Gericht | VG Cottbus 3. Kammer | Entscheidungsdatum | 22.10.2021 | |
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Aktenzeichen | 3 K 391/17.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2021:1022.3K391.17.A.00 | |
Dokumententyp | Gerichtsbescheid | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 60 Abs 5 AufenthG |
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen wurde.
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Regelungen in den Textziffern 4. – 6. des Bescheides vom 01. Februar 2021 verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für Afghanistan festzustellen.
Der Kläger trägt fünf Sechstel, die Beklagte ein Sechstel der Kosten des Verfahrens, für welches Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Der Gerichtsbescheid ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Den Beteiligten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des sich aus dem jeweiligen Kostenfestsetzungsbeschluss ergebenden Betrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Kläger, nach eigenen Angaben afghanischer Staats– und tadschikischer Volkszugehörigkeit reiste am 26. Dezember 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 27. April 2016 einen Asylantrag. Bei der Anhörung bei der Beklagten am 18. November 2016 führte er aus, er sei im Iran geboren und dort aufgewachsen. Den Iran habe er am 26. September 2015 verlassen. Die Frage, ob noch Verwandte im Heimatland leben würden, verneinte er. Er habe die Schule nur 7 Monate besucht und könne nur lesen und schreiben. Er sei Bauarbeiter gewesen. Hinsichtlich seines Verfolgungsschicksals merkte er an, zu den Zeiten der Taliban hätten seine Eltern Afghanistan verlassen und seien in den Iran gegangen. Als Schiite würde man in Afghanistan verfolgt und umgebracht. Im Iran seien sie diskriminiert worden. 2015 sei die Verlängerung des Aufenthaltstitels nicht sogleich erfolgt. Er habe in den Krieg nach Syrien gehen sollen. Ein entsprechendes Papier sei ihm vorgelegt worden. Dies habe er unterschrieben. Am 23. September 2015 sei ihm ein Schreiben gezeigt worden, nachdem er sich nach zwei Wochen melden müsse. Es sei um einen Vorbereitungskurs für Syrien gegangen. Dorthin habe er aber auf keinen Fall gehen wollen. Vier Tage danach habe er den Iran verlassen. Auf Frage, warum er nicht nach Afghanistan gehen könne, führte er an, er sei Schiite und in Afghanistan würden die Taliban oder der IS regieren, das seien meistens Sunniten. Die Situation habe sich nicht verbessert, es werde immer schlimmer.
Mit Bescheid vom 1. Februar 2017 wurde der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt und die Flüchtlingseigenschaft sowie der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt. Ferner wurde vermerkt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des AufenthG nicht vorliegen. Dem Kläger wurde für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Zur Begründung führte die Beklagte aus, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Eine Bedrohung habe er nicht erlebt. In Afghanistan, wo er noch nie gelebt habe, werde er nicht verfolgt. Es fehle schon an einem Zusammenhang zwischen den geschilderten Vorkommnissen und der Reise nach Deutschland. Hinsichtlich Afghanistan könne er sich nicht auf eine Gruppenverfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zu der islamisch-schiitischen Glaubensgemeinschaft berufen, auch sei er persönlich nicht bedroht worden. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen gleichermaßen nicht vor. Es seien keine Anhaltspunkte erkennbar, welche die Annahme rechtfertigen würde, ihm würde bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden drohen. Für keine der afghanischen Provinzen könne ein Gefährdungsgrad für alle Zivilpersonen angenommen werden, welcher die Feststellung einer erheblichen individuellen Gefahr rechtfertige. Auch drohe ihm keine Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Afghanistan führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Hinsichtlich der Versorgungslage bestehe ein differenziertes Bild. Einerseits profitiere gerade Kabul vom Wiederaufbau und den Versorgungsleistungen durch die internationale Gemeinschaft. Andererseits stehe die Stadt durch die enorme Anzahl von Rückkehrern vor dem Problem der adäquaten Versorgung. Ein Teil der Rückkehrer habe die Möglichkeit, durch selbständige Arbeit ein Auskommen zu finden, andere seien ohne gesicherte Einkommensquelle am Rande des Existenzminimums in behelfsmäßigen Flüchtlingslagern oder informellen Siedlungen aufhältig. Die Grundversorgung sei eine tägliche Herausforderung. Auch sei die Wohnraumversorgung ungenügend. Trotz positiver Tendenzen sei die Wirtschaftslage weiterhin schwierig und bleibe Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt. Der Vortrag des Klägers, er habe sich bis zur Ausreise im Iran aufgehalten, führe nicht zur Annahme, er könne bei einer Rückkehr nach Afghanistan dort nicht existieren. Maßgeblich sei, ob der Kläger den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht habe und eine der beiden Landessprachen spreche. Der Kläger sei jung und erwerbsfähig und habe im Iran gearbeitet. Es sei davon auszugehen, dass er bei einer Rückkehr in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeit wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen, sich damit zumindest ein Leben am Rande des Existenzminimums zu finanzieren und allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren. Eine individuelle Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG würde gleichermaßen nicht drohen.
