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Wohnsitzauflage; Änderung; Wirksamkeit; Zuständigkeit; Zuzugsbehörde; Zustimmung nicht erforderlich; Duldungsfrist; Ermessen


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat Entscheidungsdatum 27.01.2021
Aktenzeichen OVG 3 S 106/20 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2021:0127.OVG3S106.20.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 61 Abs 1d AufenthG

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 15. September 2020 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig eine Duldung zu erteilen und ihr darüber eine Bescheinigung auszustellen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Antragsgegner.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Mit der für die Prüfung des Oberverwaltungsgerichts maßgeblichen Beschwerdebegründung (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) wendet sich die Antragstellerin erfolgreich gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Antragsgegner sei für die Erteilung der erstrebten Duldung örtlich nicht zuständig, weil sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1a VwVfG nicht in B habe, wo sie sich seit Mitte 2018 aufhält, sondern in K, wo sie ausländerrechtlich verpflichtet sei, ihren Wohnsitz zu nehmen.

Allerdings hatte die Antragstellerin, die nach ihrer Einreise im Februar 2018 auf der Grundlage des von ihr angegebenen Geburtsjahres 2002 zunächst durch das Jugendamt K gemäß § 42a, § 88a SGB VIII vorläufig in Obhut genommen worden war, zunächst dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt. Dementsprechend erteilte die Ausländerbehörde K ihr am 29. Mai 2018 eine bis zum 28. August 2018 gültige Duldung mit dem Hinweis „Wohnsitznahme nur in K gestattet“. Nachdem Zweifel an der Minderjährigkeit der Antragstellerin entstanden waren, beendete das Jugendamt am 7. Juni 2018 die Inobhutnahme der Antragstellerin, die am Tag zuvor ihre Unterkunft in K verlassen hatte und nach B aufgebrochen war, wo sie seit dem 28. August 2018 gemeldet ist.

Die Beschwerde macht mit Erfolg geltend, dass die gesetzliche Verpflichtung der Antragstellerin nach § 61 Abs. 1d AufenthG, ihren Wohnsitz in K zu nehmen, dadurch erloschen sei, dass die Ausländerbehörde K die entsprechende Wohnsitzauflage am 2. Oktober 2018 in der Absicht gestrichen habe, der Antragstellerin den Umzug nach B zu ermöglichen. Es spricht bei summarischer Prüfung alles dafür, der der Antragstellerin unter diesem Datum von der Ausländerbehörde K mit Gültigkeit bis zum 1. Dezember 2018 erteilten weiteren Duldung diesen Regelungsgehalt zu entnehmen. Dagegen ist eine vom Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss ohne Erläuterung angenommene Ablehnung eines Antrags auf Gestattung des Zuzugs nach B nicht zu erkennen.

In der für die Antragstellerin ausgestellten und ihr übergebenen Duldungsbescheinigung ist der Satz „Wohnsitznahme nur in K gestattet“ gestrichen, versehen mit dem Hinweis „Amtlich geändert“ und dem Dienstsiegel. Unabhängig davon, dass die Duldung gegenüber der Antragstellerin mit dem ihr in dieser Form bekannt gegebenen Inhalt wirksam geworden ist, stimmt die aus der Bescheinigung ersichtliche Regelung auch mit dem Inhalt der bei der Ausländerakte befindlichen Verfügung vom 2. Oktober 2018 überein, deren Text ebenfalls keine Wohnsitzauflage enthält. Danach bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei der Streichung in der Duldungsbescheinigung um einen bloßen Übertragungsfehler handeln könnte. Auch der Antragsgegner geht in seinem Vermerk vom 13. Dezember 2018 im Übrigen von einer Streichung der Wohnsitzauflage aus. Insofern unterscheidet sich der Fall von dem einer (nur) fehlenden Anordnung einer Wohnsitzauflage, die noch nicht den Schluss zulassen dürfte, dass die Behörde eine von der gesetzlichen Regelung abweichende Anordnung des Wohnsitzes getroffen hat (vgl. hierzu BayVGH, Beschluss vom 2. November 2016 - 10 ZB 16.1134 - juris Rn. 7).

