Gericht | LArbG Berlin-Brandenburg 21. Kammer | Entscheidungsdatum | 07.10.2021 | |
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Aktenzeichen | 21 Sa 551/21 | ECLI | ECLI:DE:LAGBEBB:2021:1007.21SA551.21.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 133 BGB, § 241 Abs 2 BGB, § 626 BGB, § 1 KSchG |
1. Kündigt ein oder eine Arbeitgeber*in außerordentlich, hilfsweise ordentlich, ist der Kündigungsschutzantrag, auch wenn er nur die außerordentliche Kündigung ausdrücklich benennt, dahin auszulegen, dass er auch die hilfsweise ordentliche
Kündigung umfasst, wenn das Kündigungsschreiben der Klage beigefügt ist, neben dem Kündigungsschutzantrag ein allgemeiner Feststellungsantrag wegen der Gefahr weiterer Kündigungen sowie ein Antrag auf vorläufige Weiterbeschäftigung angekündigt ist und auch sonst nichts dafür spricht, dass die klagende Partei die hilfsweise ordentliche Kündigung hinnimmt.
2. Arbeitnehmer*innen sind nicht verpflichtet, gegen ihren Willen an der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses mitzuwirken, indem sie ihnen gegenüber erhobene Vorwürfe einzuräumen. Hingegen verletzten sie ihre arbeitsvertragliche
Rücksichtnahmepflicht (§ 241 Abs. 2 BGB), wenn sie die Vorwürfe nicht nur abstreiten oder leugnen, sondern den oder die Arbeitgeber*in darüber hinaus durch weitergehende Falschinformationen gezielt in die Irre führen.
3. Zur Interessenabwägung im Einzelfall
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Eberswalde vom 15. Februar 2021 - 2 Ca 668/20 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
II. Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit der Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses durch die Beklagte und über einen Anspruch der Klägerin auf vorläufige Weiterbeschäftigung.
Die am …. 1966 geborene Klägerin absolvierte bei der Beklagten, die regelmäßig weit mehr als zehn Arbeitnehmer*innen beschäftigt, in deren Stadtbibliothek vom 1. September 1983 bis zum 15. Juli 1985 eine Ausbildung zur Bibliotheksfacharbeiterin. Im Anschluss an die Ausbildung war sie dort als Bibliotheksfacharbeiterin tätig und wurde mit Schreiben vom 15. Oktober 1986 zum bibliothekarischen Direktstudium delegiert. Seit dem 1. September 1990 ist sie nach erfolgreichem Studium als Bibliothekarin wieder in der Stadtbibliothek der Beklagten tätig und verdiente zuletzt 3.800,00 Euro brutto monatlich. Im zuletzt geschlossenen Arbeitsvertrag der Parteien vom 28. Juni 1991 (Blatt 72 f. (folgende) der Akte), in dem unter anderem der Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts - Manteltarifliche Vorschriften - (BAT-O) in Bezug genommen ist, heißt es, der Arbeitsvertrag löse den Arbeitsvertrag vom 1. September 1983 ab.
Zum 1. September 2019 erhielt die Stadtbibliothek eine neue Leiterin. Die Klägerin hatte in ihrem Büro einen privaten Kühlschrank, der auf einem Unterschrank/Sockel stand. Auf Anweisung der neuen Bibliotheksleiterin musste die Klägerin diesen Kühlschrank im September 2020 entfernen. Am Freitag, den 25. September 2020, lud der Sohn der Klägerin den Kühlschrank einschließlich des Unterschranks/Sockels im Beisein der Klägerin in deren Auto und transportierte beide Gegenstände zur Klägerin nach Hause. Ob es sich bei dem Unterschrank/Sockel um einen privates Möbel der Klägerin handelt oder um den Präsentationsockel der Stadtbibliothek, der bis 2017 im Eingangsbereich der Bibliothek als Unterbau für ein Kunstwerk verwendet wurde, ist zwischen den Parteien streitig. Am darauffolgenden Montag, dem 28. September 2020, sprach die Bibliotheksleiterin die Klägerin auf den abtransportierten Sockel an. Die Klägerin erklärte, es handele sich um ihren privaten Sockel, den sie für den Kühlschrank benötige und deshalb mitgenommen habe. Gegen 17.00 Uhr desselben Tages wurde die Klägerin in ihrem Auto mit einem jungen Mann aus der Richtung der Rückseite der Bibliothek kommend gesehen. Am 29. September 2020 befand sich der Präsentationssockel im Keller der Bibliothek.
Am 2. Oktober 2020 hörte der Personalleiter der Beklagten die Klägerin in Anwesenheit der Bibliotheksleiterin, einer weiteren Mitarbeiterin und des Vorsitzenden des Personalrats zu dem Vorfall an. Die Bibliotheksleiterin wies die Klägerin darauf hin bzw. forderte sie auf, die Wahrheit zu sagen. Die Klägerin blieb dabei, dass es sich bei dem abtransportierten Sockel um ihren privaten Sockel handele. Wo sich der Präsentationsockel befinde, wisse sie nicht. Am 28. September 2020 sei sie bei ihren Eltern gewesen, die neben der Bibliothek wohnten. Ebenfalls am 2. Oktober 2020 wurde mit dem Präsentationssockel im Büro der Klägerin eine Stellprobe durchgeführt. Die Klägerin blieb weiter dabei, dass es sich bei dem Sockel unter ihrem Kühlschrank um ihren eigenen Sockel gehandelt habe. Am 4. Oktober 2020 übersandte die Klägerin der Beklagten ein Foto (Blatt 60 der Akten). Ein von der Beklagten initiiertes staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren wurde am 21. Januar 2021 wegen Geringfügigkeit nach § 153 Absatz 1 StPO (Strafprozessordnung) eingestellt.
Mit Schreiben vom 9. Oktober 2020 (Blatt 10 ff. (fortfolgende) der Akten), welches der Klägerin an demselben Tag zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin außerordentlich mit sofortiger Wirkung und für den Fall der Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung hilfsweise ordentlich zum 30. Juni 2021. Hiergegen hat sich die Klägerin mit der am 22. Oktober 2020 beim Arbeitsgericht Eberswalde eingegangenen, der Beklagten vor dem 30. Oktober 2020 zugestellten Klage gewandt und unter Beifügung des Kündigungsschreibens folgende Anträge angekündigt:
1. Es wird festgestellt, dass das Anstellungsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 9. Oktober 2020 nicht zum 9. Oktober 2020 geendet hat.