Der Kläger hat am 20. Februar 2017 Klage erhoben. Er trägt vor, er sei ernsthaft zum Christentum konvertiert. Als Christ drohe ihm in Afghanistan mit Sicherheit Verfolgung und eine konkrete Gefahr für Leib und Leben. Im Übrigen drohe ihm für den Fall der Rückkehr nach Afghanistan eine extreme Gefahrenlage, die zu einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung im Sine von Art. 3 EMRK führe. Er wäre dort auf sich gestellt und nicht in der Lage, seine Existenz zu sichern. Er sei als „faktischer Iraner“ 19-jährig nach Deutschland eingereist und lebe hier nun seit fünf Jahren. Mit den Gegebenheiten in Afghanistan sei er nicht vertraut und könne dort auf keinerlei Rückhalt oder Unterstützung hoffen. Auch belegten die aktuellen Erkenntnismittel, dass insbesondere in Ansehung der Pandemie eine erhebliche Gefahrenlage gegeben sei und nunmehr ohne finanzielle Unterstützung es an einer Unmöglichkeit grenze, seinen Lebensunterhalt auf legale Weise zu bestreiten. Zwei Drittel der Bevölkerung würden unter sehr schlechten Bedingungen in Camps und informellen Siedlungen in Armut leben. Die notwendigen Bedarfe (Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts sowie der notwendigen persönlichen Dinge) könnten in Afghanistan nicht gedeckt werden. Er wäre nicht nur vorübergehend der Unterdeckung seiner elementaren Bedürfnisse ausgesetzt.
Der Kläger, der ursprünglich auch die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes sowie des subsidiären Schutzes begehrt hatte, beantragt nunmehr
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 1. Februar 2017 zu verpflichten, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung nimmt sie Bezug auf den Inhalt des angegriffenen Bescheides.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, Bezug genommen.
Das Verfahren wird gemäß § 92 Abs. 3 S. 1 VwGO eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen wurde.
Im Übrigen hat die Klage Erfolg.
Dem Kläger steht zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG ein Anspruch gegenüber der Beklagten auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 5 AufenthG zur Seite, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die dem entgegenstehenden Regelungen des angegriffenen Bescheides vom 01. Februar 2017 sind aufzuheben.
Nach der genannten Vorschrift darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen (BVerwG, Beschl. v. 13.02.2019 - 1 B 2.19, BeckRS 2019, 3604, Rn. 6; Hamburgisches OVG, Urt. v. 25.03.2021 - 1 Bf 388/19.A, Rn. 49 über juris; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20, Rn. 22 ff. über juris; Urt. v. 12.12.2018-A 11 S 1923/17, Rn. 107 f. über juris, jeweils m.w.N.; VG Freiburg, Urt. v. 16.03.2021 - A1 5 K 9379/17, Rn. 28 über juris; Urt. v. 05.03.2021 -A 8 K 3716/17, BeckRS 2021, 4316, Rn. 27). Dieses ist dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20, Rn. 23; Urt. v. 12.12.2018 - A 11 S 1923/17, Rn. 109 f. über juris m.w.N.).
Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Es sind also nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche" Gefahren auf Grund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies aber nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt (Hamburgisches OVG, Urt. v. 25.03.2021 - 1 Bf 388/19.A, Rn. 49 f. über juris; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20, Rn. 23; Urt. v. 12.12.2018 -A 11 S 1923/17, Rn. 111 f. über juris m.w.N.; VGH München, Beschl. v. 30.09.2015 - 13a ZB 15.30063, Rn. 5 über juris; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 13.02.2019 - 1 B 2.19, BeckRS 2019, 3604, Rn. 6). Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw. (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20, Rn. 26; Urt. v. 12.12.2018 - A 11 S 1923/17, Rn. 117 f. juris m.w.N.). Maßgeblich ist, ob es dem Betroffenen möglich ist, seine Grundbedürfnisse Unterkunft, Nahrung und Hygiene zu befriedigen (EGMR, Urt. v. 21.01.2011 -30696/09, NVwZ 2011, 413, 415 f., Rn. 254 - M.S. S./Belgien u. Griechenland). Dabei spielt es auch eine Rolle, ob in der jeweiligen Lage jede Aussicht auf Verbesserung derselben fehlt (EGMR, Urt. v. 28.06.2011 -8319/07, NVwZ 2012, 681, 685, Rn. 283 ff. -Suf i u. ElmiA/ereinigtes Königreich; Urt. v. 21.01.2011 - 30696/09, NVwZ 2011, 413, 416, Rn. 254-M.S. S./Belgien u. Griechenland). Zu berücksichtigen kann auch sein, dass - wenn dies der Fall ist - dem Betroffenen Rückkehrhilfen zur Verfügung stehen bzw. tatsächlich gewährt werden (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20, Rn. 26 und 91 ff.; VG Freiburg, Urt. v. 16.03.2021 -A 15 K 9379/17, Rn. 51 ff. über juris; Urt. v. 05.03.2021 - A 8 K 3716/17, BeckRS 2021, 4316, Rn.47 ff.).
Bei der Beurteilung ist insoweit ebenfalls der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen, d.h. es ist zu fragen, ob eine Verletzung von Art. 3 EMRK in diesem Sinne hinreichend sicher zu erwarten ist (BVerwG, Beschl. v. 13.02.2019 - 1 B 2.19, BeckRS 2019, 3604, Rn. 6; Hamburgisches OVG, Urt. v. 25.03.2021 - 1 Bf 388/19.A, Rn. 28 über juris; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20, Rn. 27 – juris -; VG Freiburg, Urt. v. 05.03.2021 - A 8 K 3716/17, BeckRS 2021, 4316, Rn. 27).
Abzustellen ist dabei zunächst auf denjenigen Ort, der der zu prognostizierende, aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich zu erwartende Zielort des Ausländers im Falle einer Rückkehr in seine Heimat ist (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20, juris; VG Freiburg, Urt. v. 16.03.2021 - A 15 K 9379/17, Rn. 29 über juris; Urt. v. 05.03.2021 - A 8 K 3716/17, BeckRS 2021, 4316, Rn. 29 m.w.N.).
Sofern der Kläger vor seiner Ausreise aus seinem Heimatland nicht an diesem Zielort gelebt hat, sind des Weiteren die landesweiten Verhältnisse und die Situation in der Herkunftsregion des Klägers, in die er voraussichtlich zurückkehren wird, maßgeblich (OVG Koblenz, Urt. v. 30.11.2020 - 13 A 11421/19.0VG, BeckRS 2020, 38418, Rn. 110; VGH München, Urt. v. 17.07.2018-20 B 17.31659, BeckRS 2018, 18507, Rn. 36; vgl. EGMR, Urt. v. 28.06.2011 -8319/07, NVwZ 2012, 681, 684, Rn. 265ff. - Sufi u. Elmi/Vereinigtes Königreich).
