Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat | Entscheidungsdatum | 12.02.2022 | |
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Aktenzeichen | L 13 SB 173/21 | ECLI | ECLI:DE:LSGBEBB:2022:0212.L13SB173.21.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 152 SGB 9 |
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin vom 5. August 2021 aufgehoben.
Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 13. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2017 verpflichtet, bei der Klägerin mit Wirkung ab dem 13. Juni 2016 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte hat der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens in voller Höhe zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).
Der Beklagte hatte bei der 1961 geborenen Klägerin 2014 einen GdB von 40 festgestellt. Deren Verschlimmerungsantrag vom 13. Juni 2016 lehnte er mit Bescheid vom 13. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2017 ab. Hierbei legte er zuletzt folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
1. Asthma bronchiale (Einzel-GdB von 20),
2. Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 20),
3. Funktionsstörung des linken Schultergelenks (Einzel-GdB von 20),
4. Funktionsstörung beider Hüftgelenke (Einzel-GdB von 10).
Mit ihrer Klage bei dem Sozialgericht Neuruppin hat die Klägerin einen GdB von 50 begehrt.
Das Sozialgericht hat neben Befundberichten der die Klägerin behandelnden Ärzte das Gutachten der Chirurgin Dr. H vom 14. August 2019 eingeholt, die den Gesamt-GdB mit 40 bewertet hat. Folgende Funktionsbeeinträchtigungen hat die Gutachterin ermittelt:
1. Asthma bronchiale (Einzel-GdB von 20),
2. Zervikobrachial-, Brust- und Lendenwirbelsäulensyndrome (Einzel-GdB von 20),
3. Funktionseinschränkung im Bereich der linken Schulter (Einzel-GdB von 20),
4. Funktionseinschränkung beider Hüftgelenke (Einzel-GdB von 10),
5. Senk-/Spreizfüße, Arthrose im Großzehengrundgelenk (Einzel-GdB von 10),
6. psychische Erkrankung mit Anpassungsstörung und somatoformer Störung (Einzel-GdB von 20).
Ferner hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Orthopädie Dr. L vom 9. Juli 2020, der den Gesamt-GdB mit 40 bewertet hat. Dieser Einschätzung hat er einen Ganzkörperschmerz mit muskulärer-koordinativer Dekonditionierung und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung zugrunde gelegt.
Auf den Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Sozialgericht den Facharzt für Neurologie Dr. M gutachterlich gehört. Im Gutachten vom 16. November 2020 hat der Sachverständige vorgeschlagen, den Gesamt-GdB mit 50 zu bemessen, und hierzu folgende Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt:
1. Asthma bronchiale (Einzel-GdB von 20),
2. Wirbelsäulenschaden mit schwerer funktioneller Auswirkung in einem Wirbelsäulenabschnitt (Einzel-GdB von 30),
3. Funktionsstörung der linken Schulter (Einzel-GdB von 20),
4. Funktionsstörung beider Hüftgelenke (Einzel-GdB von 10),
5. Funktionsstörung beider Hände (höher als ein Einzel-GdB unter 10),
6. Fibromyalgie (Einzel-GdB von 50),
7. Dysthymie, aktuell mit leichter depressiver Symptomatik (Einzel-GdB von 40).
Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 5. August 2021 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-GdB von 50.
Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neuruppin vom 5. August 2021 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 13. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Januar 2017 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem 13. Juni 2016 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Über die Berufung konnte ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter entschieden werden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben (§ 124 Abs. 2 in Verbindung mit § 153 Abs. 1, § 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz –SGG–).
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
Die Klägerin hat Anspruch auf Festsetzung eines Gesamt-GdB von 50 mit Wirkung ab dem 13. Juni 2016.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (SGB IX a.F.) bzw. nach § 152 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Fassung (SGB IX n.F.) sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) heranzuziehen.
Das bei der Klägerin bestehende Asthma bronchiale bedingt einen Einzel-GdB von 20. Ein höherer Einzel-GdB ist nach B 8.5 VMG nicht zu rechtfertigen, da häufige oder schwere Anfälle nicht auftreten.
Im Funktionssystem der oberen Extremitäten beträgt der Einzel-GdB 20. Nach Maßgabe der Vorgaben in B 18.13 VMG ist im Hinblick auf die leichten Bewegungseinschränkungen des linken Schultergelenks und die mittelschweren Bewegungseinschränkungen der Fingergelenke die Zuerkennung eines Einzel-GdB in dieser Höhe angemessen.