2. Es wird festgestellt, dass das Anstellungsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingungen über den 9. Oktober 2020 hinaus fortbesteht.
3. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin bis zur rechtskräftigen Beendigung des vorliegenden Rechtsstreits zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiter zu beschäftigten.
Die Klägerin hat vorgetragen, sie sei seit 37 Jahren bei der Beklagten beschäftigt, ohne dass es ernsthafte Beanstandungen ihrer Arbeit gegeben habe. Allerdings gebe es Spannungen mit der neuen Leiterin. Seit diese die Leitung übernommen habe, komme es vermehrt zu Schikanen und unbegründeten Vorwürfen ihr gegenüber. Die Leiterin setzte alles daran, sie loszuwerden. Die der Kündigung zugrunde liegenden Vorwürfe seien unbegründet. Der Unterschrank, auf dem der Kühlschrank jahrelang in ihrem Büro gestanden habe, sei ihr Eigentum. Dass eine andere Mitarbeiterin vom dritten Stockwerk aus den Unterschrank, den sie zusammen mit ihrem Sohn in ihr Auto geladen habe, als den Präsentationssockel der Bibliothek erkannt haben solle, sei auch schon deshalb höchst zweifelhaft, weil diese Mitarbeiterin zum damaligen Zeitpunkt an einem Auge an einem „grauen Star“ und am anderen Augen an einem „beginnenden grauen Star“ gelitten habe. Auch sei der Vorwurf, sie habe den Präsentationssockel entwendet, ihr gegenüber erst am 2. Oktober 2020 erhoben worden. Wann und wie der Präsentationssockel in den Keller gelangt sei, wisse sie nicht. Im Übrigen sei der Sockel völlig wertlos und werde von niemandem vermisst. Vermutlich stehe er weiterhin im Keller. Während des Anhörungsgesprächs am 2. Oktober 2020 habe die Bibliotheksleiterin vehement von ihr gefordert, doch endlich die Wahrheit zu sagen. Dies habe sie weniger als Hinweis als als Drohung aufgenommen. Die Kündigung sei außerdem unverhältnismäßig.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht am 15. Februar 2021 hat die Klägerin den allgemeinen Feststellungsantrag zurückgenommen und im Übrigen beantragt,
1. festzustellen, dass das Anstellungsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 9. Oktober 2020 nicht geendet hat;
2. die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin bis zur rechtskräftigen Beendigung des vorliegenden Rechtsstreits zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiter zu beschäftigten.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Im weiteren Verlauf der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte der Klägerin zur vergleichsweisen Beilegung des Rechtsstreits die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum 31. Dezember 2021 bei gleichzeitiger Freistellung unter Fortzahlung der Vergütung sowie die Zahlung einer Abfindung in Höhe von 15.000,00 Euro angeboten.
Die Beklagte hat behauptet, der Präsentationsockel sei, nachdem er 2017 im Eingangsbereich nicht mehr benötigt worden sei, von dort verschwunden und habe seitdem im Büro der Klägerin als Unterbau für ihren privaten Kühlschrank gestanden. Eine Mitarbeiterin habe beobachtet, wie der Sohn der Klägerin den Sockel am 25. September 2020 gegen 15.00 Uhr in deren Beisein in ihr Auto eingeladen habe, und noch am selben Tag die Bibliotheksleiterin informiert. Daraufhin habe sich die Bibliotheksleiterin vergewissert, dass sich der Sockel weder im Büro der Klägerin noch im Keller des Bibliothekgebäudes befunden habe, und im Keller zu Beweiszwecken ein Foto gefertigt. Am darauffolgenden Montag, dem 28. September 2020, sei die Bibliotheksleiterin zusammen mit der Mitarbeiterin wiederholt im Keller gewesen, ohne den Sockel dort vorzufinden. Am 29. September 2020 habe sie den Sockel an einer Stelle im Keller vorgefunden, die zuvor leer gewesen sei. Am 1. Oktober 2020 seien Reste von Klebefilz, wie er in den Ecken des Präsentationssockels angebracht gewesen sei, und auffällige Abdrücke auf dem Linoleumboden im Büro der Klägerin festgestellt worden. Auch die Stellprobe am 2. Oktober 2020 um 10.40 Uhr habe ergeben, dass es sich bei dem Sockel unter dem Kühlschrank der Klägerin um den Präsentationssockel gehandelt haben müsse. Zwar habe die Klägerin die Schmutzreste mit einem Küchenpapiertuch zwischenzeitlich weitgehend entfernt, jedoch seien die Standspuren sowohl auf dem Linoleumboden als auch an der Wand noch deutlich erkennbar gewesen und hätten genau zu dem Präsentationssockel gepasst. Wegen der Einzelheiten wird auf die von der Beklagten eingereichten Fotos (Blatt 53 ff. (fortfolgende) der Akte) verwiesen. Der Sockel auf dem von der Klägerin übersandten Foto habe andere Maße gehabt. Auch der auf dem Foto abgebildete Kühlschrank sei nicht der Kühlschrank, der bis zum 25. September 2020 im Büro der Klägerin gestanden habe.
