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Haftungsbescheid vom 29.07.2019


Metadaten

Gericht FG Berlin-Brandenburg 4. Senat Entscheidungsdatum 28.09.2021
Aktenzeichen 4 K 4006/21 ECLI ECLI:DE:FGBEBB:2021:0928.4K4006.21.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens werden dem Kläger auferlegt.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen den Haftungsbescheid vom 29.07.2019 (Bl. 34 ff. Haftungsakte, Bl. 21 ff. Gerichtsakte [GA]) in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21.12.2020 (Rechtsbehelfsakte, Bl. 3 ff. GA), mit dem der Beklagte ihn als vormaligen formellen Geschäftsführer der Firma B… GmbH (fortan GmbH) für Lohn- und Annexsteuern (Solidaritätszuschlag zur Lohnsteuer sowie evangelische Lohnkirchensteuer) für den Monat Oktober 2017 in Höhe von insgesamt 2.110,61 € in Anspruch nimmt.

Der 1988 geborene Kläger war seit 2012 der alleinige formelle Geschäftsführer der mit notariellem Gesellschaftsvertrag vom 07.10.2008 gegründeten und mit einem Stammkapital von 25.000 € ausgestatteten GmbH, deren Firma am 25.11.2008 zur Eintragung im Handelsregister des Amtsgerichts (AG) C… (HRB …) gelangte.

Gründungsgesellschafter mit Stammkapitalanteilen von 500 € und 24.500 € waren Frau D… sowie Herr E…. Bis zur Übernahme des Geschäftsführeramtes durch den Kläger war E… die formelle Geschäftsführerin der GmbH.

Mit notariell beurkundetem Gesellschaftskauf- und Abtretungsvertrag vom 08.11.2012 veräußerte D… ihren Gesellschaftsanteil an E…, der nach den (zwischen den Beteiligten) insoweit nicht strittigen Feststellungen des Insolvenzverwalters, Herrn Rechtsanwalt F…, als faktischer Geschäftsführer fungierte und für die Gesellschaft alle unternehmerischen Entscheidungen traf und diese auch nach außen vertrat.

Unternehmensgegenstand der GmbH war der … und …, … und …, …, Arbeitsvermittlung nach Erhalt der erforderlichen Erlaubnis.

Die GmbH beschäftigte im sozialversicherungspflichtigen Umfang in der Spitze 40 Mitarbeiter, im November 2017 waren davon noch 26 Mitarbeiter beschäftigt, die Nettolohnsumme betrug 29.300,00 €. Die Löhne für Oktober 2017 zahlte der Kläger zwischen dem 6. bis 10.11.2017 an die Beschäftigten in bar aus. Ab November 2017 leistete die GmbH keine Arbeitslöhne mehr an ihre Arbeitnehmer. Für die Folgemonate beantragte der Insolvenzverwalter bei der Bundesagentur für Arbeit die Vorfinanzierung von Insolvenzgeld (Bl. 118 ff. Insolvenzakte Band I).

Die vorbereitende Finanzbuchhaltung erstellte die GmbH durch wechselnde Mitarbeiter selbst; die Lohnbuchhaltung erfolgte durch die G… GmbH mit Sitz in H… (siehe Bericht zur Gläubigerversammlung von März 2018, Bl. 262 ff <267> Band II Insolvenzakten).

Mit Antrag vom 27.10.2017 (Bl. 1 ff. Band I Insolvenzakten) beantragte die Krankenkasse wegen rückständiger Sozialversicherungsbeiträge betreffend den Zeitraum März 2017 bis Oktober 2017 nebst Nebenleistungen und Vollstreckungsgebühren i. H. v. insgesamt 7.708,51 € das Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH zu eröffnen.

Mit Beschluss vom 09.11.2017 beauftragte das AG C… (Geschäftszeichen 36e IN 5740/17) Herrn Rechtsanwalt F… mit der Erstattung eines Gutachtens zur Aufklärung des Sachverhalts, ob ein Eröffnungsgrund vorliege, eine kostendeckende Masse vorhanden sei und ob Aussichten für eine Fortführung des Unternehmens bestünden (Bl. 13 f. Insolvenzakte Band I).

Mit weiterem Beschluss vom 13.11.2017 (Bl. 23 ff. Insolvenzakten Band I) bestellte das AG C… F… überdies zum vorläufigen Insolvenzverwalter und ordnete nach §§ 21, 22 der Insolvenzordnung (InsO) ferner an, dass zur Verhinderung nachteiliger Veränderungen in der Vermögenslage der Schuldnerin (GmbH) Verfügungen derselben über Gegenstände des schuldnerischen Vermögens nur noch mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam seien (§ 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO). Zur Begründung führte das Insolvenzgericht aus, gegen die GmbH sei zum wiederholten Mal ein Insolvenzeröffnungsverfahren anhängig. Die Gesellschaft sei weiterhin im Bereich des … mit zirka 25 Arbeitnehmern und 15 Fahrzeugen tätig (Bl. 17 ff. Insolvenzakten Band I). Die Vermögensverhältnisse der Gesellschaft seien unbekannt; Auskünfte über laufende Forderungen der Schuldnerin würden seitens der Geschäftsführung unbeantwortet bleiben.

