Gericht | LArbG Berlin-Brandenburg 12. Kammer | Entscheidungsdatum | 07.01.2022 | |
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Aktenzeichen | 12 TaBVGa 1513/21 | ECLI | ECLI:DE:LAGBEBB:2022:0107.12TABVGA1513.21.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 87 Abs 1 Nr 2 BetrVG |
1. Bei der Feststellung des Verfügungsgrundes als Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Sicherung eines Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats besteht eine Abhängigkeit zwischen Verfügungsgrund und Verfügungsanspruch.
Die Sicherheit, mit der ein Mitbestimmungsrecht und ein daraus resultierender Unterlassungsanspruch bestehen, ist bei der Feststellung des Verfügungsgrundes zu berücksichtigen.
Eine Rechtslage, die eindeutig zu Gunsten des Arbeitgebers oder des Betriebsrats spricht, ist zu berücksichtigen.
Bei unklarer Rechtslage ist auf die Interessenabwägung abzustellen.
Maßgebend ist, wie sich die behauptete Verletzung eines Mitbestimmungsrechts im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und betroffenen Arbeitnehmern auswirkt und in welchem Umfang die Mitarbeiter effektiv geschützt sind.
2. Aus dem Tarifvorrang folgt, dass im Geltungsbereich einer zwingenden Tarifvorschrift ohne ausdrückliche Öffnungsklausel, die die Anrückzeit im Rahmen von Rufbereitschaft regelt, diese Anrückzeit nicht durch Betriebsvereinbarung geregelt werden kann.
Es spricht einiges dafür, dass § 10 Abs. 8 TV-Ärzte/VKA ohne Öffnungsklausel die Anrückzeit dahin regelt, dass sie die angemessene Zeitspanne zur Arbeitsaufnahme ist.
Im Geltungsbereich der Tarifvorschrift kann dann eine Betriebsvereinbarung die Länge der Anrückzeit nicht wirksam regeln.
Die Beschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Brandenburg an der Havel vom 10. November 2021 - 4 BVGa 5/21 - wird zurückgewiesen.
A.
Betriebsrat und Arbeitgeberin streiten über einen einstweiligen Unterlassungsanspruch gegen eine Anweisung der Arbeitgeberin, für den Rufbereitschaftsdienst von Fachärzten eine Höchstzeit zwischen Abruf und Verfügbarkeit am Patienten von 30 Minuten vorzugeben.
Die Beteiligte zu 2 und Arbeitgeberin betreibt ein städtisches Krankenhaus. Der antragstellende Beteiligte zu 1 ist der bei der Arbeitgeberin gebildete Betriebsrat.
Die Arbeitgeberin ist als Mitglied des Kommunalen Arbeitgeberverbands Brandenburg an den „Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TV-Ärzte/VKA)“ gebunden. Der TV-Ärzte/VKA vom 17.08.2006 in der Fassung des Änderungstarifvertrag Nr. 7 vom 22.05.2019 bestimmt zur Rufbereitschaft wie folgt:
„§ 7 Regelmäßige Arbeitszeit
… (6) Ärztinnen und Ärzte sind im Rahmen begründeter betrieblicher/dienstlicher Notwendigkeiten zu … Rufbereitschaft …verpflichtet.