Die etwaige Verletzung von Art. 3 EMRK muss dabei in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung stehen (Hamburgisches OVG, Urt. v. 25.03.2021 - 1 Bf 388/19.A, Rn. 138 ff. über juris m.w.N.; vgl. auch (eingehend) VG Freiburg, Urt. v. 05.03.2021 - A 8 K 3716/17, BeckRS 2021, 4316, Rn. 50 ff.).
Eine (tatrichterlichen) Prognoseerstellung für den jeweils betroffenen (Einzel-)Fall ist anzustellen (vgl. zu allem: VG Freiburg, Urteil vom 27. August 2021 - A 14 K 2187/20 –zitiert nach juris).
Die wirtschaftliche und humanitäre Situation in Afghanistan stellt sich im Wesentlichen wie folgt dar:
Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt und geprägt von seit Jahrzehnten andauernden gewaltsamen Konflikten und einer volatilen Sicherheitslage (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, in der Fassung vom 14.01.2021, S. 22; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 25.06.2021, S. 34 und 359 f.). Die Armutsrate wird mit 80 % angegeben und es wird als nahezu unmöglich angesehen, dass der afghanische Staat die Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung angemessen befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen, etwa im Bildungsbereich, bereit stellen kann (Auswärtiges Amt, a.a.O. S. 22; vgl. auch EASO, Afghanistan Key socio-economic indicators, August 2020, S. 36). Die Versorgungslage wird durch ein Bevölkerungswachstum, welches vor allem durch Geburten, gestiegene Lebenserwartung und die Rückkehr von bis dahin in den benachbarten Ländern Iran und Pakistan lebenden Afghanen bedingt ist, bei weiterhin schwacher Wirtschaftsleistung zuletzt zunehmend beeinträchtigt und erschwert (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 4, 18 und 22; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, a.a.O., S. 359; EASO, Afghanistan Key socio-economic indicators, August 2020, S. 23 und 36). Die Arbeitslosenquote ist eine der höchsten weltweit und lag 2017 bei 11,2 % innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung ab 15 Jahren, wobei der ganz große Anteil der Beschäftigungsverhältnisse in dem informellen Sektor ist (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 22; EASO, Afghanistan Key socio-economic indicators, August 2020, S. 28; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 25.06.2021, S. 356 und 363 f.). Das bedeutet, dass die in diesem Sektor Beschäftigten keine rechtliche oder soziale Absicherung haben und oft mehr als die gesetzlich vorgesehenen 40 Stunden pro Woche arbeiten, bei gleichzeitiger Unterbezahlung (EASO, Afghanistan Key socioeconomic indicators, August 2020, S. 27 und 30). Der Arbeitsmarkt wird von der Landwirtschaft geprägt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 25.06.2021, S. 356; EASO, Afghanistan Key socio-economic indicators, August 2020, S. 27). Der Zugang zum Arbeitsmarkt sowie auch der Aufbau einer Existenz und die Sicherheit an einem bestimmten Ort hängen ganz zentral davon ab, ob ein belastbares lokales soziales Netzwerk vorhanden ist, etwa in Person von Familienangehörigen (Auswärtiges Amt, a.a.O. in der Fassung vom 14.01.2021, S. 18 und 24 f.; EASO, Afghanistan Key socio-economic indicators, August 2020, S. 31; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 25.06.2021, S. 390 ff.).
Die große Mehrzahl von über 70 % der städtischen Bevölkerung in Afghanistan lebt in Slums oder unangemessenen Behausungen, die oft überbelegt sind (EASO, Afghanistan Key socio-economic indicators, August 2020, S. 60).