Am 14.11.2017 wurden die Forderungen der Insolvenzantragstellerin (Krankenkasse) durch Zahlung vollumfänglich erfüllt (Bl. 50 Insolvenzakte Band I). Das Insolvenzverfahren wurde gleichwohl nicht für erledigt erklärt, sondern fortgeführt.

Die gegen den Beschluss des AG C… vom 13.11.2017 eingelegte sofortige Beschwerde wurde durch Beschluss des Landgerichts C… – LG - (19 T 151/17) zurückgewiesen (Bl. 90 ff. Insolvenzakte Band I). Zur Begründung führte das LG aus, dass die Gründe für die Krise der GmbH durch die Befriedigung der Insolvenzantragsforderungen nicht entfallen seien. Hierfür spreche, dass die GmbH noch nicht unerhebliche Kreditverbindlichkeiten gegenüber der I… Bank (rund 43.000 €) habe. Die erfüllte Insolvenzforderung der Krankenkasse betreffe Sozialversicherungsansprüche, deren Nichtabführung strafrechtlich sanktioniert sei. Dies habe zur Folge, dass solche Verbindlichkeiten trotz Zahlungsunfähigkeit regelmäßig bis zuletzt an die Sozialversicherungsträger abgeführt werden würden.

Auch in der Vergangenheit waren lt. Feststellungen von F… seitens mehrerer Sozialkassen beginnend mit dem Antrag der Kaufmännischen Krankenkasse vom 31.08.2015 (AG C…, Geschäftszeichen 36e IN ……../15) mehrfach Insolvenzeröffnungsverfahren gegen die GmbH eingeleitet worden. Bis zu dem Verfahren 36e IN ……../17 sei es bei der GmbH zu insgesamt 14 Antragsverfahren gekommen (siehe Seite 12 des Gutachtens auf Seite 123 ff. <136> der Insolvenzakten Band I).

Die GmbH führte nach Antragstellung vom 27.10.2017 ihr Unternehmen noch bis zum 31.03.2018 fort (siehe Zwischenbericht des Insolvenzverwalters vom 05.09.2019, Bl. 411 ff.). Ihr Hauptauftraggeber war das Bezirksamt C…, für welches die GmbH vornehmlich mit der Beseitigung von Gefahrenstellen auf ……….. betraut war. Aus den diesen Aufträgen zugrundeliegenden Rahmenvereinbarungen erwartete die GmbH bei Insolvenzantragstellung bis zur Beendigung der Rahmenvereinbarungen bis einschließlich Juni 2018 noch Einnahmen von insgesamt 163.000 €.

Aufgrund eines mit Zustimmung des vom Insolvenzgericht eingesetzten Gläubigerausschusses durch F… von der J… Unternehmensberatung aus K… eingeholten Gutachtens trat zutage, dass die GmbH bereits seit dem 01.01.2015 objektiv zahlungsunfähig gewesen sei (siehe Zwischenbericht des Insolvenzverwalters vom 05.09.2019, Bl 412 ff. <416> Insolvenzakten Band II). Zwischenzeitlich machte der Insolvenzverwalter F… deshalb gemäß § 130 InsO erhebliche Anfechtungsansprüche gegen diverse Sozialversicherungsträger von knapp 340.000 € sowie gegenüber dem Finanzamt L… (FA, Beklagter) i. H. v. knapp 297.000 € geltend, welche der Beklagte mit Ausnahme eines Betrages von rund 15.000 € in der Folge weitgehend anerkannte und zur Masse leistete (Bl. 412 ff. <417> Insolvenzakten Band II).

Mit seinem Gutachten von Januar 2018 (Bl. 123 ff. Insolvenzakte Band I; Bl. 2 ff. Haftungsakte) gelangte der vorläufige Insolvenzverwalter F… zu dem Ergebnis, dass die zahlungsunfähige und überschuldete GmbH über eine die Kosten des Insolvenzverfahrens
deckende freie Masse verfüge. Eine Fortführungsaussicht für das Unternehmen bestehe nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht (Seite 34 des Gutachtens). Diese Einschätzung führte zur vollständigen Einstellung des Geschäftsbetriebs der GmbH.