Allerdings eröffnet § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG der Ausländerbehörde nur die Möglichkeit, die gesetzliche Wohnsitzauflage nach § 61 Abs. 1d Satz 1, 2 AufenthG zu ändern, nicht jedoch sie lediglich zu streichen. Es kann dahinstehen, ob hieraus die Rechtswidrigkeit einer bloßen Streichung folgt, oder ob eine ausgesprochene Streichung ohne Bezeichnung des Ortes, an dem der Ausländer nunmehr seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen hat, in Ermangelung gegenteiliger Anhaltspunkte regelmäßig so ausgelegt werden kann, dass ihm aufgegeben wird, seinen Wohnsitz an dem von ihm erstrebten Zuzugsort zu nehmen. Jedenfalls lässt sich hier dem Aktenvermerk vom 2. Oktober 2018 in der Ausländerakte mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, dass die Streichung der Wohnsitzauflage der Antragstellerin ermöglichen sollte, ihren gewöhnlichen Aufenthalt in B zu nehmen. Es heißt dort im Anschluss an die Angabe über eine telefonische Rücksprache mit dem Landesamt für Ausländerangelegenheiten, dass die Antragstellerin „in B einen Asylantrag stellen“ sollte, und weiter, dass die Duldung für zwei Monate verlängert worden sei, „da in B auch Wartezeiten bei den Behörden sind“. In Verbindung mit dem Umstand, dass die Antragstellerin zu der Zeit in B in einer Einrichtung der Jugendhilfe wohnte und von ihrer dortigen Betreuerin, die den Gesprächsablauf in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 18. Juni 2020 bestätigt hat, auch zur Ausländerbehörde begleitet wurde, spricht dies dafür, die Streichung der Wohnsitzauflage als Änderung in eine Verpflichtung der Antragstellerin, ihren Wohnsitz in B zu nehmen, auszulegen. Dementsprechend ist in der Ausländerakte der Antragstellerin unter dem 30. November 2018 vermerkt „Wegzug zum 01.12.2018 nach B“, sowie: „Akte angefordert? Ansonsten Akte anbieten“.

Der Auslegung der Duldung vom 2. Oktober 2018 dahin, dass sie über die (weitere) Aussetzung der Abschiebung hinaus die gesetzliche Wohnsitzauflage ändert, steht bei summarischer Prüfung auch nicht der Umstand entgegen, dass die Duldungsverfügung - anders als die der Antragstellerin ausgehändigte, für den Inhalt der bekannt gegebenen Regelung maßgebliche Duldungsbescheinigung - weiterhin den Zusatz „Nebenbestimmung: Der Aufenthalt ist beschränkt auf “ enthält. Dieser betrifft nicht die Wohnsitzauflage nach § 61 Abs. 1d AufenthG, sondern eine räumliche Beschränkung im Sinne des § 61 Abs. 1 AufenthG, die nach § 61 Abs. 1b AufenthG ohnehin drei Monate nach Erteilung der Duldung vom 29. Mai 2018 kraft Gesetzes erloschen sein dürfte. Danach dürfte es sich beim Verbleib des Zusatzes in der Verfügung um ein Versehen handeln.

Es spricht auch alles dafür, dass die Änderung der Wohnsitzauflage wirksam war. Nichtigkeitsgründe im Sinne des § 44 VwVfG sind nicht ersichtlich. Insbesondere kann dahinstehen, unter welchen Voraussetzungen ein Zuständigkeitsmangel oder eine fehlende Zustimmung einer anderen Behörde zur Nichtigkeit führen können (vgl. § 44 Abs. 3 Nr. 1, 4 VwVfG), denn derartige Fehler sind nicht erkennbar. Die Abänderungsbefugnis nach § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG steht der Ausländerbehörde des bisherigen Wohnorts zu (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 17. September 2020 - 2 B 148/20 - juris Rn. 16; BayVGH, Beschluss vom 15. September 2020 - 10 ZB 20.1593 - juris Rn. 4; OVG SLH, Beschluss vom 30. Juli 2020 - 4 MB 23/20, 4 O 20/20 - juris Rn. 24; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. November 2019 - OVG 12 M 38.19 -; OVG LSA, Beschluss vom 22. Januar 2015 - 2 O 1/15 - juris Rn. 8). Das war hier die Ausländerbehörde Kiel. Eine Zustimmung der Ausländerbehörde des Zuzugsorts - hier des Antragsgegners - bedurfte es nicht, denn § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG sieht ein solches Zustimmungserfordernis nicht vor (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 17. September 2020 - 2 B 148/20 - juris Rn. 17; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. November 2019 - OVG 12 M 38.19 -; OVG LSA, Beschluss vom 22. Januar 2015 - 2 O 1/15 - juris Rn. 10).