§ 10 … Rufbereitschaft
… (8) Der Arzt hat sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufzuhalten, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen (Rufbereitschaft). Rufbereitschaft wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Arzt vom Arbeitgeber mit einem Mobiltelefon oder einem vergleichbaren technischen Hilfsmittel zur Gewährleistung der Erreichbarkeit ausgestattet wird. Der Arbeitgeber darf Rufbereitschaft nur anordnen, wenn erfahrungsgemäß lediglich in Ausnahmefällen Arbeit anfällt. Durch tatsächliche Arbeitsleistung innerhalb der Rufbereitschaft kann die tägliche Höchstarbeitszeit von zehn Stunden (§ 3 ArbZG) überschritten werden (§ 7 ArbZG).“
Die zwischen den Beteiligten durch Spruch der Einigungsstelle zustande gekommene „Betriebsvereinbarung Dienstplangestaltung und Arbeitszeit Ärzte (BV Arbeitszeit Ärzte)“ vom 27.02.2014 sieht in § 10 Rufbereitschaft vor:
„10.2 Während der Rufbereitschaft müssen die Beschäftigten telefonisch erreichbar und in der Lage sein, ihre Arbeit innerhalb einer für die notwendige Patientenversorgung angemessenen Zeit aufzunehmen.“
Mit Dienstanweisung Nr. 4 / 2021 vom 14.10.2021, in Kraft seit dem 01.11.2021, wies die Beteiligte zu 2 alle Fachärztinnen und Fachärzte in bestimmten Fachabteilungen wie folgt an: „Sie sind während der Rufbereitschaft insbesondere dazu verpflichtet, in Zeiten außerhalb der Anwesenheitszeit im Klinikum innerhalb von 30 Minuten am Patienten verfügbar zu sein. Kann der Facharzt / die Fachärztin diese Vorgabe nicht erfüllen, so ist dies unverzüglich der Geschäftsführung und dem Leitenden Arzt (Chefarzt / Chefärztin) schriftlich anzuzeigen. Darüber hinaus ist der Leitende Arzt (Chefarzt / Chefärztin) unverzüglich mündlich oder telefonisch zu informieren. Ist die Nichterfüllung der zuvor genannten Vorgabe durch den Facharzt / die Fachärztin vorhersehbar, hat dieser / diese rechtzeitig auf eine Dienstplanänderung hinzuwirken. Der Facharzt / die Fachärztin, der / die die Anzeige gemacht hat, ist in diesem Fall von der Rufbereitschaft zu befreien. Der Leitende Arzt (Chefarzt / Chefärztin) hat dann die Rufbereitschaft … sicherzustellen und erforderlichenfalls diese Rufbereitschaft persönlich zu leisten. … Diese Dienstanweisung behält ihre Gültigkeit, bis sie durch den Arbeitgeber widerrufen oder durch eine andere Dienstanweisung des Arbeitgebers ersetzt wird.“
Mit Antragschrift zum Arbeitsgericht hat der Betriebsrat den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Arbeitgeberin geltend gemacht, es zu unterlassen, für den Fall des Abrufs während der Rufbereitschaft die Verfügbarkeit am Patienten binnen maximal 30 Minuten anzuweisen. Er hat vorgetragen, seiner Auffassung nach ergebe sich der Verfügungsanspruch aus der BV Arbeitszeit Ärzte. Die Arbeitgeberin verstoße mit der Anweisung gegen diese Betriebsvereinbarung. Unter Berücksichtigung der anfallenden Zeiten für Umziehen, Desinfizieren und die Wege innerhalb des Krankenhauses gelange man in den Bereich einer Anrückzeit von 20 Minuten, wie sie nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht mehr vom Weisungsrecht gedeckt sei und keine Rufbereitschaft mehr darstelle. Der Verfügungsgrund ergäbe sich aus einer Abwägung der Interessen. Beschäftigte, die die Arbeitgeberin über die Unmöglichkeit informierten, die vorgegebene Anrückzeit einzuhalten, würden von der Rufbereitschaft ausgeschlossen. Daraus entstünden ihnen Nachteile organisatorischer und finanzieller Art. Bei Abwarten der Hauptsache würde der mit der Betriebsvereinbarung bezweckte Schutz der Arbeitnehmer unwiederbringlich vereitelt. Der Betriebsrat hat beantragt,
die Beteiligte zu 2. hat es bis zur Entscheidung in der Hauptsache unter Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 10.000,00 EUR zu unterlassen, bei Rufbereitschaftsdienst für alle Fachärztinnen/Fachärzte des Städtischen Klinikums in den Fachabteilungen Anästhesie und Intensivmedizin, Innere Medizin, Allgemein- und Visceralchirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie, Gefäßchirurgie, Neurochirurgie und Radiologie sowie Gynäkologie und Urologie anzuweisen, dass diese innerhalb von maximal 30 Minuten „am Patienten verfügbar“ zu sein haben, solange hierzu keine Zustimmung des Beteiligten zu 1. vorliegt oder dessen fehlerhafte Zustimmung durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt wurde.