Mit Beschluss vom 24.01.2018 (Bl. 168 ff. Insolvenzakte Band I) eröffnete das AG C… das Insolvenzverfahren wegen Zahlungsunfähigkeit der GmbH und bestellte F… zum Insolvenzverwalter.

Mit Schreiben vom 24.05.2018 zeigte der Insolvenzverwalter gegenüber dem Insolvenzgericht nach § 208 Abs. 1 InsO Masseunzulänglichkeit des Verfahrens an, weil der Massebestand nicht ausreichen werde, die gemäß § 540 InsO vorrangigen Masseverbindlichkeiten im Sinne des § 55 InsO in Höhe von rund 40.000 €, die vornehmlich aus Arbeitsverhältnissen aus Anlass des fortgeführten Geschäftsbetriebs resultierten, auszugleichen (Bl. 297 ff. Insolvenzakten Band II).

Auf die Haftungsanfrage des Beklagten vom 31.10.2018 (Bl. 33 f. Haftungsakte) teilte der Kläger mit Schreiben vom 31.10.2018 mit (Hinweis auf Bl. 32 f. Haftungsakte), dass er für die GmbH die Löhne für Oktober 2017 im Zeitraum vom 06.11. bis 10.11.2017 in bar an die Mitarbeiter ausgezahlt habe. Bevor er – der Kläger - die auf den ausgezahlten Löhnen lastenden Lohnsteuerabzugsbeträge an das FA habe abführen können, sei bereits ein Verfügungsverbot des Insolvenzgerichts angeordnet und ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt worden. Hierdurch sei ihm die Möglichkeit zur Begleichung der Lohnsteuerbeträge für Oktober 2017 genommen worden. Eine schuldhaft begangene Pflichtverletzung hinsichtlich der nicht abgeführten Lohn- und Annexsteuern könne ihm somit nicht angelastet werden.

Mit Haftungsbescheid vom 29.07.2019 – auf den das Gericht wegen des weiteren Inhalts Bezug nimmt (Bl. 34 ff. Haftungsakte) – nahm der Beklagte den Kläger als formellen Geschäftsführer der GmbH nach §§ 34, 69 AO wegen Lohnsteuer für Oktober 2017 i. H. v. 1.989,98 € zuzüglich Solidaritätszuschlag i. H. v. 81,28 € sowie evangelische Lohnkirchensteuer i. H. v. 39,35 €, insgesamt 2.110,61 €, gleichwohl in Anspruch. Zur Begründung führte er aus, der Kläger habe die aus der Norm des § 41a Abs. 1 Nr. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) folgende Verpflichtung zur Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuern für den Monat Oktober 2017 schuldhaft, d. h. mindestens grob fahrlässig, verletzt, weil er die Lohn- und Annexsteuern nicht wie erforderlich von den ausgezahlten Löhnen einbehalten und bis spätestens zum gesetzlichen Fälligkeitszeitpunkt am Freitag, dem 10.11.2017 an ihn – den Beklagten – abgeführt habe. Die Frage des Verschuldens sei bei der Abführung der Lohnsteuer nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (z. B. Bundesfinanzhof [BFH], Urteile vom 21.01.1972 VI R 187/68, Bundessteuerblatt [BStBl] II 1972, 364; vom 20.04.1982 VII R 96/79, BStBl II 1982, 521) streng zu beurteilen. Dies beruhe darauf, dass der Arbeitnehmer nach § 38 Abs. 2 Satz 1 EStG der Schuldner der Lohnsteuer sei und der Arbeitgeber zur Einbehaltung und Abführung der Abzugsbeträge gegenüber Arbeitnehmer und dem FA eine treuhänderische Stellung einnehme. Bei der Lohnsteuer handele es sich für den Arbeitgeber um wirtschaftlich fremde Gelder. Mit Erfolg könne der Arbeitgeber sich nicht darauf berufen, es seien keine ausreichenden Mittel zur Entrichtung im Zeitpunkt der Fälligkeit der Lohnsteueransprüche vorhanden gewesen. Bei Liquiditätsschwierigkeiten treffe den Geschäftsführer die Pflicht, zur Sicherstellung einer gleichmäßigen Befriedigung der Lohn- und Gehaltsansprüche der Arbeitnehmer sowie des Finanzamtes hinsichtlich der darauf entfallenden Lohnsteuerbeträge die Löhne notfalls in gekürzter Höhe auszuzahlen. Hieran fehle es. Die Haftungsinanspruchnahme sei auch als ermessensgerecht zu erachten. Die GmbH sei zur Zahlung der offenen Beträge nicht in der Lage. Beitreibungsversuche des Finanzamtes seien allesamt erfolglos geblieben. Infolge der Verletzung der Abführungsverpflichtung sei ihm – dem Beklagten - ein steuerlicher Schaden entstanden, die dem Kläger als formellen Geschäftsführer der Steuerschuldnerin zuzurechnen sei und dessen Haftungsinanspruchnahme gebiete.