Die Beklagte hat gemeint, durch das Verhalten der Klägerin und ihr ständiges Leugnen sei das Vertrauensverhältnis endgültig zerstört. Die Klägerin habe den Präsentationssockel nicht nur heimlich zu privaten Zwecken mitgenommen und heimlich wieder zurückgebracht, sondern darüber hinaus auch fortgesetzt gelogen und versucht, die Spuren auf dem Linoleumboden in ihrem Büro heimlich zu beseitigen. Der Vertrauensverlust wiege umso schwerer, als ihr wiederholt die Möglichkeit geboten worden sei, ihre wahrheitswidrigen Behauptungen zu berichtigen. In Anbetracht ihrer, der Beklagten, Aufklärungsbestrebungen habe die Klägerin auch nicht ansatzweise davon ausgehen können, dass sie, die Beklagte, die Pflichtverletzungen tolerieren werde. Eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei ihr, der Beklagten, auch unter Beachtung der sozialen Daten nicht, auch nicht bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar. Unabhängig davon sei die Klägerin nicht seit 37 Jahren, sondern erst seit 30 Jahren bei ihr beschäftigt. Während der Dauer des Studiums habe kein Arbeitsverhältnis bestanden. Das Arbeitsverhältnis sei auch nicht frei von Beanstandungen gewesen. Allein im Jahr 2020 hätten mit der Klägerin wiederholt Gespräche wegen ihres unangebrachten Verhaltens geführt werden müssen. Gegenstand der Gespräche seien ein respektloses Verhalten der Klägerin gegenüber ihrer Vorgesetzten und anderen Beschäftigten der Stadtbibliothek sowie die nicht rechtzeitige Bearbeitung von Rechnungen gewesen.
Wegen des weiteren erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Mit Urteil vom 15. Februar 2021 hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass das Anstellungsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 9. Oktober 2020 weder zum 9. Oktober 2020 noch unter Einhaltung der Kündigungsfrist zum 30. Juni 2021 geendet hat bzw. enden wird, und die Beklagte zur vorläufigen Weiterbeschäftigung der Klägerin verurteilt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, nach dem in den Klageanträgen zum Ausdruck gekommenen Begehren sei die Klage so zu deuten, dass es der Klägerin von Anfang an um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes gegangen sei und sich die Klage gegen die Kündigung als solche und nicht nur gegen die außerordentliche Kündigung gerichtet habe. Dem stehe auch die Rücknahme des allgemeinen Feststellungsantrages nicht entgegen, da sich dieser nur auf andere Beendigungstatbestände bezogen habe, die es aber nicht gegeben habe. Dass auch die Beklagte das Klagebegehren so verstanden habe, sei durch das Vergleichsangebot deutlich geworden.
Das Arbeitsverhältnis sei durch die außerordentliche Kündigung nicht aufgelöst worden. Auch wenn die Kündigungsvorwürfe tatsächlich zutreffend wären, sei der Beklagten aufgrund der vorzunehmenden Interessenabwägung die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses trotz der eingetretenen Vertrauensstörung zumindest bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar. Eine Wiederholungsgefahr bestehe nicht. Auch seien die wirtschaftlichen Folgen denkbar gering, da es sich bei dem sogenannten Präsentationssockel um eine grob zusammengezimmerte Kiste aus Pressspanplatten handele, die keine Verwendung mehr gefunden habe. Die Beklagte habe auch nie gegenüber der Klägerin zum Ausdruck gebracht, dass sie noch Wert auf den Sockel legte. Es wäre deshalb angebracht gewesen, die Klägerin darauf hinzuweisen, dass an dem Sockel durchaus noch ein Interesse bestehe, und sie zu bitten, den Sockel zurückzubringen. Vermutlich wäre es - so das Arbeitsgericht weiter - zu der Konfrontation mit der Klägerin überhaupt nicht gekommen, wenn die Personalleitung, der das schlechte Verhältnis zwischen der neuen Bibliotheksleiterin und der Klägerin bekannt gewesen sei, mit dem Vorgang sensibler umgegangen wäre. Die Tat sei auch nicht besonders verwerflich und das Verschulden der Klägerin gering, da sie habe annehmen können, dass an der Kiste kein Interesse mehr bestanden habe. Sie habe sich auch richtig verhalten, indem sie, nachdem sie von ihrem Irrtum erfahren habe, den Sockel sofort zurückgebracht habe. Falsch sei gewesen, dass sie auf die wiederholte Nachfrage der Beklagten nicht sofort zugegeben habe, dass sie den Sockel mitgenommen habe, ohne zu ahnen, dass die Beklagte daran noch Interesse zeige. Dieses Leugnen sei zwar geeignet, das Vertrauen der Beklagten in die Ehrlichkeit der Klägerin einzutrüben, aber nicht geeignet, dieses soweit zu erschüttern, dass es nicht wiederhergestellt werden könne. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin seit 37 Jahren bei der Beklagten beschäftigt gewesen sei und es zuvor nie einen vergleichbaren Vorfall gegeben habe. Durch die Delegierung zum Studium sei das bestehende Arbeitsverhältnis nicht beendet worden. Ein über einen so langen Zeitraum aufgebautes Vertrauensverhältnis könne durch eine einmalige geringfügige Pflichtverletzung nicht endgültig zerstört werden. Außerdem sei die Klägerin in einem Alter, in dem es nicht leicht sei, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Auch Spannungen im Team seien kein Grund, einer langjährig beschäftigten Arbeitnehmerin bei der erstbesten Gelegenheit zu kündigen. Die hilfsweise ordentliche Kündigung sei mangels einer vorherigen Abmahnung ebenfalls unwirksam. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils (Blatt 97 - 101 der Akte) verwiesen.
Gegen dieses der Beklagten am 18. März 2021 zugestellte Urteil richtet sich die am 12. April 2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangene Berufung der Beklagten, welche sie mit am 11. Mai 2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz begründet hat.
