihr Ehemann noch ein sonstiger Familien- oder Stammesverbund könnte sie gegen Verfolgungshandlungen schützen. Der Ehemann hat Afghanistan mit ihr gemeinsam verlassen. Auch hat sie in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, zu Verwandten in Afghanistan keinen Kontakt mehr Kontakt zu haben. Dies ist auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Klägerin und ihr Ehemann vom Sohn ihres Onkels und dessen Familie bedroht worden sein sollen, plausibel. Mit dem Zusammenbruch der bisherigen Regierung, der Flucht der Regierungsspitze und der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Taliban am 15. August 2021, der Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan sowie der Vorstellung der neuen Regierung am 07. September 2021 sind die Taliban nunmehr faktisch als staatlicher Akteur im Sinne von § 3c Nr. 1 AsylG anzusehen, so dass eine unmittelbar staatliche Verfolgung vorliegt. Die Frage des internen Schutzes in anderen Landesteilen stellt sich damit nicht (mehr).

Auf das hilfsweise Begehren der Klägerin hinsichtlich der Feststellung subsidiären Schutzes war aufgrund der Stattgabe im Antrag auf den Schutz nach § 3 AsylG nicht mehr einzugehen (§ 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 161 Abs. 2, 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, ist gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden. Hier entspricht es der Billigkeit, die Kosten des Verfahrens der Beklagten aufzuerlegen, weil sie durch die Aufhebung von Ziffer 4 des angefochtenen Bescheids und Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG insoweit selbst Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit hat erkennen lassen und dadurch der streitigen Durchführung des Verfahrens die Grundlage entzogen hat.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.