Gegen seine Haftungsinanspruchnahme wandte der Kläger sich durch Einspruch, den er entgegen seiner Ankündigung und trotz mehrerer Aufforderungen sowie nach erfolgter Akteneinsichtnahme seines hiesigen Prozessbevollmächtigten nicht begründete.

Mit Einspruchsentscheidung vom 21.12.2020 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, dass den Kläger die steuerlichen Pflichten als gesetzlicher Vertreter der GmbH (§ 34 AO) unabhängig davon treffen würden, ob ein Anderer die Geschäftsführung faktisch innehabe. Aus der nominellen Bestellung zum Geschäftsführer ergebe sich die Haftung ohne Rücksicht darauf, ob die Geschäftsführung auch tatsächlich ausgeübt werde. Mit Erfolg könne der Geschäftsführer sich nicht darauf berufen, dass er von der ordnungsgemäßen Führung der Geschäfte ferngehalten worden sei und die Geschäfte tatsächlich von einem anderen geführt worden seien. Sei der nominell bestellte Geschäftsführer nicht in der Lage, sich innerhalb der Gesellschaft durchzusetzen und seiner Rechtsstellung gemäß zu handeln, so müsse er als Geschäftsführer zurücktreten und dürfe im Rechtsverkehr nicht den Eindruck erwecken, als sorge er für eine ordnungsgemäße Abwicklung der Geschäfte (siehe BFH-Urteile vom 18.01.2008 VII B 63/07, Sammlung der Entscheidungen des BFH [BFH/NV] 2008, 754; vom 23.03.1993 VII R 38/92, BStBl II 1993, 581; vom 16.07.1985 VII 195/92, BFH//NV 1987, 210). Aufgrund dieser Rechtsprechungsgrundsätze könne es den Kläger nicht entlasten, dass womöglich die Geschäfte der GmbH tatsächlich von deren faktischem Geschäftsführer E… wahrgenommen worden seien und er – der Kläger – lediglich die Rolle eines Strohmannes eingenommen habe. Den Kläger treffe auch ein schuldhaftes Fehlverhalten. Insoweit sei eine gesamtschuldnerische Haftung von formellem und faktischem Geschäftsführer nach Maßgabe von § 45 AO gerechtfertigt. Die Nichtabführung der Lohnsteuer im Zeitpunkt der gesetzlichen Fälligkeit indiziere als pflichtwidriges Unterlassungsverhalten den objektiven und subjektiven Schuldvorwurf. Davon abgesehen sei von einem grob fahrlässiges Verhalten auszugehen, weil der Kläger für die ausgezahlten Löhne keine Lohnsteuer einbehalten und an das Finanzamt abgeführt habe. Da der Beklagte die Lohnsteuer bei der GmbH nicht habe realisieren können und diese uneinbringlich sei, sei das Entschließungsermessen regelmäßig auf Null reduziert und eine Haftungsinanspruchnahme des Geschäftsführers geboten. Außergewöhnliche Umstände, die ausnahmsweise ein Abrücken von der Inanspruchnahme rechtfertigen könnten, seien nicht ersichtlich. Auch das dem Finanzamt obliegende Auswahlermessens sei korrekt ausgeübt worden. Neben dem Kläger sei auch E… als faktischer Geschäftsführer durch einen ansonsten gleichlautenden Haftungsbescheid in Anspruch genommen geworden.

Hiergegen richtet sich die fristgerechte Klage. Seinen behördlichen Vortrag wiederholend und vertiefend trägt der Kläger ergänzend vor, dass die Gesellschaft im Zeitpunkt der bar ausgezahlten Löhne in ihrer Kasse und auf ihren Bankkonten über ausreichende Mittel zur Begleichung der Lohnsteuerschuld verfügt habe. Für eine Kürzung der Löhne zur Sicherstellung einer fristgerechten und vollständigen Tilgung der Lohnsteuerschuld habe kein Anlass bestanden. Erst durch die Bestellung des vorläufigen „starken Insolvenzverwalters“ durch Beschluss des AG vom 13.11.2017 sei ihm die Möglichkeit genommen worden, die fällige Lohnsteuer an den Beklagten abzuführen. In subjektiver Hinsicht könne ihn ein Verschulden nicht treffen, weil er von der Insolvenzantragstellung durch die Krankenkasse seinerzeit keine Kenntnis gehabt und diese auch nicht habe vorhersehen können. Vielmehr habe er wegen der auskömmlichen Liquiditätslage angenommen, dass die Gesellschaft ihre Steuerverbindlichkeiten am 13.11.2017 werde erfüllen können. Vorsätzliches Verhalten könne ihm nicht angelastet werden. Weder habe er in dem Bewusstsein, dass sein Handeln oder Unterlassen pflichtwidrig sein könnte, gehandelt noch habe er erkannt, dass die GmbH zahlungsunfähig sei. Auch für die Annahme einer groben Fahrlässigkeit sei kein Raum. Mit der Anordnung der insolvenzrechtlichen Sicherungsmaßnahmen habe er nicht im Mindesten rechnen können.