Die Beklagte setzt sich - unter teilweiser Wiederholung und teilweiser Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens - mit dem angefochtenen Urteil auseinander. Entgegen der Deutung des Arbeitsgerichts habe die Klägerin innerhalb der Frist des § 4 KSchG (Kündigungsschutzgesetz) nur die außerordentliche Kündigung angegriffen. Zumindest könne nicht davon ausgegangen werden, dass die ordentliche Kündigung auch dann noch Streitgegenstand gewesen sei, nachdem die Klägerin den allgemeinen Feststellungsantrag zurückgenommen habe. Aus dem Vergleichsangebot könnten keine Rückschlüsse gezogen werden. Dieses habe sich am langen Bestand des Arbeitsverhältnisses und nicht an etwaigen Kündigungsfristen orientiert. In der Sache gehe es nicht nur um den Diebstahl, sondern gerade auch um das durchgehende Leugnen der Tat. Dieses habe zu einem so großen Vertrauensverlust geführt, dass ihr, der Beklagten, die Fortführung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar sei. Aber auch im Übrigen seien die Wertungen des Arbeitsgerichts unzutreffend. Selbst wenn die Klägerin den Sockel im Abfall gefunden hätte, sei sie nicht berechtigt gewesen, diesen ohne ihre, der Beklagten, Zustimmung mitzunehmen. Das schlechte Verhältnis zwischen der Klägerin und der Leiterin der Bibliothek gehe allein auf die Klägerin zurück. Auch habe die Klägerin den Betriebsfrieden schon vor dem Leitungswechsel erheblich gestört. Es habe wegen des Verhaltens der Klägerin ein Klima der Angst geherrscht, wovon sie, die Beklagte, jedoch keine Kenntnis gehabt habe. Erst, nachdem die neue Leiterin ihre Tätigkeit in der Bibliothek aufgenommen habe und die Beschäftigten sich wegen des Verhaltens der Klägerin vertrauensvoll an diese gewandt hätten, habe sie, die Beklagte, von den groben (Neben)pflichtverletzungen der Klägerin erfahren und mit der Klägerin Gespräche geführt. Diese Vorwürfe habe die Klägerin ebenfalls geleugnet. Das zeige, dass es sich um ein Muster handele, welches sich im vorliegenden Fall lediglich widerspiegele.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Eberswalde vom 15. Februar 2021 - 2 Ca 668/20 - abzuändern und die Klage abzuweisen
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt - unter teilweiser Wiederholung und teilweiser Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens - das angefochtene Urteil. Sie habe mit der Klage sowohl die außerordentliche als auch die hilfsweise ordentliche Kündigung angegriffen. Da es bei dem angeblichen Grund für die Kündigung sowohl tatsächlich als auch rechtlich um einen einheitlichen Tatbestand gehe, habe es keines gesonderten Antrages bedurft. Das Abstreiten des Kündigungsvorwurfs könne der Klägerin nicht vorgeworfen werden, da sich auch im arbeitsrechtlichen Verfahren niemand selbst belasten müsse. Weiter hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 7. Oktober 2021 vorgetragen, der Konflikt mit der Bibliotheksleiterin hinge damit zusammen, dass sie, die Klägerin, sich über Anordnungen der Bibliotheksleiterin mehrfach kritisch geäußert habe. Die Bibliotheksleiterin reagiere auf Vorschläge und Kritik aus dem Team ablehnend und erwarte, dass ihre Entscheidungen unhinterfragt befolgt werden.
Wegen des weiteren zweitinstanzlichen Vorbringens der Parteien, wird auf den Schriftsatz der Beklagten vom 11. Mai 2021 (Blatt 118 - 124 der Akte) und den Schriftsatz der Klägerin vom 30. Juni 2021 (Blatt 128 - 130 der Akte) verwiesen.
Die Berufung hat keinen Erfolg.
I. Die Berufung ist zulässig. Sie ist nach § 64 Absatz 1 und 2 Buchstabe b und c ArbGG (Arbeitsgerichtsgesetz) statthaft sowie form- und fristgerecht im Sinne von § 66 Absatz 1 Satz 1 und 2 ArbGG, §§ 519, 520 Absatz 1 und 3 ZPO (Zivilprozessordnung) eingelegt und begründet worden.
II. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat zurecht festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche, noch durch die hilfsweise ordentliche Kündigung der Beklagten vom 9. Oktober 2020 aufgelöst worden ist, und die Beklagte zur vorläufigen Weiterbeschäftigung der Klägerin verurteilt.
1. Der Kündigungsschutzklage ist zulässig und begründet. Sie ist rechtzeitig innerhalb der Frist der §§ 4, 13 Absatz 1 Satz 2 KSchG in Verbindung mit § 167 ZPO erhoben worden und auch im Übrigen begründet.
a) Entgegen der Ansicht der Beklagten war von Anfang an nicht nur die außerordentliche, sondern auch die hilfsweise für den Fall der Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung ausgesprochene ordentliche Kündigung der Beklagten vom 9. Oktober 2020 Gegenstand der Klage. Daran hat sich auch nichts durch die Rücknahme des allgemeinen Feststellungsantrages in der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht am 15. Februar 2021 geändert. Dies ergibt sich aus der Auslegung der in der Klageschrift angekündigten Anträge.
aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sind für die Auslegung von Klageanträgen und sonstigen Prozesserklärungen die für Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts entwickelten Grundsätze maßgeblich. Entsprechend § 133 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) ist nicht am buchstäblichen Sinn des in der Prozesserklärung gewählten Ausdrucks zu haften, sondern der in der Erklärung verkörperte Wille zu ermitteln. Im Zweifel sind Prozesserklärungen dahin auszulegen, dass das gewollt ist, was aus der Sicht der erklärenden Partei nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und ihrer wohlverstandenen Interessenlage entspricht. Dabei sind die schutzwürdigen Belange der gegnerischen Partei, an die die Erklärung gerichtet ist, zu berücksichtigen (vergleiche BAG (Bundesarbeitsgericht) 25. März 2021 - 8 AZR 120/20 - Rn. (Randnummer) 43; BAG 24. Februar 2021 - 10 AZR 8/19 - Rn. 15, jeweils mwN (mit weiteren Nachweisen)). Die Grenzen der Auslegung oder auch der Umdeutung eines Klageantrags sind dann erreicht, wenn eine klagende Partei unmissverständlich ein bestimmtes Prozessziel verfolgt, auch wenn dieses Vorgehen ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse widerspricht (vergleiche BAG 15. Juni 2021 - 9 AZR 217/20 - Rn. 29 mwN).
bb) Danach hat sich die Klägerin mit dem angekündigten Kündigungsschutzantrag (Klageantrag zu 1.) erkennbar nicht nur gegen die außerordentliche, sondern auch gegen die ordentliche Kündigung gewandt.
