Gericht | LArbG Berlin-Brandenburg 15. Kammer | Entscheidungsdatum | 13.05.2020 | |
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Aktenzeichen | 15 Sa 1991/19 | ECLI | ECLI:DE:LAGBEBB:2020:0513.15SA1991.19.00 | |
Dokumententyp | EuGH-Vorlage | Verfahrensgang | - | |
Normen |
I. Der Rechtsstreit wird bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ausgesetzt.
II. Dem Europäischen Gerichtshof werden folgende Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit (Leiharbeitsrichtlinie) vorgelegt:
1. Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen schon dann nicht mehr als „vorübergehend“ im Sinne des Artikel 1 der Leiharbeitsrichtlinie anzusehen, wenn die Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz erfolgt, der dauerhaft vorhanden ist und der nicht vertretungsweise besetzt wird?
2. Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers unterhalb einer Zeitspanne von 55 Monaten als nicht mehr „vorübergehend“ im Sinne des Artikel 1 der Leiharbeitsrichtlinie anzusehen?
3. Falls die Fragen zu 1. und/oder 2. bejaht werden, ergeben sich folgende Zusatzfragen:
3.1. Besteht für den Leiharbeitnehmer ein Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen, auch wenn das nationale Recht eine solche Sanktion vor dem 01.04.2017 nicht vorsieht?
3.2. Verstößt eine nationale Regelung wie § 19 Absatz 2 AÜG dann gegen Artikel 1 der Leiharbeitsrichtlinie, wenn sie erstmals ab dem 01.04.2017 eine individuelle Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten vorschreibt, vorangegangene Zeiten der Überlassung aber ausdrücklich unberücksichtigt lässt, wenn bei Berücksichtigung der vorangegangenen Zeiten die Überlassung als nicht mehr vorübergehend zu qualifizieren wäre?
3.3. Kann die Ausdehnung der individuellen Überlassungshöchstdauer den Tarifvertragsparteien überlassen werden? Falls dies bejaht wird: Gilt dies auch für Tarifvertragsparteien, die nicht für das Arbeitsverhältnis des betroffenen Leiharbeitnehmers, sondern für die Branche des entleihenden Unternehmens zuständig sind?
I. Sachverhalt und nationale rechtliche Grundlagen
1. Der Kläger war seit dem 01.09.2014 bei dem Leiharbeitsunternehmen I. beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis war anfangs zweimal auf jeweils ein Jahr befristet worden und wurde danach unbefristet durchgeführt. In einer Zusatzvereinbarung zum Arbeitsvertrag war vereinbart worden, dass der Kläger die Arbeitsleistung bei der D., der hiesigen Beklagten, in deren Betrieb in Berlin als Metallarbeiter zu erbringen hat. Die D. ist ein Großunternehmen der Automobilindustrie. Die dort auszuführenden Arbeitsschritte in der Motorenfertigung waren in der Zusatzvereinbarung genau beschrieben worden. Nach dem Arbeitsvertrag des Klägers kommen auf das Arbeitsverhältnis bestimmte, für die Leiharbeitsbranche geltende Tarifverträge zur Anwendung.
2. Der Kläger war vom 01.09.2014 bis 31.05.2019 ausschließlich der Beklagten als entleihendes Unternehmen überlassen worden. Er arbeitete ständig in der Motorenfertigung. Ein Vertretungsfall lag nicht vor. Unterbrochen war diese Zeit nur für 2 Monate (vom 21.04.2016 bis 20.06.2016), während derer der Kläger wegen Elternzeit(Elternurlaub) von der Arbeit freigestellt war.
3. Das deutsche Gesetz zur Regelung der Arbeitnehmerüberlassung (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz – AÜG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 3.2.1995 (Bundesgesetzblatt I 1995, 158), geändert durch das Erste Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes – Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung vom 28.4.2011 (Missbrauchsverhinderungsgesetz - Bundesgesetzblatt I 2011, 642) regelte in der vom 01.12.2011 bis zum 31.03.2017 geltenden Fassung in § 1 Absatz 1 Satz 2:
„Die Überlassung von Arbeitnehmern an Entleiher erfolgt vorübergehend.“
4. Ein Verstoß hiergegen wurde nicht sanktioniert. Dem gegenüber wurden in § 9 AÜG unter anderem Verträge zwischen Verleiher (Leiharbeitsunternehmen) und Entleiher sowie zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer für unwirksam erklärt, wenn der Verleiher nicht die nach dem Gesetz erforderliche Erlaubnis besaß. § 10 AÜG regelte insofern, dass in diesem Fall ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer als zustande gekommen gilt.