Der Kläger beantragt,

den Haftungsbescheid vom 29.07.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21.12.2020 (ersatzlos) aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist auf die Gründe seiner Einspruchsentscheidung und führt ergänzend aus, dass dem Kläger vorzuwerfen sei, die Lohnsteuer nicht bereits am gesetzlichen Fälligkeitstag (Freitag, dem 10.11.2017) an den Beklagten abgeführt zu haben; eine dreitätige Schonfrist existiere entgegen der Ansicht des Klägers nicht. Gegen die Verpflichtung zur pünktlichen und vollständigen Abführung der auf die bar geleisteten Löhne entfallenden Lohnsteuer habe der Kläger bewusst und gewollt, also vorsätzlich, verstoßen. Der Vortrag des Klägers, die Gesellschaft habe im Zeitpunkt der bar geleisteten Löhne noch über ausreichende Mittel verfügt, sei Bedenken ausgesetzt. Ausweislich der Feststellungen des Insolvenzverwalters sei das bei der C… Sparkasse geführte Geschäftskonto mit rund 91.000 € im Soll geführt worden; den Kassenbestand habe der Insolvenzverwalter mit 0 € bewertet.

Nach Anhörung der Beteiligten ist mit Beschluss vom 09.08.2021 gemäß § 6 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) die Entscheidung des Rechtsstreits dem Einzelrichter übertragen worden (Bl. 34 Gerichtsakte).

Bei seiner Entscheidungsfindung haben dem Finanzgericht neben einem Band (Bd.) Gerichtsakten zum vorliegenden Klageverfahren sowie je ein Bd. Haftungs- und Rechtsbehelfsakten des Beklagten zur Steuernummer … außerdem 2 Bde. Insolvenzakten betreffend des beim Amtsgericht C… noch nicht abgeschlossenen Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Steuerschuldnerin – 36e IN 5740/17 – vorgelegen. Die Beteiligten sind über die Beiziehung der Insolvenzakten informiert worden (Bl. 38, 38a Gerichtsakte).

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Der angefochtene Haftungsbescheid sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung sind rechtmäßig und verletzen nicht die Rechte des Klägers (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).

Nach § 191 Abs. 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet (Haftungsschuldner). Ein gesetzlicher Haftungstatbestand ist unter anderem § 69 AO, auf den der Beklagte den Haftungsbescheid stützt. Danach haften die in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden.

Nach ständiger und zutreffender Rechtsprechung des BFH ist die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zweigliedrig (vgl. BFH-Urteile vom 13.04. 1978 V R 109/75, BStBl II 1978, 508; vom 04.10.1988 VII R 53/85, BFH/NV 1989, 274, 275). Das FA hat zunächst zu prüfen, ob in der Person oder den Personen, die es heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der Haftungsvorschrift erfüllt sind. Dabei handelt es sich um eine vom Gericht in vollem Umfang überprüfbare Rechtsentscheidung. Daran schließt sich die nach §191 Abs. 1 AO zu treffende Ermessensentscheidung des FA an, ob und wen es als Haftenden in Anspruch nehmen will. Diese auf der zweiten Stufe zu treffende Entscheidung ist gerichtlich nur im Rahmen des §102 FGO auf Ermessensfehler (Ermessensüberschreitung, Ermessensfehlgebrauch) überprüfbar (BFH-Urteile vom 13.06.1997 VII R 96/96, BFH/NV 1998, 4; vom 11.03.2004 VII R 52/02, BStBl II 2004, 579).

Vorliegend ist der Tatbestand der Haftungsnormen erfüllt; auch das auf der Rechtsfolgenseite ausgeübte Ermessen ist nicht zu beanstanden.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Haftungsinanspruchnahme gemäß §§ 69, 34 AO sind erfüllt.

Der Kläger gehörte mit seiner Bestellung zum förmlichen Geschäftsführer der GmbH zu dem in § 34 AO aufgeführten Personenkreis.

