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Griechenland - Sekundärmigration - internationaler Schutz - nachträgliche Divergenz - grundsätzliche Bedeutung -Zusicherung durch Mitgliedstaat


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat Entscheidungsdatum 07.04.2022
Aktenzeichen OVG 3 N 1/20 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2022:0407.OVG3N1.20.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen Art 4 GRC, Art 3 MRK, § 78 Abs 3 Nr 1 AsylVfG 1992

Tenor

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 10. Dezember 2019 wird abgelehnt.

Die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens trägt die Beklagte.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Das für die Entscheidung über den Antrag maßgebliche Vorbringen der Beklagten (vgl. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG) rechtfertigt die Zulassung der Berufung wegen des allein geltend gemachten Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) nicht.

Die von der Beklagten als grundsätzlich bedeutsam benannte Frage,

ob Antragstellern, welche in Griechenland internationalen Schutz erhalten haben, eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK / Art. 4 GRC droht,

ist inzwischen in der Rechtsprechung des Senats geklärt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 23. November 2021 - OVG 3 B 53.19 und OVG 3 B 54.19 - juris). Da der Senat die Frage übereinstimmend mit der erstinstanzlichen Entscheidung bejaht hat, kommt auch eine Berufungszulassung wegen nachträglicher Divergenz nicht in Betracht.

Die mit dem Zulassungsantrag daneben als klärungsbedürftig bezeichneten Fragen,

welche Mindestanforderungen die Zusicherung eines Mitgliedstaates erfüllen muss und ob eine solche individuell oder generalisierend erfolgen kann,

bzw. ob die durch Griechenland abgegebene Erklärung vom 8. Januar 2018 diese Mindestanforderungen erfüllt,

sind ebenfalls nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Sie können anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung beantwortet werden (vgl. VGH München, Beschluss vom 27. April 2021 - 23 ZB 18.33102 - juris Rn. 26; OVG Koblenz, Beschluss vom 3. Dezember 2020 - 7 A 10652/19 – juris Rn. 27) und entziehen sich einer darüber hinausgehenden allgemeinen Klärung.

Die Fragen beziehen sich auf das vom Verwaltungsgericht (UA S. 7) gewürdigte Schreiben des griechischen Ministeriums für Integrationspolitik vom 8. Januar 2018, in dem nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts angegeben wird, dass der griechische Staat die aus der Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU folgenden Anforderungen rechtzeitig in nationales Recht umgesetzt habe, weshalb international Schutzberechtigten sämtliche dort garantierten Rechte – auch in Respekt vor den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention – zustünden.

Die Maßstäbe für die Feststellung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK oder Art. 4 GRC in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich geklärt. Der Senat hat dazu in den Urteilen vom 23. November 2021 ausgeführt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. November 2021 - OVG 3 B 53.19 - juris Rn. 20 ff.):

„Zum Gewährleistungsinhalt des Art. 3 EMRK ist in der Rechtsprechung geklärt, dass mangelhafte Lebensbedingungen für anerkannte Schutzberechtigte in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne dieser Bestimmung darstellen können, wenn die Missstände ein bestimmtes Mindestmaß an Schwere erreichen, das von allen Umständen des Falles abhängt und das erreicht sein kann, wenn die betroffenen Personen ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen (vgl. m.w.N. BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 - 1 B 25.18 - juris Rn. 11; s.a. BVerfG, Beschlüsse vom 31. Juli 2018 - 2 BvR 714/18 - juris Rn. 18, und vom    8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 - juris Rn. 15).

Im Hinblick auf den fundamentalen Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, der von jedem Mitgliedstaat verlangt, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - juris Rn. 81), kommt die Feststellung eines mit den Lebensbedingungen in einem anderen Mitgliedstaat begründeten Abschiebungsverbots nach Art. 3 EMRK nur unter besonderen Voraussetzungen in Betracht, die der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu der mit Art. 3 EMRK wortgleichen und gleichbedeutenden Schutzgewährung des Art. 4 GRC (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 89 und - C-163/17 - juris Rn. 91) konkretisiert hat (zu dem im rechtlichen Ansatz identischen Prüfungsmaßstab nach Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC s.a. BVerwG, Urteil vom 27. Mai 2021 - 1 C 6.20 - juris Rn. 19).