5. Mit dem Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze vom 21.02.2017 (Bundesgesetzblatt I 2017, 258) wurde das AÜG mit Wirkung ab dem 01.04.2017 geändert. In § 1 AÜG wurde der Absatz 1b neu eingefügt. Dieser lautet seitdem:
„Der Verleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate demselben Entleiher überlassen; der Entleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate tätig werden lassen. Der Zeitraum vorheriger Überlassungen durch denselben oder einen anderen Verleiher an denselben Entleiher ist vollständig anzurechnen, wenn zwischen den Einsätzen jeweils nicht mehr als 3 Monate liegen. In einem Tarifvertrag von Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche kann eine von Satz 1 abweichende Überlassungshöchstdauer festgelegt werden. … In einer aufgrund eines Tarifvertrages von Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche getroffenen Betriebs- oder Dienstvereinbarung kann eine von Satz 1 abweichend Überlassungshöchstdauer festgelegt werden. …“
6. In § 9 Absatz 1 AÜG ist eine Ziffer 1b eingefügt worden, in der es heißt:
„Unwirksam sind:
…
1b. Arbeitsverträge zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer mit dem Überschreiten der zulässigen Überlassungshöchstdauer nach § 1 Absatz 1b, es sei denn, der Leiharbeitnehmer erklärt schriftlich bis zum Ablauf eines Monats nach Überschreiten der zulässigen Überlassungshöchstdauer gegenüber dem Verleiher oder dem Entleiher, dass er an dem Arbeitsvertrag mit dem Verleiher festhält,
…“
7. In § 10 Absatz 1 Satz 1 AÜG die Rechtsfolge der Unwirksamkeit nunmehr allgemeiner geregelt:
„Ist der Vertrag zwischen einem Verleiher und einem Leiharbeitnehmer nach § 9 unwirksam, so gilt ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer zu dem zwischen dem Entleiher und dem Verleiher für den Beginn der Tätigkeit vorgesehenen Zeitpunkt als zustande gekommen; tritt die Unwirksamkeit erst nach Aufnahme der Tätigkeit beim Entleiher ein, so gilt das Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer mit dem Eintritt der Unwirksamkeit als zustande gekommen. …“
8. § 19 Absatz 2 AÜG enthält eine Übergangsvorschrift:
„Überlassungszeiten vor dem1. April 2017 werden bei der Berechnung der Überlassungshöchstdauer nach § 1 Absatz 1b … nicht berücksichtigt.“
9. In dem unter anderem für die Automobilindustrie geltenden „Tarifvertrag zur Leih-/Zeitarbeit in der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg vom 23.05.2012“ (Blatt 41 der Akte), der zwischen dem Verband der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg e.V. und der Industriegewerkschaft Metall (IGM) abgeschlossen wurde, ist unter anderem geregelt, dass ein vorübergehender Einsatz von Leiharbeitnehmern bei Erfüllung weiterer Voraussetzungen zulässig ist. Danach ist ein solcher Einsatz zum Beispiel dann zulässig, wenn er befristet erfolgt. In Ziffer 3 dieses Tarifvertrages wird den Betriebsparteien die Möglichkeit eingeräumt, Näheres durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung zu regeln. Dies kann auch die Höchstdauer des Einsatzes und Übernahmeregeln beinhalten. Wird eine solche Betriebsvereinbarung nicht abgeschlossen, hat gemäß der Ziffer 4 dieses Tarifvertrages der Entleiher nach 18 Monaten der Überlassung zu prüfen, ob er dem Leiharbeitnehmer einen unbefristeten Arbeitsvertrag anbieten kann. Nach 24 Monaten der Überlassung hat der Entleiher dem Leiharbeitnehmer einen unbefristeten Arbeitsvertrag anzubieten. Bei Unterbrechungen von weniger als 3 Monaten werden Einsatzzeiten im selben Betrieb addiert. Der Tarifvertrag regelte nicht ausdrücklich, ob die freiwillige Betriebsvereinbarung mit dem örtlichen Betriebsrat oder dem überörtlichen Gesamtbetriebsrat abzuschließen war.