Nach § 69 Satz 1 AO haften u. a. die in § 34 AO bezeichneten Personen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 Abs. 1 AO) in Folge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AO haben die gesetzlichen Vertreter juristischer Personen deren steuerliche Pflichten zu erfüllen. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 AO haben sie insbesondere dafür zu sorgen, dass die Steuern aus den Mitteln entrichtet werden, die sie verwalten. § 34 AO begründet eigene steuerrechtliche Pflichten von Personen (Vertreter), die für steuerrechtsfähige, aber als solche nicht handlungsfähige Steuerrechtssubjekte handeln. Der Vertreter ist verpflichtet, so zu handeln, wie das handlungsunfähige Steuerrechtssubjekt handeln müsste, wenn es handlungsfähig wäre (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, 166. Lieferung 05.2021, § 34 AO Rz. 1, m. w. N.).

Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung stellt die Nichtabführung einzubehaltender und anzumeldender Lohnsteuer zu den gesetzlichen Fälligkeitszeitpunkten im Regelfall eine grob fahrlässige Verletzung der Geschäftsführerpflichten dar (z. B. BFH-Urteile vom 27.02.2007 VII R 67/05, BStBl II 2009, 348; vom 23.09.2008 VII R 27/07, BStBl II 2009, 129). Zahlungsschwierigkeiten können den Geschäftsführer nicht entlasten. Falls die zur Verfügung stehenden Mittel zur Zahlung der vollen Löhne einschließlich des Steueranteils nicht ausreichen, darf der Geschäftsführer die Löhne nur gekürzt auszahlen und muss aus den übrig gebliebenen Mitteln die darauf entfallende Lohnsteuer an das FA abführen (siehe BFH-Urteil vom 01.08.2000 VII R 110/99, BStBl II 2001, 271 m.w.N.).

Im Streitfall verletzte der Kläger als Geschäftsführer der GmbH die ihm nach § 34 AO obliegende Pflicht, die Steuern, aus den Mitteln, die er zu verwalten hatte, an das Finanzamt zu entrichten, indem er unterließ, die auf den ausgezahlten Löhnen für Oktober 2017 entstandene Lohnsteuer bis spätestens zum 10.11.2017 anzumelden und an das Betriebsstättenfinanzamt abzuführen.

Der vor dem gesetzlichen Fälligkeitszeitpunkt beim Insolvenzgericht am 02.11.2017 eingegangene Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH befreite den Kläger als deren gesetzlicher Vertreter nicht von seiner Verpflichtung zur fristgerechten Anmeldung und Abführung der Lohnsteuer. Eine rechtliche Befreiung von dieser Pflicht tritt vielmehr erst gemäß §§ 80, 81 InsO durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein, denn erst damit verliert die Schuldnerin (GmbH) ihre Verfügungsbefugnis (Rüsken in Klein, a. a.O., § 69 Rdnr. 129c m. w. N.). Im Streitfall ist erst nach dem gesetzlichen Fälligkeitszeitpunkt mit Beschluss vom 24.01.2018 das Insolvenzverfahren eröffnet worden.
Die Verpflichtung des Klägers zur Abführung der Lohnsteuer ist ebenso nicht durch die Bestellung von F… zum vorläufigen Insolvenzverwalter durch Beschluss vom 13.11.2017 suspendiert worden. Mit diesem Beschluss hatte das AG nämlich kein allgemeines Verfügungsverbot nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. InsO auferlegt, sondern angeordnet, dass Verfügungen der Schuldnerin (der GmbH) über Gegenstände ihres Vermögens nur mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam seien (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 2. Alt. InsO). Dieser Zustimmungsvorbehalt führt nicht zum Verlust der Verfügungsbefugnis der Schuldnerin; dem folgend ist ein vorläufiger Insolvenzverwalter mit Zustimmungsvorbehalt auch kein gesetzlicher Vertreter i. S. des § 34 AO (siehe BFH-Urteil vom 26.09.2017 VII R 40/16, BStBl II 2018, 772). Abgesehen konnte der Kläger am 10.11.2017 ohnehin noch uneingeschränkt über das Vermögen der GmbH verfügen, weil die Bestellung des vorläufigen Insolvenzverwalters F… erst nach Eintritt des gesetzlichen Fälligkeitszeitpunktes für die abzuführende Lohnsteuer erfolgte.

Die Haftung ist auch nicht ausgeschlossen, weil die Nichtzahlung der fälligen Steuern in die dreiwöchige Schonfrist fällt, die dem Geschäftsführer zur Massesicherung ab Feststellung der Zahlungsunfähigkeit gemäß § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO a.F. (bis zum Inkrafttreten der InsO: § 64 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung [GmbHG]) eingeräumt ist. Die Erfüllung der sozial- und steuerrechtlichen Vorschriften muss mit den Pflichten eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters als vereinbar angesehen werden. Die Schonfrist gilt deshalb nach zutreffender BFH-Rechtsprechung nicht für die hier in Rede stehende Lohnsteuerentrichtungspflicht (BFH-Urteil vom 27.09.2008 VII R 27/07, BStBl II 2009, 129).