Die Arbeitgeberin hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Sie hat geltend gemacht, die Anrückzeit bei Rufbereitschaft unterliege keinem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats. Die inhaltliche Ausgestaltung der Rufbereitschaft unterfalle dem arbeitgeberseitigen Direktionsrecht. Außerdem bestehe kein Regelungsspielraum. Dies folge insbesondere aus der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur stationären Versorgung von Bauchaortenaneurysmen und der dort enthaltenen Verpflichtung, wonach das Krankenhaus entweder einen eigenständigen fachärztlichen gefäßchirurgischen Bereitschaftsdienst im Haus oder eine Anrückzeit im Sinne der Dienstanweisung gewährleisten müsse. Weiter hat die Arbeitgeberin die Auffassung vertreten, mit dem Erlass der geltend gemachten Verfügung würde die Hauptsache vorweggenommen. Im Hinblick auf eine Überprüfung der Vorgaben durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen drohten ihr überwiegende Nachteile. Schließlich sei die Vorgabe von 30 Minuten die angemessene Zeit zur Aufnahme der Patientenversorgung im Sinne der BV Arbeitszeit Ärzte.
Mit Beschluss vom 10.11.2021 hat das Arbeitsgericht den Antrag als unbegründet zurückgewiesen. In den Beschlussgründen hat es ausgeführt: Vorliegend bedürfe die Ermächtigung des Arbeitgebers aus § 10.2 BV Arbeitszeit Ärzte, Rufbereitschaft anzuordnen, hinsichtlich der „angemessenen Zeit“ als unbestimmter Regelung der Ausfüllung durch eine ergänzende Betriebsvereinbarung. Der Betriebsrat sei aber auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen. Die Antragsstattgabe würde die Hauptsache vorwegnehmen. Ein Verfügungsgrund liege nicht vor. Der Betriebsrat habe durch den Abschluss der Betriebsvereinbarung von seinem Mitbestimmungsrecht Gebrauch gemacht. Eine weitere Regelung werde erforderlich sein, jedoch nicht im Rahmen des einstweiligen Verfügungsverfahrens.
Der Betriebsrat hat am 12.11.2021 Beschwerde eingelegt und am 30.11.2021 begründet. Er macht geltend: Die Hauptsache würde durch die geltend gemachte Anordnung nicht vorweggenommen. Es werde nur eine Regelung bis zur Entscheidung in der Hauptsache bzw. bis zu einem Einigungsstellenspruch geltend gemacht. Dabei solle der Zustand geschützt werden, wie er der BV Arbeitszeit/Ärzte entspreche, die ja gerade keine Regelungen zur Höchstwegezeit enthalte. Die von der Arbeitgeberin herangezogenen Vorgaben seien nicht strikt und hätten im bestehenden System, also ohne die angegriffene Dienstanweisung, zu keinerlei Einflüssen oder Nachteilen bei der Patientenversorgung oder der Abrechnung der Arbeitgeberin geführt. Zu den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern habe das Arbeitsgericht kein Wort verloren. Der Betriebsrat beantragt,
der Beschluss des Arbeitsgerichts Brandenburg an der Havel vom 10. November 2021 – 4 BVGa 5/21 – wird abgeändert:
Die Beteiligte zu 2. hat es bis zur Entscheidung in der Hauptsache unter Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 10.000,00 EUR zu unterlassen, bei Rufbereitschaftsdienst für alle Fachärztinnen/Fachärzte des Städtischen Klinikums in den Fachabteilungen Anästhesie und Intensivmedizin, Innere Medizin, Allgemein- und Visceralchirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie, Gefäßchirurgie, Neurochirurgie und Radiologie sowie Gynäkologie und Urologie anzuweisen, dass diese innerhalb von maximal 30 Minuten „am Patienten verfügbar“ zu sein haben, solange hierzu keine Zustimmung des Beteiligten zu 1. vorliegt oder dessen fehlerhafte Zustimmung durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt wurde.
Die Arbeitgeberin beantragt die Zurückweisung des Antrags. Sie hat auf die Beschwerde erwidert. Sie verteidigt den Beschluss als im Ergebnis richtig und macht geltend: Das Bestehen eines Mitbestimmungsrechts sei keineswegs eindeutig. Das Mitbestimmungsrecht bezüglich Beginn und Ende der Arbeitszeit werden bereits durch die Mitbestimmung bei der Festlegung von Beginn und Ende des jeweiligen Rufbereitschaftsdiensts ausgeübt. Während der Rufbereitschaft bestehe dann kein Mitbestimmungsrecht mehr. Außerdem sei der durch Tarifvertrag geregelten Rufbereitschaft die Pflicht immanent, auf Abruf die Arbeit innerhalb einer angemessenen Zeitspanne aufzunehmen. Deshalb fehle im Hinblick auf den im Betriebsverfassungsgesetz geregelten Tarifvorrang den Betriebsparteien die Regelungsmacht für die Vorgabe zur Arbeitsaufnahme innerhalb angemessener Zeit. Bei der Abwägung der Interessen zur Feststellung des Verfügungsgrundes sei zu berücksichtigen, dass sie durch die Dienstanweisung sicherstellen wolle, bei zukünftigen Überprüfungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen nicht durchzufallen und deshalb Entgelte erstatten zu müssen.