An der wirksamen Änderung der Wohnsitzauflage ändert sich nichts dadurch, dass der Antragsgegner als Zuzugsbehörde, der in seinem Vermerk vom 13. Dezember 2018 noch von einer Streichung der Wohnsitzauflage ausgegangen war, die zu prüfen und „ggf. Zuzug rückgängig zu machen“ sei, indem die Antragstellerin „wenn kein plausibler Grund für die Streichung vorliegt … wieder an die ABH K zu verweisen“ sei, später, im Schreiben vom 30. Januar 2019 an die Ausländerbehörde K, von einem Missverständnis ausgegangen ist und die Ausländerakte wieder dorthin zurückgesandt hat mit der Bitte, sich für die Antragstellerin im Ausländerzentralregister wieder für zuständig zu erklären. Für eine Rücknahme der Änderung war der Antragsgegner nicht zuständig, er hat eine solche auch in den an die Antragstellerin gerichteten „Bescheinigung(en) zur Vorlage bei der zuständigen Ausländerbehörde, in denen er sie aufgefordert hat, sich in B abzumelden und in den Einzugsbereich der für sie zuständigen Ausländerbehörde K zurückzukehren, nicht ausgesprochen. Die Ausländerbehörde K hat ebenfalls keine Rücknahme der Änderung der Wohnsitzauflage gegenüber der Antragstellerin erklärt. In dem Umstand, dass die Behörde die Ausländerakte zurückgenommen und eine entsprechende Änderung im Ausländerzentralregister veranlasst hat, dürfte eine Rücknahmeentscheidung nicht zu sehen sein, ebenso wenig wie in dem an die Antragstellerin unter ihrer früheren Anschrift in K gerichteten Schreiben aus August 2019, mit dem sie aufgefordert wurde, im Dezember bei der Behörde in K vorzusprechen und ihre bisherige Duldung mitzubringen oder die später in diversen teils verwaltungsinternen eMails vertretene Auffassung, die Ausländerbehörde K sei zuständig.

Ist die Wohnsitzauflage am 2. Oktober 2018 dahin geändert worden, dass die Antragstellerin ihren Wohnsitz in B zu nehmen hat, kommt es für die Zuständigkeit des Antragsgegners zur Erteilung der erstrebten Duldung nicht darauf an, ob die materiellen Voraussetzungen für eine solche Änderung nach § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG gegeben waren oder zum jetzigen Zeitpunkt gegeben sind, namentlich ob der Umstand, dass die Antragstellerin seit Mai 2020 in B in stationärer psychiatrischer Behandlung ist, und der nach dessen eidesstattlicher Versicherung vom 11. Oktober 2020 familiäre Kontakt zu dem für sie bestellten Betreuer mit umfassendem Aufgabenkreis (zuletzt durch Beschluss des Amtsgerichts P vom 23. November 2020) - ungeachtet der Möglichkeit einer Krankenhausbehandlung und Bestellung eines anderen Betreuers in K - humanitäre Gründe im Sinne des § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG darstellen, die eine Änderung der Wohnsitzauflage - unterstellt sie wäre nicht schon erfolgt - rechtfertigen würden.

Die materiellen Voraussetzungen des geltend gemachten Duldungsanspruchs haben weder das Verwaltungsgericht noch der Antragsgegner in Frage gestellt. Die Antragstellerin ist vollziehbar ausreisepflichtig, seit ihr Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen den ihren Asylantrag als offensichtlich unbegründet ablehnenden Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. April 2020 durch Beschluss des Verwaltungsgerichts Schleswig vom 8. Mai 2020 - 3 B 41/20 - abgelehnt wurde. Eine Abschiebung dürfte im Hinblick auf ihre stationär behandelte psychische Erkrankung rechtlich, im Übrigen mangels gültigen Reisepasses auch tatsächlich unmöglich sein.

Nach alledem ist hier die vorläufige Erteilung einer Duldung durch den Antragsgegner - auch im Hinblick auf die stationäre Behandlung der Antragstellerin - als Ergebnis einer vorzunehmenden Abwägung gerechtfertigt. Etwa verbleibende Zweifel an der Zuständigkeit des Antragsgegners können hier nicht zu Lasten der Antragstellerin gehen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. April 2020 - OVG 3 S 18/20 -). Die Befristung der zu erteilenden Duldung steht grundsätzlich im Ermessen des Antragsgegners. Der Senat geht davon aus, dass der Antragsgegner dieses Ermessen nach den Vorgaben der VAB (Nr. 60a.2.1.5) ausüben wird, und dass danach die zu erteilende Duldung nicht hinter der beantragten Frist von drei Monaten zurück bleiben dürfte. Eine Zurückweisung des Antrags und der Beschwerde im Übrigen kommt daher nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).