Die unterlassene Anmeldung und Abführung der Lohnsteuer war für den verfahrensgegenständlichen Steuerausfall auch adäquat-kausal, denn bei einer pflichtgerechten rechtzeitigen Anmeldung und Abführung der Lohn- und Annexsteuern wäre es zu einem Schadenseintritt nicht gekommen.

Selbst wenn der Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH die Zahlung der GmbH nach §§ 129 ff. InsO anfechten hätte können, wäre der erforderliche Kausalverlauf zwischen Pflichtverletzung und Eintritt des steuerlichen Schadens nicht unterbrochen worden. Die Funktion und der Schutzzweck des in § 69 AO normierten Haftungstatbestandes schließen die Berücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe aus (BFH-Urteil vom 05.06.2007 VII R 65/05, BStBl II 2008, 273; Rüsken in Klein, AO, 14. Aufl. 2018, § 69 Rdnr. 131a). Von Bedeutung ist insoweit, dass im Zeitpunkt der pflichtwidrigen unterlassenen fälligkeitsgerechten Zahlung keine zuverlässige Feststellung darüber getroffen werden kann, ob es tatsächlich zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens kommt und ob im Falle der Eröffnung eines solchen Verfahrens überhaupt eine Insolvenzanfechtung durch den Insolvenzverwalter nach § 130 Abs. 1 InsO erfolgt und erfolgreich sein wird (BFH-Urteil vom 11.11.2008 a. a. O.).

Zum gesetzlichen Fälligkeitszeitpunkt, dem 10.11.2017 (Freitag), hätte der Kläger deshalb die Lohnsteuerschuld des Beklagten durch Zahlung vollumfänglich erfüllen müssen mit der Konsequenz, dass der mit dem Haftungsbescheid geltend gemachte Schaden ausgeblieben wäre. Aus den vorstehenden Erwägungen können den Kläger auch insoweit etwaige hypothetische Kausalverläufe nicht entlasten und scheidet deren Berücksichtigung aus.

Das Gericht ist nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 96 Abs. 1 FGO) auch davon überzeugt, dass den Kläger hinsichtlich der gebotenen aber unterlassenen fälligkeitsgerechten Zahlung auch ein Verschulden trifft. Verschulden setzt Vorsatz (insoweit genügt auch bedingt vorsätzliches Tun oder Unterlassen) oder grobe Fahrlässigkeit voraus. Vorsatz setzt Wissen und Wollen der Haftungstatumstände voraus. Grob fahrlässig handelt dagegen, wer die Sorgfalt, zu der er nach den Umständen und seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und im Stande ist, in ungewöhnlich hohen Maße außer Acht lässt (BFH-Urteil vom 28.06.2005 I R 2/04, BFH/NV 2005, 2149, m. w. N.). Dazu gehört, dass er unbeachtet lässt, was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen, oder die einfachsten und naheliegenden Überlegungen nicht anstellt. Dabei indiziert die Pflichtwidrigkeit den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit (BFH-Urteile vom 13.03.2003 VII R 46/02, BStBl II 2003, 556; vom 11.11.2008 VII R 19/08, BStBl II 2009, 342). Vom Geschäftsführer einer GmbH wird die Erfüllung der steuerlichen Pflichten, insbesondere der turnusmäßigen Pflichten zur Abgabe von Voranmeldungen und Steuererklärungen sowie die Abführung der fälligen Steuern vorausgesetzt, so dass der Verstoß gegen diese Pflichten stets grob fahrlässig erscheint (vgl. auch FG Sachsen-Anhalt Urteil vom 24.11.2016 6 K 823/13, juris).