B.
Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Sie ist zulässig aber unbegründet. Zu Recht hat das Arbeitsgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen. Wie es das Arbeitsgericht angenommen hat, fehlt es an dem erforderlichen Verfügungsgrund. Angesichts der bestehenden Unsicherheit, ob der zur vorläufigen Sicherung geltend gemachte Anspruch besteht, ergibt die Abwägung der wechselseitigen Interessen, dass eine einstweilige Verfügung nicht geboten ist.
I.
Die Beschwerde ist zulässig. Ihre Statthaftigkeit folgt aus § 87 Abs. 1 Arbeitsgerichtgesetz (ArbGG). Danach findet gegen die ein Beschlussverfahren beendenden Beschlüsse der Arbeitsgerichte die Beschwerde an das Landesarbeitsgericht statt. Die Vorschrift ist auch dann einschlägig, wenn das Arbeitsgericht im Beschlussverfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach mündlicher Anhörung entschieden hat (GMP/Spinner, 9. Aufl. 2017, ArbGG § 85 Rn 51). Die Fristen zur Einlegung und Begründung der Beschwerde von einem bzw. zwei Monaten aus § 87 Abs. 2 iVm § 66 Abs. 1 Satz 1 sind vorliegend gewahrt. Das Beschwerdevorbringen enthält den Anforderungen aus § 89 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, § 520 Abs. 3 Zivilprozessordnung (ZPO) genügende Gründe.
II.
Die Beschwerde ist unbegründet. Der zulässige Antrag des Betriebsrats ist unbegründet.
1. Der Antrag des Betriebsrats ist zulässig. Er ist hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr.2 ZPO. Die Unterlassung, die gefordert wird, ist unter Berücksichtigung des begründenden Vorbringens hinreichend genau umschrieben. Die Arbeitgeberin soll es unterlassen, gegenüber den im Antrag nach ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Fachabteilungen bestimmten Fachärztinnen und Fachärzten anzuweisen, dass diese im Falle eines Abrufs zur Arbeit während der Rufbereitschaft innerhalb von 30 Minuten am Patienten verfügbar sein müssen. Die Verbindung von Unterlassungsanspruch und Androhung des Ordnungsgeldes ist zulässig, vgl. § 890 Abs. 2 ZPO. In Anwendung von § 83 Abs. 4 ArbGG sind an dem gerichtlichen Verfahren Arbeitgeberin und Betriebsrat zu beteiligen.
2. Der Antrag ist unbegründet. Die Voraussetzungen für den Erlass der geltend gemachten einstweiligen Verfügung sind nicht gegeben. Ein Verfügungsgrund kann nicht festgestellt werden. Eine Verletzung der BV Arbeitszeit Ärzte und der der Arbeitgeberin wegen § 77 Abs. 1 Satz 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) obliegenden diesbezüglichen Durchführungspflicht ist keineswegs gesichert. Vor diesem Hintergrund ergibt die Abwägung der wechselseitigen Interessen, insbesondere der Auswirkungen auf die Interessen der Arbeitgeberin und der Betriebsbelegschaft, dass der Erlass der geltend gemachten Verfügung nicht geboten ist.
a. § 940 ZPO macht es zur Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Verfügung zur Regelung eines einstweiligen Zustands in Bezug auf ein Rechtsverhältnis, dass diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Danach muss zur Begründung eines Rechtsverhältnisses ein vorläufig zu sichernder Anspruch gegeben und aufgrund der Umstände eine einstweilige Regelung geboten sein. Diese Erfordernisse sind auch bei der Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs wegen Verletzung von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrates zu beachten Der Erlass der einstweiligen Verfügung setzt in allen Fällen einen Verfügungsanspruch sowie einen Verfügungsgrund voraus (LArbG Berlin-Brandenburg 12.12.2013 - 17 TaBVGa 2058/13, juris Rn 17; LArbG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 20.09.2016 - 2 TaBVGa 2/16, juris Rn 19).