Diese schon prekäre Lage hat sich Berichten zufolge durch die Corona-Pandemie weiter verschärft, indem der Bedarf hinsichtlich der Gesundheits- und Nahrungsmittelversorgung gestiegen ist und zugleich der Arbeitsmarkt weiter geschwächt wurde (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 25.06.2021, S. 17 f.; ACCORD, ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif, 06.05.2021; Auswärtiges Amt, a.a.O. S. 4 und 22 f.; EASO, Afghanistan Key socio-economic indicators, August 2020, S. 23). Für das Jahr 2020 wurde von 14 Millionen Menschen in Afghanistan ausgegangen, die zur Abdeckung ihrer grundlegenden Bedürfnisse Unterkunft, Nahrung, sauberes Trinkwasser und medizinische Versorgung auf humanitäre Hilfe angewiesen sind (Auswärtiges Amt, a.a.O. S. 22). Seit März 2020 wird über teilweise stark gestiegene Preise für Nahrungsmittel berichtet (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 25.06.2021, S. 17 f.; ACCORD, ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Scharif, 06.05.2021; EASO, Afghanistan Key socio-economic indicators, August 2020, S. 39 f.). Die Preise für Nahrung und Benzin hätten sich seit Mitte August 2021 verdoppelt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing notes 18. Oktober 2021).
Die in der Vergangenheit gegebene, durch gewalttätige Auseinandersetzungen im ganzen Land gekennzeichnete Sicherheitslage und die der Machtergreifung der Taliban vorangehenden militärischen Auseinandersetzungen haben zu massiven Binnenfluchtbewegungen innerhalb Afghanistans, namentlich in den letzten Wochen, geführt (UNHCR, Afghanistan: Mehr Unterstützung für humanitäre Hilfe dringend benötigt, 20.08.2021, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation, 17.08.2021, S. 2; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 16.08.2021, S. 2). Von 3,5 Mio. binnenvertriebenen Menschen wird berichtet (ecoi.net, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, Stand 5. Oktober 2021). Ausweislich eines Berichts von Toney Aseh (UNHCR) vom 15. Oktober 2021 „Hungry and shivering, Kabul displaced brace for bleak Winter“ hat sich die Ausbreitung von Hunger nach der Machtübernahme durch die Taliban weiter verschlimmert. Mitte September hatten nur 5 Prozent der Afghanen genug zu essen, und jeder Dritte befand sich in einer Krise oder in einer Notsituation der Ernährungsunsicherheit. In den letzten zwei Wochen hat danach das UNHCR rund 100.000 Menschen in ganz Afghanistan mit Notunterkünften, Decken, Solarzellen und Bargeld für die Bedürftigsten unterstützt. Insgesamt hat das UNHCR in diesem Jahr bisher mehr als eine halbe Million Vertriebene mit Hilfe erreicht. Nur 35 Prozent der Mittel, die zur Unterstützung der Maßnahmen in den nächsten zwei Monaten benötigt werden, sind – so die Aussage des UNHCR – bisher eingegangen. Obwohl die Kämpfe beendet sind, herrscht weiterhin Unsicherheit, und die Familie haben Angst zurückzukehren. Nach Angaben der Vereinten Nationen haben sich seit dem Abflauen der Kämpfe rund 156 000 Vertriebene für die Rückkehr in ihre Heimat entschieden. In der vergangenen Woche hat das UNHCR 660 Familien bei der Rückkehr in die nördlichen Regionen des Landes unterstützt. Die Rückkehrer erhalten 200 US-Dollar pro Haushalt für die Transportkosten und weitere 400 US-Dollar für die Wiedereingliederung. Weitere 280 Familien werden bis Ende Oktober in das zentrale Hochland zurückkehren können. Viele der nach Kabul Vertriebenen befürchten jedoch, dass es für sie nur noch wenig gibt, in das sie zurückkehren können, da ihre Häuser und Lebensgrundlagen durch die Kämpfe zerstört wurden. Nach WFP Afghanistan, Stand 13. Oktober 2021 sind 14 Millionen Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen, 3,2 Millionen Kinder, von akuter Unterernährung bedroht. Von über 9,3 Millionen Begünstigte, die das WFP im Jahr 2021 bisher erreicht hat, wird berichtet. 34 Provinzen erhalten Nahrungsmittel- und Ernährungshilfe. 200 Millionen US-Dollar sind für die Unterstützung bis Dezember 2021 erforderlich; 100 Millionen US-Dollar sind bisher verfügbar.