Im Streitfall liegt zumindest grob fahrlässiges Verhalten (Unterlassen) des Klägers im Hinblick auf die Verletzung der Abführungsverpflichtung der Lohn- und Annexsteuern zum Fälligkeitstag des 10.11.2017 (Freitag) vor. Aus den vom Gericht beigezogenen Insolvenzakten wird deutlich, dass dem Kläger auch bei Berücksichtigung seiner persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten hätte einleuchten müssen, dass die Nicht- bzw. verspätete Abführung der Lohnsteuer zu einem Steuerausfall bei dem Beklagten führen kann. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände des Streitfalles ist bedeutsam, dass der Kläger das Geschäftsführeramt bei der GmbH bereits seit mehreren Jahren innehatte. Angesichts dieser langen Zeitspanne dürfte es ihm kaum verborgen geblieben sein, dass die personal- und lohnintensive Geschäftstätigkeit der GmbH umfängliche monatliche Anmeldungs- und Abführungsverpflichtungen gegenüber den Sozialkassen und dem Betriebsstättenfinanzamt nach sich zieht. Deren laufende Einhaltung bzw. Überwachung machte deshalb einen wesentlichen Teil des Tätigkeitsfeldes des formellen Geschäftsführers aus. Zudem hatte die GmbH erkennbar ihre sozial- und steuerrechtlichen Pflichten fortlaufend nicht korrekt erfüllt, so dass kein einmaliges, sondern fortgesetztes Fehlverhalten des Klägers vorlag. Nach den mit den Beteiligten im Termin erörterten Feststellungen des Insolvenzverwalters betrafen die Insolvenzforderungen der Krankenkasse fortlaufende Zeiträume ab März 2017 (siehe Forderungsaufstellung zum Insolvenzantrag der Krankenkasse). Überdies waren über das Vermögen der GmbH bereits seit August 2015 wiederholt Insolvenzantragsverfahren seitens der Sozialkassen wegen rückständiger Sozialversicherungsbeiträge anhängig. Sämtliche Verfahren betrafen Zeiträume, in denen der Kläger das formelle Geschäftsführeramt durchgehend innehatte. Auch der Umstand, dass die Löhne der Beschäftigten für Oktober 2017 nicht vom Geschäftskonto der GmbH, sondern (wie der Kläger selbst einräumt) ausnahmslos bar geleistet wurden, lässt deutlich werden, dass eine Abwicklung der Lohnzahlungen über das Geschäftskonto der GmbH durch Vollstreckungs- bzw. Insolvenzmaßnahmen risikobehaftet schien, zumal die Liquiditätslage der GmbH bereits seit Anfang des Jahres 2015 schlecht war. Selbst wenn der Vortrag des Klägers zutreffen sollte, dass er die Lohnsteuer am 13.11.2017 (Montag) an das Finanzamt habe abführen wollen, vermag dies den subjektiven Schuldvorwurf nicht entfallen zu lassen. Denn die den Geschäftsführer obliegende Verpflichtung, für eine Abführung der Lohnsteuer zum gesetzlichen Fälligkeitszeitpunkt (§ 41a EStG) aus den von ihm verwalteten Mittel der Gesellschaft zu sorgen, dient nicht allein der Vermeidung eines durch verspätete Zahlung eintretenden Zinsausfalls, sondern sie soll auch die Erfüllung der Steuerschuld nach den rechtlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten zum Zeitpunkt ihrer Fälligkeit sicherstellen (siehe BFH-Urteil vom 11.11.2008 VII R 19/08, BStBl II 2009, 342).

Mit Erfolg kann der Kläger sich nicht darauf berufen, dass in Wahrheit E… die geschäftlichen Angelegenheiten der GmbH wahrgenommen habe. Angesichts der gravierenden wiederholten Verstöße gegen die Pflicht zur Tilgung der Verbindlichkeiten hätte der Kläger den E… nicht gewähren lassen dürfen. Vielmehr hätte er sich gegenüber E… durchsetzen müssen, um für eine pflichtgerechte Erfüllung seiner ihm obliegenden Geschäftsführerpflichten zu sorgen. Sollte er hierzu nicht in der Lage gewesen sein, hätte der Kläger sein Geschäftsführeramt niederlegen müssen. Keinesfalls durfte er im Rechtsverkehr den Eindruck erwecken, er sorge für eine ordnungsgemäße Abwicklung der Geschäfte (vgl. Rüsken in Klein, a.a.O., § 69 Rdnr. 35 m. w. N. zur BFH-Rechtsprechung).

Schließlich ist die Haftungsinanspruchnahme des Klägers auch ermessensgerecht.

Nach § 102 Satz 1 FGO kann eine Ermessensentscheidung des Beklagten durch das Gericht nur daraufhin überprüft werden, ob die in § 5 AO festgelegten gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Das Gericht ist nicht befugt, eine eigene Entscheidung an die Stelle der Entscheidung des Beklagten zu setzen.

Das gilt zunächst für das Entschließungsermessen. Wegen der dem Steuergläubiger im öffentlichen Interesse obliegenden Aufgabe, die geschuldeten Abgaben nach Möglichkeit zu erheben, kann der Erlass eines Haftungsbescheids bei Uneinbringbarkeit der Steuerschuld nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen ermessensfehlerhaft sein. Solche Umstände sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Auch die Ausübung des Auswahlermessens begegnet keinen Zweifeln. Der Beklagte hat sich mit Erlass der Einspruchsentscheidung – und damit (noch) rechtzeitig – auch mit einer Haftungsinanspruchnahme des E… als faktischen Geschäftsführer befasst und dessen Inanspruchnahme ebenfalls durch einen gleichlautenden Haftungsbescheid durchgeführt. Weitere potenzielle Haftungsschuldner sind nicht ersichtlich und waren vom Beklagten bei seiner Entscheidung nicht zu berücksichtigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.