Danach fallen systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt und die dann erreicht ist, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. Ob in dem Mitgliedstaat der Schutzgewährung systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, die die schutzberechtigte Person der Art. 4 GRC verletzenden Gefahr extremer materieller Not aussetzen würden, ist auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen (vgl. BVerwG, Urteil vom  21. April 2020 - 1 C 4.19 - juris Rn. 37 ff. unter Bezugnahme auf EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 89 - 91 und - C-163/17 - juris Rn. 91 - 93 sowie Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. - juris Rn. 39).“

Da die Anforderungen an die erforderliche Schwere drohender Beeinträchtigungen sich einer weitergehenden Konkretisierung entziehen, bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerwG, Beschluss vom      8. August 2018 - 1 B 25/18 - juris Rn. 11).

Hiervon ausgehend liegt auf der Hand, dass sich allein mit dem Verweis auf eine allgemeine „Zusicherung“ eines Mitgliedstaats zur Umsetzung europäischer Regelungen die Frage nach einer drohenden Verletzung des Art. 3 EMRK und des Art. 4 GRC in diesem Mitgliedstaat regelmäßig nicht abschließend beantworten lässt (vgl. VGH München, Beschluss vom 27. April 2021 - 23 ZB 18.33102 - juris Rn. 34). Bezieht sich eine solche Zusicherung auf rechtliche Regelungen, so kommt es im Einzelnen auf deren Inhalt an. Von Bedeutung kann ferner sein, inwieweit die Regelungen in dem Mitgliedstaat tatsächlich vollzogen werden. Dies muss anhand aller dazu verfügbaren Auskünfte beurteilt werden. Da die gesamten Umstände des Einzelfalles maßgeblich sind, entzieht sich die Frage nach der Möglichkeit und Aussagekraft einer generalisierenden Zusicherung des anderen Mitgliedstaates sowie nach deren erforderlichem Mindestinhalt einer allgemeinen Klärung.

Ebenso wenig werfen die Fragen der Beklagten eine noch klärungsbedürftige grundsätzlich bedeutsame Tatsachenfrage auf. Dass die Erklärung des griechischen Ministeriums für Migrationspolitik vom 8. Januar 2018 nicht den Schluss rechtfertigt, dass anerkannten Schutzberechtigten in Griechenland entgegen der durch den Senat festgestellten Auskunftslage wenigstens in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft der Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen sichergestellt wäre, hat der Senat mit den Urteilen vom 23. November 2021 bereits entschieden (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. November 2021 - OVG 3 B 53.19 - juris Rn. 59).

Unter welchen Voraussetzungen eine individuelle Zusicherung des Zielstaates der Rückführung dazu, dass Unterbringung und Versorgung nicht gegen Art. 3 EMRK oder Art. 4 GRC verstoßen, benötigt wird und welchen Anforderungen sie genügen muss, ist durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (vgl. Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 - juris Rn. 121, Tarakhel gg. Schweiz) und des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 16) geklärt (vgl. OVG Koblenz, Beschluss vom 3. Dezember 2020 - 7 A 10652/19 - juris Rn. 27). Dass das Verfahren insoweit weitere klärungsfähige Fragen aufwirft, legt die Beklagte nicht dar. Dagegen spricht bereits, dass die Erklärung des griechischen Ministeriums für Migrationspolitik vom 8. Januar 2018 keine konkrete Zusicherung im Sinne dieser Rechtsprechung enthält (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. November 2021 - OVG 3 B 53.19 - juris Rn. 59; VGH München, Beschluss vom 27. April 2021 - 23 ZB 18.33102 - juris Rn. 36).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG, § 152 Abs. 1 VwGO).