Die Wirbelsäulenschäden der Klägerin sind mit einem Einzel-GdB von 20 zu berücksichtigen. Die Klägerin leidet nach den gutachterlichen Feststellungen an mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt, der Halswirbelsäule. Hierfür ist in B 18.9 VMG ein GdB von 20 vorgesehen. Ein GdB von 30 kommt nicht in Betracht, weil schwere funktionelle Auswirkungen in diesem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) nicht vorliegen. Die Wirbelsäulenschäden in den beiden anderen Wirbelsäulenabschnitten wirken sich nicht erhöhend aus, da sie geringe funktionellen Auswirkungen zeitigen.
Die Funktionsbeeinträchtigungen im Funktionssystem der unteren Extremitäten sind mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Die Klägerin leidet an einer Bewegungseinschränkung beider Hüftgelenke geringen Grades, Senk-/Spreizfüßen mit nur geringen statischen Auswirkungen und einer Arthrose im Großzehengrundgelenk, die nach den Vorgaben in B 18.14 VMG mit einem Einzel-GdB in dieser Höhe angemessen berücksichtigt sind.
Bei der Klägerin für das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche ein Einzel-GdB von 30 anzusetzen. Nach den Darlegungen des Sachverständigen Dr. M leidet die Klägerin an einer Dysthymie. Deren Bewertung richtet sich nach B 3.7 VMG. Daneben liegt, wie die Sachverständigen Dr. L und Dr. M übereinstimmend und nachvollziehbar dargelegt haben, bei der Klägerin eine Fibromyalgie vor. Nach B 18.4 VMG ist die Fibromyalgie jeweils im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen. Als Vergleichsmaßstab sind hierbei nicht die Vorgaben in B 18.2.1 VMG für entzündlich-rheumatische Krankheiten heranzuziehen, sondern die Bewertungskriterien in B 3.7 VMG für psychovegetative oder psychische Störungen (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. September 2015 – L 11 SB 35/13 –, juris). Denn bei der Fibromyalgie handelt es sich, wie der Gutachter Dr. L ausgeführt hat, nicht um eine Erkrankung des Bewegungsapparats, sondern um eine Störung der Schmerzverarbeitung ohne organisches Korrelat. Vorliegend sind die Dysthymie und die Fibromyalgie im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche zusammenfassend (vgl. A 2 e Satz 2 VMG) zu beurteilen, d.h. es ist für beide Funktionsbeeinträchtigungen ein gemeinsamer Einzel-GdB zu bilden. Unter Berücksichtigung der in B 3.7 VMG vorgegebenen Bewertungsmaßstäbe ergibt sich ein Einzel-GdB von 30. Denn bei der Klägerin bestehen stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit. Nach den gutachterlichen Feststellungen leidet sie an chronischen Schmerzen, einer depressiven Symptomatik, Freudlosigkeit, Energielosigkeit, Schlafstörungen, negativer Zukunftsperspektive und Meidungsverhalten in Bezug auf Menschenansammlungen. Auch befand sich die Klägerin über Jahre hinweg in psychotherapeutischer Behandlung, die sie selbst bezahlte, weil sie keinen Platz bei einem für sie erreichbaren Therapeuten mit Kassenzulassung erhalten hat. Der nach B 3.7 VMG eröffnete Bewertungsrahmen von 30 bis 40 ist vorliegend nicht auszuschöpfen. Der Tagesablauf der Klägerin ist strukturiert. Sie geht an 32 Stunden in der Woche ihrer Arbeit in einer Kita nach. Anschließend nimmt sie Arzttermine sowie physio- oder psychotherapeutische Behandlungen wahr, besucht ihren Vater oder erledigt Einkäufe. Ein gravierender sozialer Rückzug kann nicht festgestellt werden. Die Klägerin führt seit 30 Jahren eine stabile Beziehung zu ihrem Lebenspartner, der an einem anderen Ort wohnt, mit ihr aber täglich telefoniert. Auch hat sie einen festen Freundeskreis, mit dem sie sich trifft. Ihre Freizeitaktivitäten während der Arbeitswoche sind ihren Angaben zufolge deshalb eingeschränkt, weil sie relativ spät nach Hause kommt. Gemeinsam mit Ihrem Lebenspartner besitzt sie eine Wohnung an einem See in B. Dort verbringen sie fast alle Wochenenden zusammen. Auch von gemeinsamen Essen mit Nachbarn berichtet die Klägerin.
Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX a.F. bzw. § 152 Abs. 3 SGB IX n.F. nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach A 3c VMG ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird.
Danach ist der führende Einzel-GdB von 30 für das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche im Hinblick auf den Einzel-GdB von 20 für das Asthma bronchiale sowie im Hinblick auf die jeweils mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertenden orthopädischen Gesundheitsstörungen, nämlich das Wirbelsäulenleiden sowie die Funktionsbeeinträchtigungen im Funktionssystem der oberen Extremitäten, unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen um zwei Zehnergrade auf 50 heraufzusetzen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.