(1) Zwar bezieht sich der Antrag „Es wird festgestellt, dass das Anstellungsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 09.10.2020 nicht zum 09.01.2020 beendet ist“ nach seinem Wortlaut nur auf die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 9. Oktober 2020. Allerdings hatte die Klägerin der Klageschrift das Kündigungsschreiben, dass auch die hilfsweise ordentliche Kündigung enthält, beigefügt und in Klagebegründung an keiner Stelle zum Ausdruck gebracht, dass sie bereit sei, die ordentliche Kündigung zu akzeptieren. Schon dies spricht dafür, dass sich die Klägerin gegen beide Kündigungen zur Wehr setzen wollte. Zudem hatte die Beklagte die ordentliche Kündigung nur hilfsweise für den Fall der Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung ausgesprochen. Angesichts dessen lag es nicht ganz fern, in einem Klageantrag lediglich die vorrangig ausgesprochene außerordentliche Kündigung ausdrücklich zu benennen, ohne dass damit das wirkliche Klagebegehren notwendigerweise auf die außerordentliche Kündigung beschränkt wäre und sich nicht auch gegen die ordentliche Kündigung richten könnte (vergleiche dazu BAG 11. Juli 2013 - 2 AZR 597/12 - Rn. 18).
(2) Dass eine solche Einschränkung des vom dem Antrag umfassten Klagebegehrens nicht gewollt war, wird auch durch die weiteren angekündigten Anträge deutlich.
(a) Zum einen hat die Klägerin einen allgemeinen Feststellungsantrag „Es wird festgestellt, dass das Anstellungsverhältnis zwischen den Parteien auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingungen über den 9. Oktober 2020 hinaus fortbesteht“ angekündigt und dazu ausgeführt, andere mögliche Beendigungstatbestande außer der mit dem Klageantrag zu 1. angegriffenen Kündigung seien ihr zurzeit nicht bekannt. Es bestehe jedoch die Gefahr, dass die Beklagte im Verlauf des Verfahrens weitere Kündigungen aussprechen könnte. Damit hat die Klägerin zum Ausdruck gebracht, dass sie in jedem Fall an dem Arbeitsverhältnis festhalten will. Außerdem macht ein solcher, auch als sogenannter Schleppnetzantrag bezeichneter allgemeiner Feststellungsantrag wenig Sinn, wenn das Arbeitsverhältnis mit dem Ablauf der Kündigungsfrist ohnehin endet. Zwar ist es theoretisch möglich, dass die Klägerin mit dem Antrag lediglich der Gefahr einer weiteren außerordentlichen Kündigung vor dem Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist begegnen wollte. In diesem Fall hätte es jedoch nahegelegen, dies deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Zudem lässt die Begründung des Antrags, ihr sei zurzeit nur die mit dem Klageantrag 1. angegriffene Kündigung bekannt, erkennen, dass sie davon ausging, von dem Klageantrag zu 1. sei die Kündigung vom 9. Oktober 2020 als solche und nicht etwa nur die außerordentliche Kündigung erfasst.
(b) Zum anderen hat die Klägerin einen Antrag auf vorläufige Weiterbeschäftigung angekündigt, was ebenfalls darauf hindeutet, dass sie an dem Arbeitsverhältnis festhalten will. Zwar hat die Prozessbevollmächtigte der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht zu Recht darauf hingewiesen, dass der Antrag auf vorläufige Weiterbeschäftigung auch dann einen Sinn geben könne, wenn die Klägerin mit der Klage nur die außerordentliche Kündigung angegriffen habe, da die erstinstanzliche Entscheidung noch vor dem Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist ergangen sei. Jedoch dürfte das Interesse einer klagende Partei, deren Arbeitsverhältnis ohnehin in absehbarer Zeit endet und die sich deshalb umorientieren muss, an einer vorläufigen Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist eher gering sein. Zumindest wäre es in diesem Fall naheliegend gewesen, den Weiterbeschäftigungsantrag auf die Zeit bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zu beschränken.
(3) Schutzwürdige Belange der Beklagten werden durch diese Auslegung des Klageantrages zu 1. nicht berührt. Zum einen spricht alles dafür, dass die Beklagte - auch wenn sie dies im Berufungsverfahren nicht mehr wahrhaben will - selbst davon ausgegangen ist, dass sich der in der mündliche Verhandlung gestellte Kündigungsschutzantrag sowohl gegen die außerordentliche als auch gegen die ordentliche Kündigung richtet. Denn andernfalls hätte sie - jedenfalls, nachdem die Klägerin den allgemeinen Feststellungsantrag zurückgenommen hatte - keine Veranlassung gehabt, der Klägerin eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist hinaus anzubieten. Es hätte vielmehr genügt, sich mit der Klägerin auf einen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zu verständigen. Zum anderen konnte die Beklagte in Anbetracht der langjährigen Dauer des Arbeitsverhältnisses, des Lebensalters der Klägerin und als eher gering einzuschätzenden anderweitigen gleichwertigen Beschäftigungschancen nicht ernsthaft damit rechnen, dass die Klägerin die hilfsweise ordentliche Kündigung unwidersprochen hinnimmt. Es ist auch nicht ersichtlich und hat die Beklagte auch nicht behauptet, dass sie im Vertrauen auf die Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung irgendwelche Dispositionen getroffen hat.
b) Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist weder durch die außerordentliche, noch durch die hilfsweise ordentliche Kündigung vom 9. Oktober 2020 aufgelöst worden. Die Kündigungen sind unwirksam. Hinreichende Gründe für die soziale Rechtfertigung einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung im Sinne des § 1 Absatz 2 KSchG liegen nicht vor. Daher fehlt es erst recht an den Voraussetzungen für eine außerordentliche fristlose Kündigung im Sinne des § 626 Absatz 1 BGB.