b. Der Verfügungsgrund ergibt sich aus dem Gewicht des drohenden Verstoßes und der Bedeutung der umstrittenen Maßnahme für den Arbeitgeber einerseits und die Belegschaft andererseits (vgl. BAG, 03.05.1994 - 1 ABR 24/93, juris Rn 44). Zu beachten ist, dass das summarische Eilverfahren die betriebsverfassungsrechtliche Meinungsverschiedenheit nicht abschließend klären kann (BAG, aaO.). Daraus folgt eine Abhängigkeit zwischen Verfügungsgrund und Verfügungsanspruch. Die Sicherheit, mit der ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats und ein daraus resultierender Unterlassungsanspruch bestehen, ist bei der Feststellung des Verfügungsgrundes zu berücksichtigen. Eine Rechtslage, die eindeutig zu Gunsten des Arbeitgebers oder des Betriebsrats spricht, ist zu berücksichtigen (Walker in: Schwab/Weth, ArbGG, 6. Aufl. 2021, § 85 ArbGG, Rn 107). Bei unklarer Rechtslage ist auf die Interessenabwägung abzustellen. Maßgebend ist, wie sich die behauptete Verletzung eines Mitbestimmungsrechts im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und betroffenen Arbeitnehmern auswirkt und in welchem Umfang die Mitarbeiter effektiv geschützt sind (Korinth in: Korinth, Einstweiliger Rechtsschutz im Arbeitsgerichtsverfahren, 4. Aufl. 2019, K, Rn 112). Bei der vorläufigen Durchsetzung von Betriebsvereinbarungen wird im Hinblick auf § 77 Abs. 1 Satz 1 BetrVG und die dort geregelte Durchführungspflicht des Arbeitgebers vorrangig auf die wegen Zeitablauf drohende Rechtsbeeinträchtigung und die Gesichertheit der Erfolgsaussichten abgestellt (vgl. LAG Niedersachsen, 06.04.2009 - 9 TaBVGa 15/09, juris Rn 10; LAG Köln, 12. Juni 2012 - 12 Ta 95/12, juris Rn 53). Dadurch soll vermieden werden, dass der Betriebsrat während der für die Erlangung eines vollstreckungsfähigen Titels im Hauptsacheverfahren nötigen Zeit die Verletzung der Betriebsvereinbarung hinnehmen muss.
c. Vorliegend ist das Vorliegen eines Unterlassungsanspruches zweifelhaft. Aus dem Tarifvorrang folgt, dass bei einer zwingenden Tarifvorschrift ohne ausdrückliche Öffnungsklausel, die die Anrückzeit im Rahmen von Rufbereitschaft regelt, diese Anrückzeit nicht durch Betriebsvereinbarung geregelt werden kann. Es spricht einiges dafür, dass § 10 Abs. 8 TV-Ärzte/VKA ohne Öffnungsklausel die Anrückzeit dahin regelt, dass die Arbeitsaufnahme binnen angemessener Zeit erfolgen muss. Im Geltungsbereich der Tarifvorschrift kann dann eine Betriebsvereinbarung die Länge der Anrückzeit nicht wirksam regeln. Deshalb bestehen ernste Zweifel, ob die Regelung in § 10.2 Arbeitszeit Ärzte, wonach die Beschäftigten in der Lage sein müssen, ihre Arbeit innerhalb einer für die notwendige Patientenversorgung angemessenen Zeit aufzunehmen, wirksam sein kann.
aa. Das Arbeitsgericht hat einen Anspruch des Betriebsrats aus § 10 BV Arbeitszeit Ärzte hergeleitet. Die Festlegung einer Höchstgrenze für die Anrückzeit von 30 Minuten stehe nicht im Einklang mit der dort vereinbarten Festlegung, nach Abruf müsse die Arbeit binnen angemessener Zeit aufgenommen werden. Dementsprechend sei sie nur zulässig nach ergänzenden Vereinbarungen zwischen den Betriebsparteien. Bis zu deren Abschluss sei eine entsprechende Anweisung zu unterlassen. Diese Argumentation setzt voraus, dass die Festlegung in der BV Arbeitszeit Ärzte zu einer angemessenen Anrückzeit wirksam ist. Hieran bestehen aber im Hinblick auf den von Betriebsvereinbarungen zu beachtenden Tarifvorrang ernste Zweifel.