10. Der nachfolgende „Tarifvertrag zur Leih-/Zeitarbeit in der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg vom 01.06.2017“ (Blatt 47 der Akte), der von den gleichen Tarifvertragsparteien abgeschlossen wurde, enthält ähnliche Regelungen. Es wird zusätzlich ausdrücklich auf die gesetzliche Öffnungsklausel in § 1 Absatz 1b AÜG Bezug genommen. Die Tarifvertragsparteien stimmen ferner darin überein, dass die Höchstdauer eines Einsatzes nach diesem Tarifvertrag 48 Monate nicht überschreiten darf. Ausnahmen erfolgen für einen Einsatz wegen eines Sachgrundes. Für Betriebe ohne Betriebsvereinbarung gelten für die Überprüfung und das Angebot auf einen unbefristeten Arbeitsvertrag die gleichen Regelungen wie in dem Tarifvertrag zuvor. Ziffer 8 des Tarifvertrages enthält eine Übergangsregelung. Danach sollen die Betriebsparteien eine Überlassungshöchstdauer vereinbaren. Sofern keine Einigung erzielt wird, gilt eine Überlassungshöchstdauer von 36 Monaten ab dem 01.06.2017.
11. Für den Betrieb der Beklagten in Berlin besteht keine Betriebsvereinbarung, die mit der örtlichen betrieblichen Arbeitnehmervertretung (Betriebsrat) abgeschlossen worden wäre. Auf der Ebene des Unternehmens regelt eine Gesamtbetriebsvereinbarung (abgeschlossen zwischen der Beklagten und dem überörtlichen Gesamtbetriebsrat) vom 16.09.2015 unter anderem den Einsatz von Leiharbeitnehmern, wobei der Begriff „Zeitarbeitnehmer“ verwendet wird (Blatt 54 der Akte). Nach Nummer 4.5. der Gesamtbetriebsvereinbarung wird es dem Zeitarbeitnehmer ermöglicht, in das Unternehmen der Beklagten einzutreten, wenn Vorgesetzte dies bei Erfüllung weiterer Bedingungen beantragen. Entsprechende Anträge sollen spätestens nach 3 Jahren gestellt werden. Nach Nummer 5 dieser Vereinbarung können pro Kalenderjahr von der Werksleitung einseitig im Bereich der Produktion Zeitarbeitnehmer und/oder befristete Beschäftigte im Umfang von bis zu 8 % gemessen an den Mitarbeitern der Produktion eingesetzt werden. Bei einer Überschreitung von 4 % von Zeitarbeitnehmern besteht eine Beratungspflicht mit dem Betriebsrat.
12. In einer weiteren Gesamtbetriebsvereinbarung vom 20.09.2017 (Blatt 64 der Akte) wird die bisherige Gesamtbetriebsvereinbarung ergänzt. In der Produktion darf der Einsatz von Zeitarbeitnehmer eine Höchstdauer von 36 Monaten nicht überschreiten. Für Zeitarbeitnehmer, die am 01.04.2017 bereits beschäftigt waren, zählen für die Überlassungshöchstdauer von 36 Monaten als Einsatzzeiten nur diejenigen ab dem 01.04.2017.
13. Mit der am 27.06.2019 beim Arbeitsgericht Berlin erhobenen Klage begehrt der Kläger inzwischen die Feststellung, dass zwischen den Parteien seit dem 01.09.2015, hilfsweise seit dem 01.03.2016, weiter hilfsweise seit dem 01.11.2016, weiter hilfsweise seit dem 01.10.2018 und äußerst hilfsweise seit dem 01.05.2019 ein Arbeitsverhältnis besteht.
14. Er hat in der ersten Instanz die Ansicht vertreten, dass die Überlassung an die Beklagte wegen ihrer mehr als einjährigen Dauer nicht mehr als „vorübergehend“ eingestuft werden könne. Dies und insbesondere die Stichtagsregelung des § 19 Absatz 2 AÜG verstießen gegen das Unionsrecht. Ein vorübergehender Bedarf könne keinesfalls länger sein als der höchstzulässige Zeitraum für eine Befristung ohne Sachgrund. Dies seien (entsprechend der deutschen Regelung) maximal 24 Monate. Auch sei zu berücksichtigen, dass er Daueraufgaben erledigt habe. Daher bestehe ein Arbeitsverhältnis zu der Beklagten.
15. Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, dass das Kriterium „vorübergehend“ seit dem 01.04.2017 durch den Gesetzgeber geklärt worden sei. Danach könne von der maximalen Überlassungsdauer von 18 Monaten durch Tarifvertrag der Einsatzbranche abgewichen werden. Nach der gesetzlichen Regelung sei es den Tarifvertragsparteien erlaubt, weitere Regelungen durch Betriebsvereinbarung zuzulassen. Die Gesamtbetriebsvereinbarung vom 20.09.2017 enthalte solche Regelungen. Die dort vorgesehene Überlassungshöchstdauer von 36 Monaten sei nicht überschritten worden, da nur Zeiten ab dem 01.04.2017 zu berücksichtigen seien.
16. Das Arbeitsgericht Berlin hat sich im Urteil vom 08.10.2019 der Rechtsansicht der Beklagten angeschlossen und die Klage abgewiesen. Ein Verstoß gegen das Unionsrecht hat das Gericht aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung dahingestellt sein lassen.
17. Hiergegen richtet sich die am 22.11.2019 beim hiesigen Landesarbeitsgericht eingegangene Berufung, die am 30.01.2020 begründet worden ist. Die Parteien halten insofern an ihren in der ersten Instanz geäußerten Rechtsansichten fest. Die Beklagte behauptet ferner, den bei ihr im Betrieb Berlin bestehenden Betriebsrat jeweils quartalsweise zu den Einsätzen von Leiharbeitnehmern angehört zu haben. Die geplanten Einsätze seien zum jeweiligen Quartalsende befristet worden. Dies sei so auch für Einsätze des Klägers geschehen. Der Kläger bestreitet dies und hält 18 Verlängerungen in einem Zeitraum von 56 Monaten für rechtsmissbräuchlich.
II. Rechtliche Beurteilung nur auf Basis des nationalen Rechts
18. Vor dem Jahr 2017 existierten im Bereich des hiesigen Verleihers und des hiesigen Entleihers keine tarifvertraglichen oder betrieblichen Regelungen, die eine maximale Überlassungsdauer gesondert geregelt haben.
19. Vor dem 01.04.2017 fehlt eine ausdrückliche gesetzliche Sanktion für den Fall, dass die Überlassung an das entleihende Unternehmen nicht mehr als vorübergehend eingestuft werden kann. Das Bundesarbeitsgericht geht daher davon aus, dass auch dann kein Arbeitsverhältnis zwischen Leiharbeitnehmer und Entleiher zu Stande kommt, wenn der Einsatz des Leiharbeitnehmers nicht nur vorübergehend erfolgt (Bundesarbeitsgericht 10.12.2013 – 9 AZR 51/13 – Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, 2014, 196).
20. Seit dem 01.04.2017 beträgt nach dem AÜG die maximale Überlassungsdauer 18 Monate, wobei wegen der gesetzlichen Übergangsvorschrift nur Zeiten ab diesem Stichtag berücksichtigt werden. Insofern käme ein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zum 01.10.2018 zu Stande.
21. Nach der gesetzlichen Regelung kann hiervon jedoch durch einen Tarifvertrag abgewichen werden, der von den Tarifvertragsparteien der Entleihbranche abgeschlossen wird. Hierzu wird auch die Ansicht vertreten, dass dies gegen die in der Verfassung garantierte Tarifautonomie verstößt. Teilt man diese Bedenken und käme es hierauf an, müsste der Rechtsstreit insofern dem Bundesverfassungsgericht nach Artikel 100 Grundgesetz vorgelegt werden. Geht man von der Wirksamkeit der gesetzlichen Regelung aus, dann war im Tarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie vom 01.06.2017 in der Übergangsregelung für Betriebe mit Betriebsrat (ein solcher bestand in Berlin) eine Höchstüberlassungsdauer von 36 Monaten gerechnet ab dem 01.06.2017 für den Fall vorgesehen, dass eine Betriebsvereinbarung nicht abgeschlossen wird. Dies wäre der 01.06.2020 gewesen. Zu diesem Zeitpunkt war die Überlassung des Klägers jedoch schon beendet.