aa) Eine Kündigung ist im Sinne von § 1 Absatz 2 Satz 1 KSchG durch Gründe im Verhalten des oder der Arbeitnehmer*in bedingt und damit sozial gerechtfertigt, wenn der oder die Arbeitnehmer*in vertragliche Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat, eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht und dem oder der Arbeitgeber*in eine Weiterbeschäftigung des oder der Arbeitnehmer*in über die Kündigungsfrist hinaus in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile nicht zumutbar ist. Auch eine erhebliche Verletzung der nach § 241 Absatz 2 BGB bestehenden Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des oder der Arbeitgeber*in kann eine ordentliche Kündigung rechtfertigen. Eine Kündigung scheidet dagegen aus, wenn schon mildere Mittel und Reaktionen seitens des oder der Arbeitgeber*in - wie etwa eine Abmahnung - geeignet gewesen wären, bei dem oder der Arbeitnehmer*in künftige Vertragstreue zu bewirken. Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Absatz 2 in Verbindung mit § 323 Absatz 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits vorher erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung auch nach Ausspruch einer Abmahnung nicht zu erwarten oder die Pflichtverletzung so schwerwiegend ist, dass selbst deren erstmalige Hinnahme durch den oder die Arbeitgeber*in nach objektiven Maßstäben unzumutbar und offensichtlich - auch für den oder die Arbeitnehmer*in erkennbar - ausgeschlossen ist (vergleiche zum Ganzen BAG vom 5. Dezember 2019 - 2 AZR 240/19 - Rn. 75 mwN).
Für die Frage, ob das Verhalten des oder der Arbeitnehmer*in im Sinne des § 1 Absatz 2 Satz 1 KSchG eine Kündigung „bedingt", gilt ein objektiver Maßstab. Maßgeblich ist nicht, ob der oder die Arbeitgeber*in auf seiner oder ihrer subjektiven Sicht meint, ihm oder ihr sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten, und ob er oder sie weiterhin hinreichendes Vertrauen in einen oder eine Arbeitnehmer*in hat. Es kommt vielmehr darauf an, ob dem oder der Kündigenden die Weiterbeschäftigung auch über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus aus der Sicht eines oder einer objektiven und verständigen Betrachter*in unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbar ist oder nicht (vergleiche BAG 19. November 2015 - 2 AZR 217/15 - Rn. 34 mwN).
Dabei lassen sich die Umstände, die in die Interessenabwägung einzubeziehen sind, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des oder der Arbeitnehmer*in, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf (vergleiche zur außerordentlichen Kündigung BAG 13. Dezember 2018 - 2 AZR 370/18 - Rn. 29; BAG 22. Oktober 2015 - 2 AZR 569/14 - Rn. 46).
Die Darlegungs- und Beweislast für die eine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung bedingenden Tatsachen liegt nach § 1 Absatz 2 Satz 4 KSchG bei dem oder der Arbeitgeber*in.
bb) In Anwendung dieser Grundsätze ist die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 9. Oktober 2020 unwirksam. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob sich der Sachverhalt, wie ihn die Beklagte geschildert hat, tatsächlich so zugetragen hat. Denn auch dann, wenn man das tatsächliche Vorbringen der Beklagten als zutreffend unterstellt, erweist die ordentliche Kündigung als unverhältnismäßig.
(1) Die Kündigung ist nicht wegen Entwendens des im Eigentum der Beklagten stehenden Präsentationssockels der Stadtbibliothek sozial gerechtfertigt. Es handelt sich unter Berücksichtigung der besondere Umstände des Einzelfalls um keine derart schwerwiegende Pflichtverletzung, dass eine Abmahnung als Reaktion auf das Fehlverhalten nicht ausreichend gewesen wäre.
(a) Zwar ist der Beklagten darin zuzustimmen, dass das vorsätzliche Entwenden von Eigentum des oder der Arbeitgeber*in grundsätzlich eine schwerwiegende Verletzung der arbeitsvertraglich geschuldeten Rücksichtnahmepflicht nach § 241 Absatz 2 BGB darstellt, unabhängig davon, welchen Wert der entwendete Gegenstand hat und ob der oder die Arbeitgeber*in an dem Gegenstand noch ein Interesse hat (vergleiche BAG 31. Juli 2014 - 2 AZR 407/13 - Rn. 27; BAG 10. Juli 2010 - 2 AZR 541/09 - Rn. 26). Das hängt damit zusammen, dass für die Schwere der Pflichtverletzung in erster Linie nicht der dem oder der Arbeitgeber*in zugefügte Schaden von Bedeutung ist, sondern vielmehr der Vertrauensbruch, der gegebenenfalls dazu führen kann, dass es dauerhaft an der für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses notwendigen Vertrauensgrundlage fehlt (vergleiche BAG 10. Juli 2010 - 2 AZR 541/09 - Rn. 26). Es trifft auch zu, dass die Klägerin den Präsentationssockel auch dann nicht ohne Zustimmung der Beklagten hätte mitnehmen dürfen, wenn sie diesen im Abfall der Beklagten gefunden hätte. Gleichwohl hat das Entwenden von Gegenständen, die von geringem Wert sind oder an denen der oder die Arbeitgeber*in keine Interesse mehr hat, nicht das gleiche Gewicht, wie wenn dem oder die Arbeitgeber*in durch den Vertrauensbruch ein erheblicher Schaden entsteht.
Das kann im Einzelfall anders zu bewerten sein, je nachdem, wie anfällig die Branche oder die jeweilige Situation, in der der oder die Arbeitnehmer*in tätig ist, für Eigentumsdelikte ist. Beispielweise dient im Lebensmitteleinzelhandel das Verbot, aussortierte Waren mitzunehmen, auch dazu, keine Anreize zu bieten, Waren früher als erforderlich auszusortieren, um sie selbst verbrauchen zu können. Ein solcher Sachverhalt ist hier jedoch nicht gegeben. Vielmehr geht es um einen absolut wertlosen und während drei Jahren im Dienstbetrieb der Beklagten nicht vermissten Gegenstand, der für die Klägerin lediglich zufällig nützlich war. Der Gegenstand gehört auch nicht zu den Dingen - wie etwa Büromaterial -, an denen Arbeitnehmer*innen besonderes Interesse haben und vor deren Entwendung sich die Beklagte als Arbeitgeberin deshalb verstärkt schützen muss.