Zudem droht eine weitere erhebliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Afghanistan. Es wird befürchtet, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2021 um 9,7 % sinken wird und die steigenden Preise sowie der Verfall der Landeswährung die Wirtschaftskrise verstärken werden (BAMF, Briefing Notes v. 6.9.2021; WFP, Countrywide market price bulletin v. 22.8.2021, a.a.O.). Der Arbeitsmarkt ist angespannt, die Verfügbarkeit an Arbeitsplätzen hat ihren niedrigsten Stand seit Februar 2021 erreicht. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren und Unternehmen sind derzeit aufgrund der Unterbrechung des Bankensystems nicht mehr in der Lage, die täglichen Kosten und die Löhne ihrer Mitarbeiter zu bezahlen (BAMF, Briefing Notes v. 6.9.2021; WFP, Countrywide market price bulletin v. 22.8.2021; https://tolonews.com/business-174505, 4.9.2021). Der Fluss internationaler Finanzmittel wurde gestoppt, so hat u.a. auch Deutschland bereits die Entwicklungshilfen für Afghanistan ausgesetzt. Viele Bankfilialen sind deshalb nach wie vor geschlossen, da sie kein Geld an ihre Kunden auszahlen können (Afghanistan Analysts Network, Report v. 6.9.2021, a.a.O.). Das Land befindet sich nach Einschätzungen des WFP (Situation Report v. 2.9.2021, im Internet allgemein abrufbar unter: https://reliefweb.int/report/afghanistan/wfp-afghanistan-situation-report-2-2- September-2021) kurz vor einem wirtschaftlichen Kollaps. Hinzukommt, dass die Vereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. $ (7,66 Mrd. €) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt (DW 24.8.2021). Da keine neuen Dollarlieferungen zur Stützung der Währung ankommen, ist die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen (DW 24.8.2021).
Dass dies Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung und die Investitionstätigkeit im Lande hat, liegt auf der Hand. Vor einem ökonomischen Kollaps wird gewarnt. Ein normales wirtschaftliches Leben in Afghanistan findet gegenwärtig nicht statt.
Dies alles belegt, dass sich die humanitäre Situation aufgrund der beschriebenen jüngsten Ereignisse als selbst gegenüber der ohnehin schon schwierigen Lage noch weiter zugespitzt hat (UNHCR, Afghanistan: Mehr Unterstützung für humanitäre Hilfe dringend benötigt, 20.08.2021, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation, 17.08.2021, S. 4 f.). Insgesamt ist mithin zu sehen, dass die Fähigkeit, die existenziellen Grundbedürfnisse abzudecken, gerade in der derzeitigen, von großen Unsicherheiten und einem Umbruch geprägten Situation in Afghanistan vor allem von der Anbindung an ein tragfähiges soziales Netzwerk wie die (Groß-) Familie, dem Vorhandensein eigener Vermögenswerte oder einer nachhaltigen finanziellen oder materiellen Unterstützung durch Dritte und der eigenen Leistungs- und Erwerbsfähigkeit und Resilienz sowie dem Umfang des eigenen Bedarfs, einschließlich etwaiger Unterhaltsverpflichtungen, und einer etwaigen Vulnerabilität abhängt (vgl. Hamburgisches OVG, Urt. v. 25.03.2021 - 1 Bf 388/19.A, Rn. 52 ff. über juris; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020-A 11 S 2042/20, Rn. 105; VG Hamburg, Urt. v. 11.06.2021 -1 A 1132/19, Rn 64 ff.; VG Freiburg, Urt. v. 05.03.2021 -A 8 K 3716/17, BeckRS 2021, 4316, Rn. 62 ff.).