22. Der Tarifvertrag vom 01.06.2017 ermöglichte auch Abweichungen durch Betriebsvereinbarung. Die freiwillige Gesamtbetriebsvereinbarung vom 20.09.2017 sah eine Höchstüberlassungsdauer von 36 Monaten gerechnet ab dem 01.04.2017 vor. Danach hätte der Kläger bis zum 01.04.2020 beschäftigt werden können. Auch zu diesem Zeitpunkt war der Kläger nicht mehr überlassen worden. Insofern kann die Rechtsfrage offenbleiben, ob eine solche Betriebsvereinbarung gemäß § 50 Betriebsverfassungsgesetz wirksam durch den Gesamtbetriebsrat oder nur durch den örtlichen Betriebsrat hätte abgeschlossen werden können.
III. Relevanz der Auslegung der Leiharbeitsrichtlinie
23. Da der Kläger festgestellt wissen will, dass ein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten schon deutlich vor dem 01.10.2018 bestand, kann er mit seiner Klage nur in vollem Umfang Erfolg haben, wenn das Unionsrecht dies gebietet.
24. Zur 1. Frage: Das hiesige Berufungsgericht geht davon aus, dass die Überlassung eines Leiharbeitnehmers gemäß Artikel 1 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.11.2008 über Leiharbeit (Leiharbeitsrichtlinie; ABl. L 327 vom 5. Dezember 2008 S. 9) nur dann zulässig ist, wenn sie vorübergehend erfolgt. Das Merkmal „vorübergehend“ ist nicht nur eine Beschreibung oder ein unverbindlicher Programmsatz, so auch die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts (Beschluss vom 10.07.2013 – 7 ABR 91/11 – Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2013, 1296 Randnummer 32). Eine nähere Definition enthält die Leiharbeitsrichtlinie aber nicht. Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung dieses Merkmals fehlen bisher.
25. Man kann das Merkmal „vorübergehend“ dahin verstehen, dass es ausschließlich auf die individuelle Überlassungsdauer des Leiharbeitnehmers ankommt.
26. Denkbar ist aber auch, dass sich dieses Merkmal auf die zu besetzenden Arbeitsplätze bezieht und dahin zu verstehen ist, dass Leiharbeitnehmer beim entleihenden Unternehmen nicht auf Dauerarbeitsplätzen ohne Vertretungsbedarf eingesetzt werden dürfen. Die hiesige Kammer geht davon aus, dass der Kläger seit Beginn der Überlassung auf einem Arbeitsplatz eingesetzt worden war, für den bei der Beklagten ein ständiger Beschäftigungsbedarf bestand. Für eine auf den Arbeitsplatz bezogene Auslegung könnte das in Artikel 2 der Leiharbeitsrichtlinie definierte Ziel sprechen. Danach soll ein angemessener Rahmen für den Einsatz von Leiharbeit festgesetzt werden, um wirksam zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung flexibler Arbeitsformen beizutragen. Der Einsatz von Leiharbeitnehmern auf Dauerarbeitsplätzen beim entleihenden Unternehmen schafft jedoch keine zusätzlichen Arbeitsplätze, sondern ersetzt Stammarbeitnehmer durch Leiharbeitnehmer. Insofern ist dort auch kein Bedürfnis zur Flexibilisierung zu erkennen. Aus Artikel 6 der Leiharbeitsrichtlinie ergibt sich zusätzlich, dass ein Wechsel in ein festes Arbeitsverhältnis erwünscht ist. In Deutschland ist die Ersetzung von Stammarbeitnehmern durch Leiharbeitnehmer für viele Unternehmen unter anderem deswegen attraktiv, weil die Verpflichtung zur Gleichstellung von Leiharbeitnehmern mit der Stammbelegschaft aufgrund nationaler Regelungen in der Praxis zeitlich deutlich hinausgeschoben ist. Bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten kann die Überlassung von Leiharbeitnehmern durch das entleihende Unternehmen ferner vereinfacht beendet werden. Finanzielle Folgekosten sind regelmäßig nicht zu erwarten, jedenfalls deutlich reduziert.
27. Das Bundesarbeitsgericht konnte offenlassen, welcher der unterschiedlichen Rechtsauffassungen zu folgen ist. In dem ihm vorliegenden Fall wurde die Arbeitnehmerüberlassung schon deswegen als nicht vorübergehend angesehen, weil sie ohne jegliche zeitliche Begrenzung vorgenommen worden war (Beschluss vom 10.07.2013 – 7 ABR 91/11 – Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2013, 1296, 1301, Randnummer 54).
