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Entscheidung 21 Qs 30/21


Metadaten

Gericht LG Frankfurt (Oder) 1. Strafkammer Entscheidungsdatum 19.10.2021
Aktenzeichen 21 Qs 30/21 ECLI ECLI:DE:LGFRANK:2021:1019.21QS30.21.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Rechtsanwalts Sch... vom 09.08.2021 wird der Beschluss des Amtsgerichts Str... vom 29.07.2021 aufgehoben.

2. Rechtsanwalt Sch... aus Berlin wird dem Angeklagten M... zum Pflichtverteidiger bestellt.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

I.

Der Angeklagte beantragte über Rechtsanwalt Sch... mit Schriftsatz vom 08.07.2021 (Bl. 78 d. A.) dessen Beiordnung als Pflichtverteidiger. Rechtsanwalt Sch... führte als Begründung aus, dass der Angeklagte zum einen der deutschen Sprache nicht mächtig und zum anderen in seiner Muttersprache Analphabet sei. Er sei daher nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Zudem trug er zu einer weiteren gesamtstrafenfähigen Verurteilung vor.

Daraufhin wurde mit Beschluss vom 29.07.2021 das Verfahren gegen den Angeklagten nach § 154 StPO eingestellt (Bl. 90 d. A.).

Darüber hinaus lehnte das Amtsgericht mit Beschluss vom selben Tage die beantragte Pflichtverteidigerbestellung ab (Bl. 91 d. A.). Weder die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 StPO lägen vor, noch sei eine Beiordnung wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage erforderlich. Auch sei nicht ersichtlich, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen könne. Ihm könne zur Hauptverhandlung ein Dolmetscher bestellt werden.

Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde vom 09.08.2021 (Bl. 112 d. A.) des Angeklagten. Das Amtsgericht habe übersehen, dass der Angeklagte nicht nur der deutschen Sprache nicht mächtig, sondern auch primärer Analphabet in seiner Muttersprache sei.

Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde zu verwerfen (Bl. 120 d. A.).

II.

Die nach § 142 Abs. 7 StPO zulässige sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung zum Pflichtverteidiger ist begründet.

Die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO sind vorliegend erfüllt. Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor.

Nach § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung u.a. dann vor, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.

Die Verteidigung ist notwendig, wenn zu bezweifeln ist, dass der Beschuldigte seine Interessen selbst wahren und inner- und außerhalb der Hauptverhandlung alle zur Verteidigung erforderlichen Handlungen selbst vornehmen kann. Zweifel können aufgrund seiner individuellen Fähigkeiten oder Einschränkungen aufgrund einer speziellen Situation bestehen. Die Möglichkeit, der Verhandlung zu folgen und sich sachgemäß zu äußern, schließt die Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit nicht aus, da Verteidigung mehr beinhaltet. Eine gänzliche Verteidigungsunfähigkeit muss für die Annahme der Bestellungsvoraussetzungen nicht vorliegen. Die Verteidigungsfähigkeit ist auch durch fehlende Sprachbeherrschung bzw. fehlende oder eingeschränkte Lese- und Schreibfähigkeiten eingeschränkt. Dabei kommt es nicht nur auf die Verteidigung in der mündlichen Hauptverhandlung, sondern auch auf vorherige Verfahrensstadien und die Vorbereitung der Hauptverhandlung an. Die Sprachkenntnisse müssen nicht nur ausreichen, zu verstehen und sich zu äußern, sondern auch zur sachgerechten Verteidigung (vgl. Thomas/Kämper in Münchener Kommentar zur StPO, 1. Auflage 2014, StPO § 140 Rn. 47, 51).

Ausweislich der Akten verfügte der Angeklagte über keine Deutschkenntnisse. Zudem kann er nach dem glaubhaften Vortrag des Rechtsanwalts Sch... nicht lesen und schreiben, er ist primärer Analphabet.

Hierdurch aber war nicht sicher gewährleistet, dass der Angeklagte der Verhandlung hätte folgen und seine Interessen hätte wahren können (vgl. OLG K…, Beschluss vom 28.06.2005 – 2 Ws 166/05 – in BeckRS 2005, 9352 Rn. 2). Auch wenn es sich vorliegend, wie vom Amtsgericht zutreffend festgestellt, um einen zunächst einfach gelagerten Sachverhalt handelte und allein die Tatsache, dass der Angeklagte der deutschen Sprache nicht mächtig ist, eine Beiordnung aufgrund der Möglichkeit der Dolmetscherbestellung nicht rechtfertigt, ist aufgrund des bestehenden Analphabetismus bei dem Angeklagten davon auszugehen, dass er sich nicht hätte selbst verteidigen können. Das ist bei bestehendem Analphabetismus bereits aufgrund der fehlenden Möglichkeit, vom Akteninhalt Kenntnis zu nehmen, nicht gegeben, wobei die Kammer hierbei anmerkt, dass es nicht darauf ankommt, ob eine Akteneinsicht durch den Angeklagten deshalb ausscheiden würde, weil ihm die Akte nicht zur Einsichtnahme zur Verfügung gestellt werden kann, oder dies zwar möglich, aber es – wie vorliegend – dem Angeklagten auf Grund des Analphabetismus nicht möglich ist, den Akteninhalt mit zumutbaren Aufwand selbst zu erfassen (vgl. LG H…, Beschluss vom 09.11.2007 – 12 Qs 57/07 – in NJW 2008, 454).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 464, 467 StPO.