(b) Vorliegend kommt hinzu, dass - worauf das Arbeitsgericht zutreffend hingewiesen hat - nach den von der Beklagten behaupteten Umständen schon nicht auszuschließen ist, dass sich die Klägerin, als sie am 25. September 2020 zusammen mit ihrem Sohn ihren privaten Kühlschrank einschließlich des Sockels, auf dem der Kühlschrank stand, in ihr Auto lud, um beides zu sich nach Hause zu transportieren, überhaupt keine Gedanken darüber gemacht hatte, dass der Sockel der Beklagten gehören könnte. Denn bei dem Sockel handelte es sich - wie das Arbeitsgericht unwidersprochen festgestellt hat - um eine zusammengezimmerte Pressspankiste, die seit mindestens drei Jahren dem Kühlschrank der Klägerin als Unterbau diente, dies in der ganzen Zeit offensichtlich von niemandem beanstandet worden war und auch niemand Anspruch auf den Sockel angemeldet hatte. Jedenfalls kann nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass der Klägerin, als sie den Sockel mitnahm, bewusst war, dass sie damit in das Eigentum der Beklagten eingriff. Dafür spricht auch, dass sie den Sockel - entgegen dem Vorbringen der Beklagten - nicht etwa heimlich, sondern für alle sichtbar abtransportierte, was sich schon daran zeigt, dass eine andere Beschäftigte den Abtransport aus dem Fenster beobachten konnte.
(c) Außerdem hat die Klägerin den Sockel unverzüglich zurückgebracht, nachdem deutlich geworden war, dass dieser nicht ihr, sondern der Beklagten gehört. Auch dies spricht dafür, dass ihr die Eigentumsverhältnisse vorher nicht bewusst waren. Daran, dass sie ihr eigenmächtiges Verhalten rückgängig gemacht und einen etwaigen Schaden von der Beklagten abgewendet hat, ändert auch nichts, dass sie den Sockel nicht offen, sondern heimlich zurückgebracht hat. Vermutlich hätte schon die einfache Frage, ob sie wisse, wo der Präsentationsockel der Stadtbibliothek geblieben sei, der unter ihren Kühlschrank gestanden habe, gereicht, um die Klägerin dazu zu veranlassen, den Sockel zurückzubringen.
(d) Zumindest aber ist der Vorfall nicht geeignet, das Vertrauen in die Redlichkeit der Klägerin generell zu erschüttern und schon gar nicht - worauf das Arbeitsgericht zu Recht hingewiesen hat - unwiederbringlich. Es handelt sich um einen einmaligen Vorfall, der durch die Aufforderung an die Klägerin, ihren privaten Kühlschrank aus dem Büro zu entfernen, ausgelöst worden war und sich so oder auch in ähnlicher Weise kaum wiederholen wird. Außerdem ist die Klägerin bei der Beklagten seit mindestens drei Jahrzehnten beschäftigt, ohne dass es je Anlass zu Zweifeln an ihrer Redlichkeit gegeben hätte.
Soweit die Beklagte der Klägerin vorwirft, sie habe sich gegenüber der Leiterin der Bibliothek sowie gegenüber den anderen Beschäftigten der Bibliothek „unangebracht“ bzw. „respektlos“ verhalten, habe Rechnungen nicht rechtzeitig bearbeitet und es habe, bevor die neue Bibliotheksleiterin 2019 ihre Tätigkeit aufgenommen habe, ein durch die Klägerin verursachtes „Klima der Angst“ geherrscht, betreffen diese Vorwürfe zum einen nicht das Verhältnis der Klägerin zum Eigentum der Beklagten. Zum anderen beschränkt sich das diesbezügliche Vorbringen der Beklagten auf pauschale, schlagwortartige Vorwürfe, deren Substanz nicht überprüfbar ist. Dem Vortrag ist weder zu entnehmen, worin das „unangebrachte“ bzw. „respektlose“ Verhalten der Klägerin bestanden und woran sich das „Klima der Angst“ festgemacht haben soll, noch um welche Rechnungen es geht und was konkret die Aufgabe der Klägerin war. Dass die Klägerin je abgemahnt worden ist, hat auch die Beklagte nicht behauptet.
(2) Der Vorwurf, die Klägerin habe fortgesetzt gelogen, gleichwohl ihr mehrfach die Möglichkeit gegeben worden sei, ihre wahrheitswidrigen Behauptungen zu berichtigen, ist ebenfalls nicht geeignet, eine ordentliche Kündigung sozial zu rechtfertigen. Zwar gehört zur arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflicht nach § 241 Abs. 2 BGB grundsätzlich auch die Pflicht, Schaden von dem oder der Arbeitgeber*in abzuwenden, an der Aufklärung von Vorkommnissen mitzuwirken und diesbezügliche Fragen des oder der Arbeitgeber*in wahrheitsgemäß zu beantworten. Andererseits kann von einem oder einer Arbeitnehmer*in aber auch nicht verlangt werden, durch das Einräumen von Vorwürfen entgegen dem eigenen Willen an der Beendigung des eigenen Arbeitsverhältnisse mitzuwirken (vergleiche BAG 23. August 2011 - 3 AZR 575/09 - Rn. 53; BAG 5. November 2009 - 2 AZR 609/08 - Rn. 14).
(a) Die Klägerin konnte, wenn sie die Mitnahme des Präsentationsockels einräumt, nicht damit rechnen, dass die Bibliotheksleiterin und in der Folge die Beklagte das Einräumen wohlwollend, das Vertrauensverhältnis eher bestärkend als schwächend aufnehmen würde. Dagegen spricht schon, dass das Verhältnis zwischen der Bibliotheksleiterin und der Klägerin - wie beide Parteien übereinstimmend vorgetragen haben - angespannt war. Zudem war die Bibliotheksleiterin mit einer ungewöhnlichen Intensität und Akribie bestrebt, der Klägerin das Entwenden eines Gegenstands nachzuweisen, dessen materieller Wert und praktischer Nutzen für die Beklagte in keinem Verhältnis dazu stand. Beispielsweise schaute die Bibliotheksleiterin, noch bevor sie die Klägerin auf den Verbleib des Präsentationssockels angesprochen hatte, im Keller der Stadtbibliothek nach und fertigte ein „Beweisfoto“. Weiter hat die Beklagte selbst vorgetragen, die Klägerin habe in Anbetracht ihrer, der Beklagten, Aufklärungsbestrebungen nicht davon ausgehen können, dass sie derartige Pflichtverletzungen tolerieren würde. Auch dies spricht dafür, dass der Eindruck der Klägerin, die Bibliotheksleiterin wolle sie loswerden, nicht völlig aus der Luft gegriffen war.