28. Zur 2. Frage: Die hiesige Kammer sieht in einem Überlassungszeitraum von 55 Monaten jedenfalls keine vorübergehende Überlassung mehr. Auch aus Gründen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit wäre es wünschenswert, wenn der Europäische Gerichtshof eine klare zeitliche Grenze vorgegeben könnte. Möglicherweise kann insofern auch danach differenziert werden, ob ein Sachgrund (Vertretungsbedarf, vorübergehende Auftragsspitze oder Ähnliches) vorliegt oder ob dies nicht der Fall ist.
29. Zur Frage 3.1: Nach Artikel 10 Absatz 1 der Leiharbeitsrichtlinie sollen bei Verstößen Sanktionen vorgesehen werden. Von der Bundesregierung wurde in der Bundestagssitzung vom 24.03.2011 die Auffassung vertreten, man wolle die Richtlinie „vollständig, eins zu eins“ umsetzen (Bundestags-Plenarprotokoll, 17. Wahlperiode, Seite 11366). Trotzdem wurden bis zum 31.03.2017 keine Sanktionen für den Fall vorgesehen, dass die Überlassung nicht mehr als vorübergehend anzusehen ist. Insofern stellt sich die Frage, ob aus dem Unionrecht selbst als Sanktion abgeleitet werden kann, dass ein Arbeitsverhältnis mit dem entleihenden Unternehmen zustande kommt. Wenn schon das nationale Recht vorsieht, dass ein Arbeitsverhältnis zum Entleiher dann zustande kommt, wenn der Verleiher nicht die erforderliche behördliche Genehmigung zur Arbeitnehmerüberlassung besitzt, muss dann nicht wegen des Grundsatzes der praktischen Wirksamkeit („effet utile“) die gleiche Sanktion greifen, wenn die Überlassung nicht mehr „vorübergehend“ erfolgt?
30. Zur Frage 3.2: Dies betrifft die deutsche Regelung, die erstmal zum 01.04.2017 eine zeitliche Grenze von 18 Monaten als Überlassungshöchstdauer grundsätzlich vorschreibt. Im Übergangsrecht des § 19 Absatz 2 AÜG wird als Fristbeginn der 01.04.2017 angegeben. Die Mitgliedstaaten waren jedoch gemäß Artikel 11 der Leiharbeitsrichtlinie verpflichtet, diese Richtlinie spätestens zum 05.12.2011 umzusetzen. Damit konnten frühestens nach fast 7 Jahren in Deutschland erstmals Sanktionen zur Anwendung kommen. Wenn nach Auslegung der Leiharbeitsrichtlinie die Grenze der vorübergehenden Überlassung schon vor dem 01.04.2017 oder innerhalb eines Zeitraums von 18 Monaten danach überschritten wurde, dann könnte sich als Konsequenz ergeben, dass die Übergangsregelung ganz oder teilweise unberücksichtigt zu bleiben hat.
31. Zur Frage 3.3: Hier stellt sich die Frage, ob der nationale Gesetzgeber berechtigt ist, eine Überlassungshöchstdauer festzuschreiben, von der aber die Tarifvertragsparteien abweichen dürfen. Selbst wenn diese Frage bejaht wird, verbleibt als Problem, ob der Gesetzgeber ein solches Recht den Tarifvertragsparteien einräumen kann, die für die Arbeitsverhältnisse der Leiharbeitnehmer nicht zuständig sind. Deren Arbeitsverhältnis unterfällt fachlich den Tarifverträgen der Branche der Verleihunternehmen. Die hier durch den Gesetzgeber ermöglichte Abweichung betrifft aber Tarifverträge aus der Branche der entleihenden Unternehmen. Artikel 5 der Leiharbeitsrichtlinie sieht vor, dass auch durch die Tarifvertragsparteien abweichende Regelungen getroffen werden können. Dies betrifft aber nur Abweichungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung im Sinne des Artikels 5 dieser Richtlinie. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, dass den Tarifvertragsparteien Kompetenzen im Hinblick auf die zeitliche Ausgestaltung der Überlassungsdauer eingeräumt worden wären. In diesem Fall verstieße § 1 Absatz 1b Satz 3 AÜG in der ab dem 01.04.2017 geltenden Fassung gegen Artikel 1 der Leiharbeitsrichtlinie.
IV. Aussetzung des Rechtsstreits
32. Gemäß § 148 Zivilprozessordnung war der Rechtsstreit bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auszusetzen.