bb. Betriebsvereinbarungen müssen den Tarifvorrang beachten. Sie können nur insoweit abgeschlossen werden, als eine Regelung durch Tarifvertrag nicht besteht. Für Betriebsvereinbarungen gilt § 77 Abs. 3 BetrVG, wonach Arbeitsentgelte oder sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können. Dies gilt dann nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt. Eine gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG verstoßende Betriebsvereinbarung ist unwirksam (BAG, 29.04.2015 - 7 ABR 102/12, juris Rn 48). Gleiches gilt für den Spruch einer Einigungsstelle, der die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ersetzt (BAG, 26.04.2005 - 1 ABR 1/04, juris Rn 27). Dabei führt § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG auch im Anwendungsbereich des § 87 Abs. 1 BetrVG zur Unwirksamkeit einer betrieblichen Regelung, wenn dieser eine zwingende tarifliche Regelung entgegensteht, die den Abschluss ergänzender betrieblicher Regelungen nicht ausdrücklich zulässt (BAG, aaO. Rn 28).
cc. Vorliegend besteht eine die Arbeitgeberin als Verbandsmitglied bindende tarifvertragliche Regelung zur Rufbereitschaft. § 7 Abs. 6 TV-Ärzte/VKA Ärzte normiert die Verpflichtung, unter Umständen Rufbereitschaft leisten zu müssen. § 10 Abs. 8 TV-Ärzte/VKA definiert die geschuldete Rufbereitschaft dahin, dass sie den Arzt im Anordnungsfall verpflichtet, sich an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufzuhalten, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen. Dabei macht die Tarifvorschrift zwar keine ausdrücklichen Vorgaben zur Anrückzeit, insbesondere zu deren maximaler Länge. Andererseits ist aber, wie es das Bundesarbeitsgericht zu der gleichlautenden Vorschrift in § 7 Abs. 6 Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an Universitätskliniken (TV-Ärzte/TdL) zutreffend ausgeführt hat, für die Rufbereitschaft kennzeichnend, dass zwischen dem Abruf und der Arbeitsaufnahme nur eine solche Zeitspanne liegen darf, deren Dauer den Einsatz nicht gefährdet und die Arbeitsaufnahme im Bedarfsfall gewährleistet. Der Zweck der Rufbereitschaft besteht gerade darin, dass der Arbeitnehmer in der Lage sein muss, die Arbeit innerhalb einer angemessenen Zeitspanne auf Abruf aufnehmen zu können (BAG, 25.03.2021 - 6 AZR 264/20, juris Rn 14). Danach würde die Vorgabe einer angemessenen Anrückzeit bereits der Tarifvorschrift zu entnehmen sein. In dieser Auslegung verpflichtet § 7 Abs. 6 iVm § 10 Abs. 8 TV-Ärzte/VKA Ärzte in Rufbereitschaft unmittelbar dazu, nach Abruf die Arbeit in angemessener Zeit aufzunehmen. Damit bestünde eine tarifvertragliche Regelung, die die Unwirksamkeit einer sich überschneidenden Regelung durch Betriebsvereinbarung begründen würde. Eine ausdrückliche Öffnungsklausel zu Gunsten betrieblicher Regelungen über Anrückzeiten bei der Rufbereitschaft enthält der TV-Ärzte VKA nicht.
dd. Ein Mitbestimmungsrecht würde auch dann nicht wieder aufleben, wenn die Arbeitgeberin vorliegend, wie es der Betriebsrat geltend macht, mit der Vorgabe einer maximalen Anrückzeit von 30 Minuten die Grenzen ihrer Anordnungsbefugnis bezüglich Rufbereitschaft überschreiten würde. Bei abschließender tariflicher Regelung lebt ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nicht deswegen wieder auf, weil sich der Arbeitgeber tarifwidrig verhält. Nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG hat zwar der Betriebsrat darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Tarifverträge durchgeführt werden. Aus der Überwachungsaufgabe folgt jedoch kein eigener Anspruch des Betriebsrats darauf, dass der Arbeitgeber einen Tarifvertrag gegenüber seinen Arbeitnehmern auch einhält und durchführt. Der Betriebsrat ist darauf beschränkt, eine Nichtbeachtung oder fehlerhafte Durchführung des Tarifvertrages beim Arbeitgeber zu beanstanden und auf Abhilfe zu drängen (BAG, 05.05.1992 - 1 ABR 69/91, juris Rn 19).
d. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass § 10 BV Arbeitszeit Ärzte deshalb unwirksam ist, weil - wie es die Arbeitgeberin geltend macht - wegen der Anrückzeit kein zwingendes Mitbestimmungsrecht gegeben ist. Anerkannt ist, dass ein zwingendes Mitbestimmungsrecht besteht über Beginn und Ende von Rufbereitschaftszeiten und die Verteilung solcher Zeiten auf die einzelnen Wochentage (BAG, 21.12.1982 - 1 ABR 14/81, juris Rn 33; Fitting, BetrVG, 30. Aufl. 2020, § 87 Rn 96). Aus der Einordnung der Rufbereitschaft als Arbeitszeit iSv. § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG folgt aber nicht zwingend ein Mitbestimmungsrecht auch hinsichtlich der Anrückzeiten. Das Mitbestimmungsrecht besteht hinsichtlich Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie der Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage. Die Anrückzeiten bestimmen aber nicht Beginn oder Ende der Rufbereitschaft, sondern regeln während der (mitbestimmten) Rufbereitschaft die Zeit zwischen Abruf und Aufnahme der aktiven Arbeit. Sollte ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht insoweit nicht bestehen, würde die durch Spruch der Einigungsstelle ergangene Regelung als freiwillige Betriebsvereinbarung nur unter den Voraussetzungen von § 76 Abs. 6 BetrVG wirksam sein können. Dazu müssten Betriebsrat und Arbeitgeberin in ihr Tätigwerden eingewilligt und sich ihrem Spruch im Voraus unterworfen oder ihn nachträglich angenommen haben. Diese Voraussetzungen sind nicht vorgetragen.
e. Im Hinblick auf das ungewisse Bestehen eines Verfügungsanspruchs kann vorliegend ein Verfügungsgrund nicht festgestellt werden. Der bloße Zeitablauf reicht für die Annahme eines Verfügungsgrundes nicht, weil eine Missachtung der Betriebsvereinbarung nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden kann. Die Abwägung zwischen den wechselseitigen Interessen und den jeweils drohenden Auswirkungen begründet den Erlass der einstweiligen Anordnung nicht. Die Aufrechterhaltung der Dienstanweisung ist von einiger Bedeutung für die Arbeitgeberin. Damit will sie den an sie gestellten Qualitätsanforderungen, die im Interesse des Gesundheitsschutzes und der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung durchaus sinnvoll erscheinen, gerecht werden. Zwar könnte sie die vorgegebene Verfügbarkeit am Patientenbett auch durch Anordnung von Bereitschaftsdienst sicherstellen. Dies würde aber einen höheren Bedarf an ärztlichem Personal und höhere Kosten bedeuten. Als Nachteil für die Belegschaft ist insbesondere zu berücksichtigen, dass entfernt wohnende Ärzte Rufbereitschaft nicht mehr vom Wohnort aus leisten können, weil sie die maximale Anrückzeit nicht einhalten können. Allerdings sieht die Dienstanweisung vor, dass bei vorhersehbarer Nichterfüllung der Vorgabe, die Fachärztin oder der Facharzt auf eine Dienstplanänderung hinzuwirken hat. Außerdem ist vorgegeben, dass bei schriftlicher Anzeige der Nichterfüllbarkeit die Fachärztin oder der Facharzt von der Rufbereitschaft zu befreien ist. Vor diesem Hintergrund können die weiter entfernt wohnenden Ärzte der Dienstanweisung Genüge tun, ohne dass sie zur Ableistung von Rufbereitschaft Vorkehrungen für eine kliniknahe Aufenthaltsmöglichkeit für die Rufbereitschaftszeit finden müssten. Die in der Anhörung vor der Kammer angesprochenen Bedenken hinsichtlich der dauerhaften Durchsetzbarkeit der Befreiung bzw. einer möglichen Konzentration von Rufbereitschaften auf nur wenige Personen sind nicht hinreichend konkret oder glaubhaft gemacht, als dass sie Berücksichtigung finden können. In der Abwägung überwiegen von den dargestellten Interessen die Interessen der Arbeitgeberin.
III.
Die Rechtsbeschwerde gegen diesen im einstweiligen Verfügungsverfahren ergehenden Beschluss nach § 91 ArbGG kommt nicht in Betracht, § 92 Abs. 1 Satz 3 ArbGG.
Eine Kostenentscheidung ist im Hinblick auf § 2 Abs. 2 Gerichtskostengesetz nicht veranlasst.