(b) Problematisch ist allerdings, dass die Klägerin nach dem Vorbringen der Beklagten - unterstellt, dies ist zutreffend - das Entwenden des Präsentationssockels nicht nur abgestritten und behauptet hat, es handele sich um ihren eigenen Sockel, sondern der Beklagte außerdem ein Foto zugesandt hat, das nicht den Kühlschrank der Klägerin und den Sockel, auf dem dieser im Büro der Klägerin stand, abbildete, sondern einen anderen Kühlschrank und einen anderen Sockel. Denn das bedeutet, dass die Klägerin versucht hat, die Beklagte durch weitergehende Falschinformationen gezielt in die Irre zu führen. Ein solches Verhalten geht über ein bloßes Verteidigungsverhalten hinaus und muss von dem oder der Arbeitgeber*in nicht hingenommen werden. Jedoch handelt es sich unter Berücksichtigung des Gesamtkontextes, in dem die Pflichtverletzung steht, noch nicht um eine so schwere Pflichtverletzung, dass sie ohne vorherige Abmahnung eine Kündigung gerechtfertigt. Es gibt auch keine Anhaltspunkte, dass eine Abmahnung nicht geeignet wäre, der Klägerin ihr Fehlverhalten vor Augen zu führen und sie in Zukunft zu einem vertragsgerechten Verhalten anzuhalten.
(c) Die der Klägerin vorgeworfenen Pflichtverletzungen können auch in ihrer Gesamtbetrachtung jedenfalls nach der vorzunehmenden Interessenabwägung eine Kündigung nicht rechtfertigen. Das Interesse der Klägerin an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses überwiegt deutlich das Interesse der Beklagten an dessen Beendigung. Zu Gunsten der Klägerin spricht insbesondere die lange Dauer des Arbeitsverhältnisses, ohne dass es irgendwelche - förmlich festgestellten - Beanstandungen gab. Dabei macht es letztlich auch keinen Unterschied, ob das Arbeitsverhältnis der Parteien beim Zugang der Kündigung länger als dreißig oder bereits länger als 37 Jahre bestand. Allerdings spricht gegen eine Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses während des Studiums der Klägerin schon, dass bei Weiterqualifizierungen nach § 153 Absatz 1 Satz 2 des Arbeitsgesetzbuches (AGB) der Deutschen Demokratischen Republik vom 16. Juni 1977 in der vor dem 22. Juni 1990 geltenden Fassung die im Qualifizierungsvertrag vereinbarten Rechte und Pflichten Bestandteil des Arbeitsverhältnisses waren und dies nach § 153 Absatz 2 Buchstabe b AGB auch für die Delegierung zu einem Studium galt. Weiter ist zu berücksichtigten, dass die Arbeitsplätze für eine Bibliothekarin in der pendelfähigen Nähe zum Wohnort der Klägerin nicht gerade zahlreich sind, und es im Alter von 54 Jahren, in dem sich die Klägerin beim Zugang der Kündigung befand, nur noch schwer möglich ist, sich vollständig umzuorientieren und einen anderen, auch nur annährend ähnlich vergüteten Arbeitsplatz zu finden. Schließlich ist zu Gunsten der Klägerin zu berücksichtigen, dass der Sockel allenfalls von geringem Wert war, für die Beklagte keinen echten Nutzen mehr hatte, die Klägerin den Sockel zurückgebracht hat, das Verschulden der Klägerin - wie oben ausgeführt worden ist - als eher gering einzuschätzen ist und eine Wiederholungsgefahr nicht gegeben ist. Demgegenüber fällt zu Gunsten der Beklagten lediglich ins Gewicht, dass durch das Verhalten der Klägerin das Vertrauensverhältnis der Parteien negativ berührt worden ist und die Zusammenarbeit mit der Klägerin auch sonst nicht spannungsfrei war, wobei mangels konkreten Vortrags nicht feststellbar ist, welchen Anteil an den Spannungen die Klägerin und welchen die Bibliotheksleiterin hat.
cc) Damit erweist sich die außerordentliche Kündigung erst recht als unwirksam.
2. Der Antrag auf vorläufige Weiterbeschäftigung ist ebenfalls zulässig. Er ist unter Berücksichtigung des unstreitigen Vorbringens der Klägerin zur Art ihrer Tätigkeit dahin zu verstehen, dass sie ihre vorläufige Weiterbeschäftigung als Bibliothekarin begehrt, und damit hinreichend bestimmt im Sinne des § 253 Absatz 2 Nr. 2 ZPO (vergleiche dazu BAG vom 15. April 2009 - 3 AZB 93/08 - Rn. 20). Der Antrag ist auch begründet.
3. Nach dem Beschluss des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 27. Februar 1985 - GS 1/84 - (AP (Arbeitsrechtliche Praxis) Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht) hat ein gekündigter oder eine gekündigte Arbeitnehmer*in nach dem in der Kündigung vorgesehenen Beendigungstermin einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung bis zur endgültigen Klärung der Wirksamkeit der Kündigung, soweit kein überwiegendes schützenswertes Interesse des oder der Arbeitgeber*in dem Beschäftigungsanspruch entgegensteht. Ist durch arbeitsgerichtliche Entscheidung festgestellt worden, dass die Kündigung unwirksam ist, ist ein überwiegendes Interesse des oder der Arbeitgeber*in an der Nichtbeschäftigung des oder der Arbeitnehmer*in nur gegeben, wenn besondere Umstände vorhanden sind, die der Weiterbeschäftigung entgegenstehen. Umstände, die einer vorläufigen Weiterbeschäftigung der Klägerin entgegenstehen, hat die Beklagte nicht substantiiert vorgetragen.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Absatz 1 ZPO. Danach hat die Beklagte die Kosten ihres erfolglos eingelegten Rechtsmittels zu tragen.
IV. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 72 Absatz 2 ArbGG liegen nicht vor.