Vor dem Hintergrund der durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Situation kommt es in diesem Rahmen jeweils auf eine Betrachtung der individuellen Situation des Betroffenen an, wobei auch eine generelle Abhängigkeit der afghanischen Bevölkerung insgesamt von ausländischen Hilfen zumindest streckenweise wahrscheinlich erscheint.
Nach diesen Vorgaben ist vorliegend für den Kläger selbst unter Anlegung des oben dargelegten, strengen Maßstabes eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK gegeben. Im Rahmen einer zwar hypothetischen aber realistischen Betrachtung ist davon auszugehen, dass der Kläger in Afghanistan in Kabul leben würde. Bis zu seiner Ausreise hat er sich nur im Iran aufgehalten und kann nicht auf verwandtschaftliche Bindungen in eine bestimmte Region Afghanistans zurückgreifen. Ein tragfähiges familiäres Netzwerk ist weder in Kabul noch in einer anderen Region Afghanistans vorhanden.
In der gegenwärtigen, von großen Unsicherheiten geprägten Lage und vor dem Hintergrund der skizzierten zahlreichen Schwierigkeiten für die Wirtschaft und die Versorgung bereits mit Grundnahrungsmitteln ist es in Anbetracht der individuellen Situation des Klägers, der über einen auch nach afghanischen Verhältnissen allenfalls durchschnittlichen Bildungsstand verfügt, zumindest beachtlich wahrscheinlich, dass er auf Unterstützungsleistungen Dritter zwingend angewiesen sein würde. Es kann nicht erwartet werden, dass er in absehbarer Zeit eine Erwerbstätigkeit wird ausüben können, die ihm die Bestreitung des eigenen Unterhalts ermöglichen würde.
Insgesamt führt die durch die jüngste Entwicklung noch zusätzlich verschärfte wirtschaftliche und humanitäre Situation in Afghanistan und insbesondere in Kabul dazu, dass der Kläger auch in Anbetracht seiner individuellen Situation in eine prekäre Lage geraten würde, in der es zumindest beachtlich wahrscheinlich erscheint, dass er bereits innerhalb der Zeitspanne von wenigen Wochen den nötigsten Lebensunterhalt nicht mehr zur Verfügung hätte und so ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK vorliegen würde. Er könnte allenfalls auf den Tagelöhnermarkt verwiesen werden, dessen existenzsichernde Funktion schon vor der Machtergreifung der Taliban mit beachtlichen Argumenten verneint wurde (vgl. Schwörer, Gutachten an den VGH Baden-Württemberg, „Auswirkungen der Covid-19 Pandemie auf die Lage in Afghanistan“ dort S. 16 ff. S. 23). Dies konnte nach der Rechtsprechung der Kammer in der Regel durch die bei einer freiwilligen Ausreise zu erwartenden Unterstützungsleistungen als kompensiert angesehen werden. Derartige Hilfen stehen aber derzeit nicht zur Verfügung.
Von daher fehlt es an jeglicher Sicherheit für den Kläger in einem Land, welches von dramatischer Ernährungsunsicherheit betroffen ist, dessen wirtschaftliche Entwicklung mangels internationalem Kapital und solchem, auf das ohne weiteres zurückgegriffen werden kann, darniederliegt und in dem neue politische Strukturen – unabhängig von der gewählten Richtung – nicht effizient angelegt sind. Eine Verelendung ist nach dem hier gebotenen Maßstab bei einer Rückkehr beachtlich wahrscheinlich.
Ob daneben auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner abschließenden Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (grundlegend: BVerwG, Urteil.vom 8. September 2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140,319 Rn. 16 f.).
Wegen des Vorliegens eines Abschiebungsverbots entfallen auch die Voraussetzungen für die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziffern 5 und 6 des angefochtenen Bescheids). Der Bescheid ist daher auch insoweit (auf die dementsprechende Anfechtungsklage hin) aufzuheben.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO bzw. – soweit die Klage zurückgenommen wurde – § 155 Abs. 2 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60.08 – juris). Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung.