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Entscheidung 2 AR 46/21, 2 AR 46/21 (S)


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 2. Strafsenat Entscheidungsdatum 22.03.2022
Aktenzeichen 2 AR 46/21, 2 AR 46/21 (S) ECLI ECLI:DE:OLGBB:2022:0322.2AR46.21.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Die Auslieferung des Verfolgten an Georgien zum Zwecke der Strafverfolgung wegen des dem Haftbefehl eines Strafgerichts in Tibilissi vom 13. Dezember 2015 (Az.:10a 5363) zugrunde liegenden Tatgeschehens der gefährlichen Körperverletzung (im Amt), Folter (Aussageerpressung) und Freiheitsberaubung in der Zeit vom 28. Juli bis 06. August 2012 ist unzulässig.

Gründe

I.

Der Senat hatte gegen den Verfolgten auf der Grundlage einer internationalen Fahndungsausschreibung der georgischen Behörden durch Auslieferungshaftbefehl vom 27. Dezember 2021 die vorläufige Auslieferungshaft angeordnet und diesen mit weiteren Beschlüssen vom 4. und 7. Januar 2022 gegen Zahlung einer Kaution in Höhe von 20.000 Euro, der Abgabe seines Reisepasses und einer zweimaligen wöchentlichen Meldepflicht bei der Polizei außer Vollzug gesetzt. Zwischenzeitlich hat der Senat auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft den vorbezeichneten Auslieferungshaftbefehl und die zu seiner Vollzugsaussetzung angeordneten Maßnahmen durch Beschluss vom 3. März 2022 aufgehoben. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt nunmehr, die Auslieferung des Verfolgten an Georgien für unzulässig zu erklären und begründet ihren Antrag wie folgt:

                                                              „I.

Der Verfolgte war ursprünglich georgischer Staatsangehöriger und ist jetzt ukrainischer Staatsangehöriger; ob er daneben weiterhin die georgische Staatsangehörigkeit besitzt, ist nicht abschließend geklärt (Bd. I BI. 11 f., 55 d. A.).

Die georgischen Behörden werfen ihm vor, während seiner Amtszeit als stellvertretender Chef des Generalstabs der georgischen Streitkräfte zusammen mit anderen hochrangigen Amtsträgern am 28. Juli 2012 den Terrorverdächtigen E… K… in das Gebäude der Militärpolizei von Georgien verbracht und dort persönlich mittels Pfefferspray und Baseballschlägern misshandelt zu haben, um ihn zu einer Aussage zu bewegen. Nachdem K…, ohne ausgesagt zu haben, das Bewusstsein verloren habe, hätten der Verfolgte und seine Mittäter ihn liegen lassen. Er sei dann weiter bis zum 6. August 2012 festgehalten und dann von Angehörigen der Militärpolizei in ein Krankenhaus verbracht worden, wo er behandelt und dann freigelassen worden sei (Bd. 1, BI. 11, 30 d. A.).

II.

Am 22. Dezember 2015 richteten die georgischen Behörden ein Ersuchen um weltweite Ausschreibung des Verfolgten zur Festnahme an Interpol („red diffusion“ bzw. „red notice request“) wegen des unter I. geschilderten Tatvorwurfs (Bd. I, BI. 30; Bd. II BI. 518 R d. A.). Dieses Fahndungsersuchen wurde von Interpol nie in eine tatsächliche

 weltweite Festnahmeausschreibung („red notice“) umgesetzt, da das Interpol-Generalsekretariat das Ersuchen am 10. Februar 2016 als „insgesamt von überwiegend politischer Natur" einstufte und damit die Eintragung in das weltweite Fahndungsregister „wegen Verstoßes gegen die Interpol-Statuten“ ablehnte. Nachdem die zuständigen Bundesbehörden nach interner Abstimmung entschieden hatten, dass gleichwohl eine Ausschreibung zur Festnahme aufgrund des georgischen Ersuchens auf nationaler Ebene erfolgen solle, wurde der Verfolgte 2017 durch das BKA deutschlandweit zur Fahndung ausgeschrieben (Bd. I, BI. 33, 35-37; Bd. II BI. 518-521 R d. A.).

Der Verfolgte wurde am 19. Dezember 2021 auf dem Flughafen BER festgenommen, als er zusammen mit seiner Ehefrau (welche dann alleine weiterreiste) in die ukrainische Hauptstadt Kyjiw ausreisen wollte. Er hatte sich in Deutschland aufgehalten, um seine hier eine Schule besuchende Tochter zu sehen (Bd. I. BI. 12, 51, 126 d. A.).

Die Festnahme basierte auf der vorgenannten nationalen deutschen Ausschreibung im polizeilichen INPOL-System aufgrund eines georgischen Festnahmeersuchens. Da diese Ausschreibung den Vornamen des Verfolgten in einer anderen Schreibweise aufwies als sie der in seinem jetzigen ukrainischen Pass entspricht, musste sich die Bundespolizei erst durch vertiefte Prüfungen von der Identität der kontrollierten Person mit dem gesuchten Verfolgten überzeugen (Bd. I, BI. 12, 14 ff., Bd. II, BI. 517 ff., Bd. III BI. 808 d. A.).

Die Generalstaatsanwaltschaft stellte am 19. Dezember 2021 den Antrag auf Erlass einer Festhalteanordnung an das Amtsgericht Königs Wusterhausen (Bd. I BI. 4 d. A.).

Am 20. Dezember 2021 wurde der Verfolgte vom Haftrichter des Amtsgerichts Königs Wusterhausen in Gegenwart seines Rechtsbeistands Rechtsanwalt P… und eines Dolmetschers für die georgische Sprache vernommen (Bd. I BI. 49 d. A.)

Dabei erklärte der Verfolgte, er sei mit der Durchführung des beschleunigten Verfahrens nicht einverstanden und verzichte auch nicht auf den Schutz des Spezialitätsgrundsatzes. Er führte im Übrigen aus, er werde politisch verfolgt (vgl. auch Bd. I BI. 122 d. A.).

Das Amtsgericht erließ am 20. Dezember 2021 eine Festhalteanordnung gegen den Verfolgten (Bd. I BI. 45 d. A.). Dieser wurde in die JVA … eingewiesen (Bd. I, BI. 107 d. A.).

Bereits am selben Tage wandte sich die Generalstaatsanwaltschaft von Georgien mit einer Bitte an die deutschen Behörden, den Verfolgten weiter festzuhalten (Bd. I, BI. 58 d. A.).

Am 21. Dezember 2021 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft den Erlass eines vorläufigen Auslieferungshaftbefehls (Bd. I BI. 101 d. A.).

Am 23. Dezember 2021 beantragte der Rechtsbeistand des Verfolgten, den (zu diesem Zeitpunkt allerdings noch gar nicht erlassenen) Auslieferungshaftbefehl außer Vollzug zu setzen (Bd. I BI. 122 d. A.).

Der Senat ordnete die vorläufige Auslieferungshaft am 27. Dezember 2021 an (Bd. I BI. 109 d. A.).

Am 29. Dezember 2021 ersuchte die Generalstaatsanwaltschaft auf dem diplomatischen Geschäftsweg die

georgischen Behörden um erweiterte Auslieferungsunterlagen zur Ermöglichung der Schuldverdachtsnachprüfung (Bd. I BI. 182, 186, 188, 193 d. A.).

Am 3. Januar 2022 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft mündliche Haftprüfung mit Blick auf eine mögliche Haftverschonung gegen Sicherheitsleistung (Bd. I BI. 235 d. A.).

Darüberhinausgehend ordnete der Senat am 4. Januar 2022 Haftverschonung gegen Kaution ohne mündliche Haftprüfung an. Dem Verfolgten wurde außerdem auferlegt, an einer näher bezeichneten Stelle in Berlin ständigen Aufenthalt zu nehmen und sich regelmäßig bei der Polizei zu melden (Bd. I BI. 236 d. A.).

Am 6. Januar 2022 wurde der Verfolgte nach Eingang der Kaution aus der Haft entlassen (Bd. II BI. 308 d. A., Bd. III BI. 682 d. A.).

Ebenfalls am 6. Januar 2022 gingen (zunächst vorab auf elektronischem Wege) die grundlegenden Auslieferungsunterlagen aus Georgien bei der Generalstaatsanwaltschaft ein (Bd. II BI. 271 d. A.).

Diese bestehen zunächst aus dem förmlichen Auslieferungsersuchen (Bd. II BI. 273 R d. A.), in dem der erhobene Tatvorwurf ähnlich wie in der Fahndungsausschreibung konkretisiert wird. Außerdem wird ausführlich dargelegt, dass und warum nach georgischem Recht keine Verfolgungsverjährung eingetreten ist und es werden ausführliche Zusicherungen insbesondere zu den Haftbedingungen getätigt. Insbesondere wird eine Haftraumgröße von mindestens 3 qm garantiert.

Darüber hinaus enthalten die Auslieferungsunterlagen die Anklageschrift (Bd. II BI. 283 R d. A.), den gerichtlichen Haftbefehl nach georgischem nationalen Recht (Bd. II BI. 296 R d. A.) und einen Abdruck der relevanten materiellrechtlichen Vorschriftlichen des georgischen Rechts (Bd. II BI. 288 d. A), wobei insbesondere Art. 144/1 Abs. 3 des georgischen StGB „Folter durch eine organisierte Gruppe“ hervorzuheben ist. Der gesetzliche Strafrahmen beträgt insoweit zwischen zwölf und siebzehn Jahren Freiheitsstrafe.

Am 7. Januar 2022 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft, dem Verfolgten zusätzlich aufzugeben, seinen Reisepass im amtliche Verwahrung zu geben (Bd. II BI. 486 d. A.). Dies beschloss der Senat am selben Tage antragsgemäß (Bd. II BI. 497 d. A.).

Am 10. Januar 2022 gab der Verfolgte seinen Reisepass bei der Berliner Polizei in amtliche Verwahrung (Bd. II BI. 511 R d. A.).

Am 26. Januar 2022 stellte die Generalstaatsanwaltschaft, nachdem die Auslieferungsunterlagen zwischenzeitlich auch auf dem diplomatischen Wege eingegangen waren, den Antrag auf Erlass eines (nicht nur vorläufigen) Auslieferungshaftbefehls unter Aufrechterhaltung der Außervollzugsetzung bei gleichbleibenden Auflagen (Bd. III BI. 748 d. A.). Am 3. Februar 2022 entschied der Senat antragsgemäß (Bd. III BI. 751 d. A.).

Am 8. Februar 2022 hat der Verfolgte über seinen inzwischen einzigen Rechtsbeistand Rechtsanwalt S… (zur Mandatsbeendigung betreffend Rechtsanwalt P… vgl. Bd. III BI. 750 d. A.) ergänzend zur Sache vorgetragen und dabei zahlreiche Unterlagen vorgelegt (Bd. IV BI. 818 d. A.). Zum Inhalt des Vortrags und der Unterlagen wird auf die nachfolgenden Ausführungen insbesondere unter V. verwiesen.

Am 16. Februar 2022 gingen (zunächst vorab elektronisch) die ergänzenden Unterlagen zur Ermöglichung der Schuldverdachtsnachprüfung aus Georgien ein (Bd. IV BI. 1026, 1034 d. A.).

Diese umfassen zunächst eine undatierte und nicht mit einer Urheberangabe versehene „Analyse der Beweismittel“ (Bd. IV BI. 1041 d. A.), ergänzt durch eine „Liste von Beweisen“ (Bd. IV BI. 1047 d. A.), die offenbar eine Art wesentliches Ergebnis der Ermittlungen aus Sicht der georgischen Behörden enthält. Die Beweismittel sind dabei bis auf ärztliche Unterlagen, die belegen sollen, dass der mutmaßliche Geschädigte tatsächlich gefoltert wurde, und eine DNA-Untersuchung betreffend das Blut des mutmaßlichen Geschädigten ausschließlich Zeugenaussagen.

Weiterhin enthalten sie Protokolle der Vernehmungen der Zeugen K… (mutmaßlich Geschädigter) (Bd. IV BI. 1056 d. A.), G… (Bd. V, BI. 1097 d. A.), Ku… (Bd. V BI. 1224 d. A.), N… (Bd. V, BI. 1246 d. A.), J… (Bd. V, BI. 1268 d. A.), C… (Bd. V, BI. 1306 d. A.), Ka… (Bd. V, BI. 1151 d. A.), Ch… (Bd. V BI. 1366 d. A.), B… (Bd. V BI. 1386 d. A.), Kh… (Bd. V, BI. 1407 d. A.), Cha… (Bd. V BI. 1429 d. A.), O… (Bd. V, BI. 1453 d. A.) und M… (Bd. V BI. 1187 d. A.). Wegen der umfänglichen Aussagen, die wörtlich transkribiert vorliegen, wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Soweit in diesen Unterlagen einzelne Teile von Zeugenvernehmungen zunächst nur vom Georgischen ins Englische, aber noch nicht ins Deutsche übersetzt worden waren, sind die noch fehlenden deutschen Übersetzungen mit E-Mail vom 23. Februar 2022 (Bd. VI BI. 1501 d. A.) nachgereicht worden.

Durch die DNA-Unterlagen (Bd. V BI. 1352 d. A.) wird belegt, dass die der KTU vorgelegten „vom Tatort entfernten braunen Flecke“ tatsächlich Blut des mutmaßlich Geschädigten K… sind. Nach den Unterlagen wurden diese „braunen Flecken“ von einer Wand des mutmaßlichen Tatorts, dem Standort der Militärpolizei von Georgien, entfernt.

Die gerichtsmedizinische (Lebend-)Untersuchung des mutmaßlichen Geschädigten (Bd. V BI. 1472 d. A.) erfolgte am 26. Februar 2013, d.h. etwa 6 Monate nach der dem Verfolgten vorgeworfenen Tat. Das Gutachten stützt sich auch auf Krankenunterlagen eines „G… M…“ unmittelbar nach der mutmaßlichen Tat. Nach dem Anklagevorwurf gegen den Verfolgten soll der Geschädigte K… nach Abschluss der Folterung in ein Militärkrankenhaus gebracht worden und dort (zur Verschleierung des Geschehens) unter dem fiktiven Namen „M…“ behandelt worden sein.

Am 24. Februar 2022 hat der Verfolgte angesichts der russischen Invasion der Ukraine über seinen Rechtsbeistand um baldige Entscheidung gebeten, da seine Frau und Familie sich in Kyjiw befinden (Bd. VI BI. 1529 d. A.).

Von einer Vernehmung nach § 28 IRG hat die Generalstaatsanwaltschaft abgesehen, da sie eine Auslieferung für unzulässig hält und der Verfolgte sich in seiner ersten Vernehmung und über seinen Rechtsbeistand umfassend geäußert hat.

Gleichzeitig mit der Stellung des vorliegenden Antrags ist die Generalstaatsanwaltschaft entsprechend § 24 Abs. 2 Satz 2 IRG verfahren und hat den Reisepass des Verfolgten freigegeben und die Polizei darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Ausschreibung zur Festnahme zu beenden ist. Am 2. März 2022 hat der Verfolgte seinen Pass entgegengenommen. Am 3. März 2022 hat der Senat die Aufhebung des Haftbefehls und der Begleitentscheidungen und die Freigabe der Kaution beschlossen.

III.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat erstmals am 29. Dezember 2021 das Bundesamt für Justiz gebeten eine Stellungnahme der Bundesregierung, insbesondere des Auswärtigen Amts, zu ihrer Einschätzung einer dem Verfolgten drohenden Gefahr politischer Verfolgung vorzulegen (Bd. I BI. 182 d.A.).

Diese Anfrage hat die Generalstaatsanwaltschaft am 25. Januar 2022 um die spezifische Nachfrage ergänzt, aufgrund welcher Erwägungen die Bundesregierung abweichend vom Interpol-Generalsekretariat keine Gefahr der politischen Verfolgung des Verfolgten gesehen und diesen daher auf nationaler Ebene trotz fehlender Red Notice zur Fahndung ausgeschrieben hat (Bd. III BI. 788 d. A.).

Am 11. Februar 2022 hat die Generalstaatsanwaltschaft das Bundesamt für Justiz ein drittes Mal um Übermittlung der Einschätzung der Bundesregierung zum Auslieferungsersuchen im Allgemeinen und zur im Besonderen auch zur Frage der vom Interpol-Generalsekretariat abweichenden Beurteilung des Falles als „politisch" gebeten. Das Bundesamt für Justiz ist gebeten worden, diese Einschätzung, wenn irgend möglich, bis zum 23. Februar 2022 vorzulegen.

Am 23. Februar 2022 ist die Bundesregierung durch die Generalstaatsanwaltschaft ein viertes Mal gebeten worden, die genannte Einschätzung zu übermitteln. Dabei ist darauf hingewiesen worden, dass „spätestens am 2. März 2022“ eine Vorlage an den Senat geplant ist (Bd. VI, BI. 1500 d.A.).

Eine Reaktion des Bundesamts für Justiz auf diese Anfragen ist bist bis jetzt nicht erfolgt. Es hat allerdings am 2. März 2022 eine kurze Nachricht an die Generalstaatsanwaltschaft gerichtet, die sich auf den wahrscheinlichen Ausgang einer Bewilligungsentscheidung für den Fall einer positiven Zulassungsentscheidung bezieht.

IV.

Der Verfolgte war General der georgischen Streitkräfte. Vom 2007 bis 2009 kommandierte er eine Brigade, die im russisch-georgischen Krieg von 2008 in heftige Kämpfe mit den russischen Streitkräften verwickelt war. Er wurde 2009/2010 zum stellvertretenden und zugleich kommissarischen Kommandeur des georgischen Heeres und in Personalunion zum stellvertretenden Generalstabschef der georgischen Armee ernannt. Nachdem die Partei des Staatspräsidenten von Georgien Mikheil Saakashvili, „Vereinigte Nationale Bewegung“, im Jahre 2012 die Parlamentswahlen verloren hatte, ernannte der Präsident den Verfolgten am 8. Oktober 2012 zum Generalstabschef, mutmaßlich, um noch vor der Bildung der neuen Regierung, die andere Personalvorstellungen hatte, diesen Posten mit einer Person seines Vertrauens zu besetzen. Die Funktion des Generalstabschefs übte der Verfolgte indes nur etwa fünf Wochen, nämlich bis zum 11. November 2012 aus.

Denn nach Wahl der neuen Regierung durch das georgische Parlament, in dem nunmehr die bisherige Oppositionspartei „Georgischer Traum“ die Mehrheit hatte, wurde der Verfolgte trotz fortbestehender Unterstützung durch den Staatspräsidenten Saakashvili von seinem militärischen Amt suspendiert, wegen Amtsmissbrauchs verhaftet und später angeklagt. Der Vorgang führte zu Irritationen in der NATO (Bd. I, BI. 7, 82, 122 d. A.).

Der Verfolgte wurde dann wieder auf freien Fuß gesetzt. Unmittelbar nach seiner Freilassung gegen Kaution wurde er vom damaligen Staatspräsidenten Saakashvili empfangen, der ihn öffentlich als unschuldig bezeichnete (civil.ge und Georgian Journal, SB Veröffentlichungen BI. 267 ff. d. A.) und in der Folge von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen im Jahre 2013 freigesprochen. (Bd. I, BI. 8, 33R, 34, 51, 82, 122 d. A.).

Der Verfolgte hat in diesem Kontext über seinen Rechtsbeistand das Urteil des Amtsgerichts Tbilisi vom 1. August 2013 nebst Übersetzung in die deutsche Sprache (in der Übersetzung fehlt allerdings Seite 4) vorgelegt (Bd. II BI. 258 d. A.; Bd. IV BI. 830 d. A.). Aus diesem Urteil geht hervor, dass dem Verfolgten auch in diesem Verfahren unter anderem vorgeworfen war, in einer vernehmungsähnlichen Situation einen Verdächtigen zusammen mit anderen Amtsträgern misshandelt zu haben, in diesem Fall den mutmaßlich geschädigten A…, und zwar mittels Faustschlägen sowie Schlägen mit einem Löffel und anderen Gegenständen. Was den Verfolgten als damaligen Angeklagten angeht, erfolgte der Freispruch aus prozessualen Gründen. Denn auf eine erste, vorhergehende, Anklage in derselben Sache war das Verfahren mittels Prozessurteils eingestellt worden, da die Anklage gegen einen amtierenden General nur durch den Justizminister hätte erhoben werden dürfen, was damals nicht der Fall war. In der nunmehrigen zweiten Hauptverhandlung greife der ne-bis-in-idem-Grundsatz. Hinsichtlich der Mitangeklagten erfolgte der Freispruch, weil „die Staatsanwaltschaft die Beweismittel mangelhaft, nicht glaubhaft und unstimmig dargestellt“ habe, die Zeugen den Vorwurf nicht bestätigt hätten und der einzige verbleibende Belastungszeuge, der angebliche Geschädigte selbst, „inkonsistent und widersprüchlich“ ausgesagt habe (Bd. II BI. 265 d. A.).

Später hat der Verfolgte auch das Berufungsurteil (nach Berufung der Staatsanwaltschaft) in dieser Sache vorgelegt, das am 4. Dezember 2013 ergangen ist (Bd. IV BI. 850 d. A.). Demnach wurde der prozessual bedingte Freispruch erster Instanz aufgehoben und das Berufungsgericht trat in eine eigene Sachprüfung ein. Es sprach den Verfolgten wegen zweier Anklagepunktes frei, da die gegen ihn vorliegenden Beweise weiterhin nicht schlüssig seien. In diesem Kontext wird in der Beweiswürdigung auch von Zeugen gesprochen, die angegeben hätten, sie seien von Ermittlern unter Druck gesetzt worden. In einem dritten Anklagepunkt wurde der Verfolgte verurteilt, allerdings nur wegen „Beleidigung eines Untergebenen“. Der Verfolgte wurde deswegen zu „drei Monaten Wehrdienstbeschränkung“ verurteilt, die indes wegen einer Amnestie für erledigt erklärt wurden.

Nach dem ebenfalls vorgelegten dritt- und letztinstanzlichen Urteil des Obersten Gerichtshofs von Georgien vom 14. Juli 2014 wurde die Kassationsbeschwerde des Verfolgten zurückgewiesen. Die Kassationsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wurde mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Strafe von „drei Monaten Wehrdienstbeschränkung“ durch „100 Stunden gemeinnützige Arbeit“ ersetzt wurde, welche aber weiterhin als durch eine Amnestieregelung erledigt galten (Bd. IV, BI. 887 [923] d. A.).

Der Verfolgte verließ Georgien und begab sich in die Ukraine. Dort engagierte sich für die Ausbildung und Reorganisation der ukrainischen Truppen nach dem Ausbruch des hybriden Kriegs Russlands gegen die Ukraine im Jahr 2014, die mit der Ausrufung der separatistischen „Volksrepubliken'' Donezk und Luhansk verbunden war. Er erhielt dann politisches Asyl und im am 20. Dezember 2019 durch Entscheidung des ukrainischen Präsidenten

Zelenskyi die ukrainische Staatsangehörigkeit (Bd. I, BI. 8, 33R, 34, 51,82, 122 d. A., Bd. IV BI. 818 ff.).

Der Verfolgte hat in diesem Zusammenhang folgende ukrainische Dokumente, teils im Original, teils in Kopie, und jeweils mit einer deutschen Übersetzung, beigefügt:

Zunächst hat der Verfolgte ein amtliches Protokoll seiner Anhörung vor den ukrainischen Asylbehörden mit deutscher Übersetzung vorgelegt, die seiner Anerkennung als Flüchtling vorausging. Die Anhörung fand am 4. Juli 2018 statt. Aus dem Protokoll geht hervor, dass der Verfolgte in der Ukraine mit seiner Ehefrau … und zwei Kindern lebt und neben georgisch auch russisch, ukrainisch und englisch spricht. Während seiner Zeit als Offizier in der georgischen Armee nahm er an NATO-Lehrgängen in Estland und Deutschland teil. Nach seiner Übersiedlung in die Ukraine nahm er 2014 als Freiwilliger an den Kämpfen in der Ostukraine gegen die so genannten „Separatistenrepubliken“ teil. Auch zum weiteren militärischen Werdegang des Verfolgten in Georgien wie in der Ukraine finden sich Angaben. Aus der Anhörung ergibt sich weiter, dass der Verfolgte am 14. Juni 2014 aus Georgien zu Fuß nach Aserbaidschan ausreiste und von dort über die Türkei am 15. Juni 2014 in die Ukraine reiste. Seine Familie sei 2015 nachgereist, nachdem er einen Aufenthaltsstatus in der Ukraine erlangt habe.

Zum Asylgrund führt der Verfolgte dort aus, nach den Parlamentswahlen Ende 2012 in Georgien habe der neue Verteidigungsminister … Druck auf ihn ausgeübt, sein neues Amt als Generalstabschef, in das er gerade erst durch Staatspräsident Saakashvili ernannt worden sei, aufzugeben. Dies habe er verweigert. Nach zwei Wochen habe der Verteidigungsminister ihn erneut zu sich gerufen. Im Dienstzimmer des Verteidigungsministers hätten sich auch der Justizminister und der Generalstaatsanwalt befunden und diese hätten ihn, den Verfolgten, für festgenommen erklärt. Nach drei Tagen sei er wieder freigelassen worden, jedoch habe sich ein etwa achtzehnmonatiger Strafprozess angeschlossen. Dort sei er freigesprochen, aber dann in weiteren Prozessen (gemeint sind die Berufungs- und Kassationsinstanzen) erneut verfolgt worden. Er sei dann schließlich zu 100 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt worden, die aber bereits amnestiert gewesen seien, sodass er eine Bescheinigung erhalten habe, „rein vor dem Gesetz“ zu sein.

Er erhalte zwar keine direkten Drohungen aus Georgien, sei sich aber sicher, dass ihn bei einer Rückkehr nach dort „Gefängnis, nichts Gutes“ erwarte (Bd. IV, Hülle BI. 828 d. A.).

Weiter hat der Verfolgte die positive Entscheidung des Staatlichen Migrationsdienstes der Ukraine vom 29. Dezember 2018 über seine Anerkennung als Flüchtling vorgelegt.

Darüber hinaus hat er den Antrag des Ministeriums der Ukraine für Veteranenangelegenheiten vom 23. August 2019 an den Präsidenten der Ukraine vorgelegt, dem Verfolgten unter anderem wegen seiner Verdienste bei der Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte nach dem NATO-Standard die Staatsbürgerschaft zu verleihen; und weiter zwei verschiedene Bescheinigungen über den Erwerb der ukrainischen Staatsangehörigkeit wegen „hervorragender Verdienste um die Ukraine“ mit Wirkung zum 20. Dezember 2019 durch Entscheidung des Präsidenten der Ukraine.

Schließlich hat der Verfolgte auch ein positives Dienstzeugnis (mit Dienstgrad „Generalmajor“) ausgestellt vom Amtierenden Befehlshaber der Nationalgarde der Ukraine am 24. Dezember 2021 und verschiedene Nachweise für

Orden, Ehrenzeichen und Auszeichnungen, die der Verfolgte erhalten hat, eingereicht (alle in Hülle Bd. IV BI. 827).

V.

Nach den Angaben des Verfolgten (teils in seiner Anhörung vor den ukrainischen Asylbehörden, teils im Auslieferungsverfahren) wurden ihm die Vorwürfe, die heute gegen ihn erhoben wurden, erst während seines Aufenthalts in der Ukraine bekannt. Etwa 2014/2015 sei ihm bedeutet worden, er möge nach Georgien zurückkehren, was er nicht getan habe. Er sei dann 2016 erneut in Georgien (in Abwesenheit) angeklagt worden, diesmal wegen eines Terroristen. Zunächst sei ihm, dem Verfolgten, vorgeworfen worden, er habe diesen entführt, später sei dann auch Folter „hinzugefügt worden“. Im georgischen Fernsehen habe sich 2016 einer der gegen ihn aussagenden Zeugen namens I… N… zu Wort gemeldet und berichtet, er habe nur deshalb gegen den Verfolgten ausgesagt, weil ihm gedroht worden sei, er würde „seine Familie verlieren“. Von den Mitbeschuldigten des Verfolgten, d.h. denjenigen, die ebenfalls an der Misshandlung des terrorverdächtigen K… beteiligt gewesen seien, hätten andere Asyl in Griechenland und Ungarn erhalten (Bd. I BI. 51 d. A.; Bd. IV Hülle BI. 828 d. A.).

Der Verfolgte legte weiterhin eine Erklärung des in Wien wohnhaften ukrainischen Staatsangehörigen A… l… vor (Bd. IV BI. 820 d. A.). Der ehemalige „Brigadejurist“ der georgischen Streitkräfte erklärt darin, er sei im Jahre 2013 in Georgien mehrfach von der Militärpolizei und der Staatsanwaltschaft vernommen worden. Dabei sei er zunächst mit Einschüchterungen und Drohungen, dann mit Folter bis hin zum Brechen beider Handgelenke und einer Beschädigung von zwei Wirbeln dazu gedrängt worden, gegen den Verfolgten falsch auszusagen (dabei wird jedoch nicht deutlich, ob es sich um die Vorwürfe gegen den Verfolgten handelt, die Gegenstand des Freispruchs waren, oder um die Vorwürfe, die jetzt Gegenstand des Auslieferungsersuchens sind), l… erklärt weiter seine Bereitschaft, im Auslieferungsverfahren als Zeuge für die „schmutzige Kampagne gegen General K…“ aufzutreten. Er führt schließlich aus, er sei 2014 aus Georgien geflohen und habe in Österreich politisches Asyl erhalten.

Der schriftlichen Erklärung beigefügt sind die Kopie des österreichischen Reisepasses des potenziellen Zeugen (Bd. IV BI. 821 d. A.) und die Kopie eines Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 2. November 2016, mit welchem dem potenziellen Zeugen sowohl der Status eines Asylberechtigten als auch die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird (Bd. IV BI. 822 d. A.). Die Begründung des Bescheides ist äußerst knapp gehalten und enthält keine näheren Angaben zum Asylgrund, allerdings den Hinweis, dass die österreichischen Behörden „Ermittlungen zur allgemeinen Lage in Ihrem Heimatland [Georgien]“ angestellt hätten und dass vor diesem Hintergrund die behauptete Furcht vor Verfolgung glaubhaft sei.

Der Verfolgte meint, die georgischen Behörden würden in einer Art von „Amtshilfe" für die russischen Behörden tätig. Diesen sei sowohl der Kampf des Verfolgten gegen die russische Armee im Jahre 2008 als auch dessen fortgesetzte Aktivitäten zur Modernisierung und Ausbildung der ukrainischen Armee ein Dorn im Auge, sodass er auch mit Blick auf den Angriff Russlands auf die Ukraine „aus dem Spiel genommen werden“ solle (Bd. IV BI. 818 f. d. A.).

VI.

Bereits einen Tag nach der Inhaftierung des Verfolgten war diese Gegenstand internationaler Berichterstattung und von politischen Debatten im In- und Ausland. Der ehemalige georgische Staatspräsident Saakashvili, der inzwischen in Georgien inhaftiert ist, kritisierte die Festnahme aus seiner Haft heraus. Er bezeichnete den Verfolgten als „Helden“ und bewertete es als „Schande“, dass die georgische „Regierung“ einem entschiedenen Gegner Russlands „Schwierigkeiten“ machen wolle (Bd. I BI. 82 d. A.; SB Veröffentlichungen BI. 158 ff. d. A.).

Bei der Berliner Polizei und der Generalstaatsanwaltschaft Berlin meldeten sich mehrere in Deutschland wohnhafte georgische Staatsangehörige, die gegen die Verhaftung protestierten und ihre Sorge äußerten, der Verfolgte werde im Falle seiner Auslieferung an Georgien von dort an die russischen Behörden überstellt und von diesen getötet bzw., die georgischen Vorwürfe gegen den Verfolgten seien fabriziert und unglaubhaft (Bd. I BI. 118, 164 ff., 211 f. d. A.).

Der Verfolgte hat die Kopie eines Schreibens des ehemaligen (2005-2010) Präsidenten der Ukraine Viktor Juschtschenko von der Jahreswende 2021/2022 an den Bundesminister der Justiz übermittelt, in welchem dem Verfolgten ein guter Leumund bescheinigt und gebeten wird, „sicherzustellen, dass der Prozess gegen [den Verfolgten] den höchsten demokratischen Standards entspricht, die eine rechtswidrige strafrechtliche Verfolgung von Personen aus politischen Gründen nicht zulassen“ (Bd. IV Hülle BI. 829 d. A.).

Ein ähnliches Schreiben an den Bundesminister der Justiz, datiert auf den 11. Januar 2022, hat nach den Angaben des Verfolgten, der auch dieses Schreiben in Kopie mit Übersetzung eingereicht hat, der Volksdeputierte (Abgeordnete) des ukrainischen Parlaments und Vertreter des ukrainischen Präsidenten Zelenskyi beim ukrainischen Verfassungsgericht, F.V. Wenislawskyi, abgesandt (Bd. IV Hülle BI. 829 d. A.).

VII.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat eigene Nachforschungen zur politischen und zur Menschenrechtslage in Georgien angestellt und sich dabei insbesondere auf Internetrecherchen gestützt. Sie hat außerdem fünf Nichtregierungsorganisationen, nämlich Amnesty International Deutschland, das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Friedrich-Naumann-Stiftung und die Heinrich-Böll-Stiftung um Stellungnahme gebeten (Bd. II, BI. 456, 460, 464, 468, 472 d. A.). Bis auf Amnesty International Deutschland haben alle angefragten Nichtregierungsorganisationen von einer eigenen Stellungnahme absehen wollen (Bd. III BI. 601, 782, 792 d. A.). Teilweise haben die Vertreter dieser Organisationen jedoch Recherchehinweise zu frei zugänglichen Quellen im Internet gegeben (vgl. etwa Bd. III Bl. 601, 782 d. A.), die dann in die vorgenannten Nachforschungen Eingang gefunden haben. Als Ergebnis dieser Nachforschungen kann festgehalten werden:

Die allgemeine politische Lage in Georgien ist aktuell von einer andauernden politischen Krise geprägt. Die Kommunalwahlen im Jahr 2021 führten zu einer weiteren Vertiefung der Polarisierung und Radikalisierung des politischen Lebens, in dem nahezu alle Fragen nur noch im Prisma des Kampfes der beiden politischen Hauptkräfte „Georgischer Traum“ (Regierungslager) und „Vereinigte Nationale Bewegung“ (Opposition) gesehen und diskutiert werden. Auch die Justiz ist von der scharfen bipolaren politischen Spaltung erfasst. Die Polarisierung verschärfte sich noch weiter durch die Inhaftierung der Führungsfigur der „Vereinigten Nationalen Bewegung“, des Ex-Präsidenten Saakashvili, der zwischenzeitlich in einen Hungerstreik getreten war, sowie zuvor, im Frühjahr 2021, des Vorsitzenden der Oppositionspartei N… M…; weiterhin auch durch den Einsatz der Sicherheitskräfte und auch der Strafjustiz zum Machterhalt durch die gegenwärtige Regierung (Social Justice Center, Bd. I BI. 129 d. A., ZOiS, Bd. I BI. 155 d. A., Europäisches Parlament, Bd. I BI. 160 f. d. A., FAZ Bd. I BI. 200, 202 f. d. A„ taz Bd. I BI. 206, 209 d. A„ Euractiv, Bd. I BI. 220 d. A., Deutsche Welle, Bd. I, BI. 225 d. A.; Stiftung Wissenschaft und Politik, SB Veröffentlichungen, Bd. 190 f. d. A.; Carnegie Europe; SB Veröffentlichungen, BI. 197 ff d. A.).

Nach Einschätzung von Beobachtern ist der bisherige Prozessverlauf gegen Saakashvili als nicht umfassend fair einzustufen, insbesondere auch wegen der unangemessenen medizinischen Behandlung während es Hungerstreiks. Mit einem fairen Verfahren gegen den Ex-Präsidenten könne im Ergebnis nicht gerechnet werden (Social Justice Center, Bd. I Bd. 129 d. A„ ZOiS, Bd. I BI. 155 f. d. A.).

Allgemein sei die georgische Justiz von derselben parteipolitischen Polarisierung wie die übrige Gesellschaft und darüber hinaus vom Kampfjustizinterner Clanstrukturen geprägt. Siesei nicht in der Lage, sich gegen Versuche externer Einflussnahme zu wehren. Die Justiz werde instrumentalisiert; politisch motivierte Strafverfolgung kein seltener Ausnahmefall. Die Lage der Rechtsstaatlichkeit sei insgesamt besorgniserregend, bzw. es habe bereits ein Abschied von der Rechtsstaatlichkeit stattgefunden. Ein vom Ratspräsidenten der EU, Charles Michel, im April 2021 ausgehandeltes Abkommen zur Beendigung der Konflikte um die Justizreform und zur Depolitisierung der Justiz wird nicht nur nicht umgesetzt, sondern ist inzwischen von der georgischen Regierung auch offiziell aufgekündigt worden. (Social Justice Center, Bd. I Bd. 129 f. d. A„ ZOiS Bd. I BI. 155 f. d. A, FAZ Bd. I BI. 197 d. A„ taz, Bd. I BI. 206 f. d. A.; Human Rights Center, SB Veröffentlichungen, BI. 108 [119R; 132 ff.] d. A.; Human Rights Center, SB Veröffentlichungen, BI. 136 ff. d. A.; Georgian Young Lawyers Association, SB Veröffentlichungen Bd. 145 [149 ff.] d. A.; Stiftung Wissenschaft und Politik, SB Veröffentlichungen, Bd. 191 d. A.; Carnegie Europe, SB Veröffentlichungen, BI. 197 [202] d. A.; Jahresbericht der georgischen Ombudsfrau, SB Veröffentlichungen BI. 206 [231R ff.]).

Die Ernennung von zehn neuen Richtern für den Obersten Gerichtshof im Jahr 2021 auf Lebenszeit sei in einem intransparenten Verfahren nicht nach Kriterien der Professionalität, sondern nach Clan- und Parteiinteressen erfolgt. Bereits zuvor, im Jahr 2019, hatte das Europäische Parlament massive Kritik an Ernennungen von professionell unqualifizierten, aber parteipolitisch abhängigen Höchstrichtern geübt. Nach Einschätzung der georgischen

Ombudsfrau erfolgen die Richterernennungen unter Verstoß sowohl gegen Völkerecht als auch gegen nationales Recht (Social Justice Center, Bd. I BI. 130 d. A. ZOiS, Bd. I BI. 156 d. A.; Europäisches Parlament, Bd. I Bd. 158, 160 d. A.; Jahresbericht der georgischen Ombudsfrau, SB Veröffentlichungen BI. 206 [231R ff.]). Die letzten Richterernennungen zum Obersten Gerichtshof wurden von einem EU-Sprecher gewürdigt als im Widerspruch stehend zu den Empfehlungen der ODIHR und der Venedig-Kommission des Europarats und zu den Selbstverpflichtungen der georgischen Regierung gegenüber der EU. Die Ernennungen würden das Risiko einer „weiteren Unterminierung der richterlichen Unabhängigkeit und des öffentlichen Vertrauens in das georgische Justizsystem“ bergen (SB Veröffentlichungen, eeas.europa.eu, BI. 274 d. A.).

Die Ernennung der fünf unabhängigen (nicht-richterlichen) Mitgliedern in das Kontroll- und Selbstverwaltungsgremium „Oberster Justizrat“ sei das Jahr 2021 über blockiert worden, sodass es an externer Kontrolle mangele; andere Mitglieder seien in einem komplett intransparenten Verfahren ernannt worden. Das Verfahren sehe zwar formal beeindruckend aus, tatsächlich funktioniere es ausschließlich nach Clan- und Parteiloyalitäten und es würden in Scheinverfahren bisweilen evident unqualifizierte Kandidaten zum Obersten Justizrat berufen (Social Justice Center, Bd. I BI. 130 d. A. ZOiS, Bd. I BI. 156 d. A.; HBS, SB Veröffentlichungen, BI. 154 d. A.; Jahresbericht der georgischen Ombudsfrau, SB Veröffentlichungen (BI. 206 [231R ff.])). Die letzten Ernennungen zum Obersten Justizrat wurden vom EU-Botschafter in Georgien als „hastig, intransparent und nicht-kompetetiv“ und als „fünfter Rückschlag im Bereich Justiz und Rechtsstaatlichkeit in Georgien in Folge“ bezeichnet (SB Veröffentlichungen, eeas.europa.eu, BI. 278 d. A.).

Ein Gesetzentwurf zur Depolitisierung des Amtes des Generalstaatsanwalts von Georgien ist im Jahr 2021 zurückgezogen worden (Social Justice Center, Bd. I BI. 130 d. A., vgl. Europäisches Parmanent, Bd. I BI. 160 d. A.).

Die Inhaberin des einzigen von der Regierungsmehrheit unabhängigen Amtes auf nationaler Ebene in Georgien, die Ombudsfrau, N… L…, sah sich im Jahr 2021 heftiger Angriffe vor allem des Parteivorsitzenden der Regierungspartei „Georgischer Traum“, Ko… ausgesetzt, als diese sich kritisch zur medizinischen Behandlung des ehemaligen Staatspräsidenten Saakashvili in der Untersuchungshaft äußerte. Ko… forderte sowohl, dass die Ombudsfrau für diese Äußerungen zur Verantwortung gezogen werden, als auch, dass das Amt der Ombudsperson unter Kontrolle der Regierung gebracht werden müsste (Statement von zwölf georgischen NGOs, Bd. I BI. 138 d. A., FAZ, Bd. I BI. 200 d. A.; civil.ge, Bd. I BI. 222 d. A.; civil.ge, SB Veröffentlichungen, BI. 173 d. A.).

Was die „Staatliche Beobachtungsstelle“ (zum Schutz der Menschrechte) („State Inspectorate Service“) (zu deren Genese vgl. The European Union for Georgia, SB Veröffentlichungen, BI. 61 [73R] d. A.) unter deren Vorsitzender L… T… angeht, wurde, nachdem diese Kritik an der Regierung, namentlich an der Behandlung des ehemaligen Präsidenten Saakashvili in der Haft, geäußert hatte, ein Gesetzentwurf zu deren Auflösung vorgelegt; dieses Gesetz wurde am 30. Dezember 2021 auch im Parlament beschlossen und am 13. Januar 2022 von der georgi-

schen Präsidentin trotz eigener rechtsstaatlicher Bedenken unterzeichnet. Die Staatliche Beobachtungsstelle erhob hiergegen Verfassungsbeschwerde (taz, Bd. I, BI. 204 d. A.; civil.ge, SB Veröffentlichungen BI. 169 d. A.; agenda.ge, SB Veröffentlichungen BI. 171 d. A. civil.ge, SB Veröffentlichungen BI. 176, 181, 187 d. A.). Der EU-Botschafter in Georgien bezeichnete das Gesetz als „Gefahr für die georgische Demokratie“ (SB Veröffentlichungen, eeas.europa.eu, BI. 273 d. A.).

VIII.

Mit Schreiben vom 9. Februar 2022 (Bd. IV BI. 1021 d. A.) hat Amnesty International Deutschland e.V. auf Anfrage der Generalstaatsanwaltschaft (vgl. dazu oben Ziffer VII.) eine Stellungnahme abgegeben.

Amnesty International hält dafür, dass Personen, die unter der Präsidentschaft von Mikheil Saakashvili hohe Ämter innehatten, im Falle ihrer strafrechtlichen Verfolgung in Georgien sowohl dem Risiko eines unfairen Verfahrens als auch dem von Misshandlung und anderer unmenschlicher und erniedrigender Behandlung ausgesetzt sind.

Diese Einschätzung wird damit begründet, dass der bisherige Prozessverlauf gegen den ehemaligen Präsidenten Saakashvili in vielfacher Hinsicht als unfair und dass der Verfolgte K… als enger Verbündeter des ehemaligen Präsidenten Saakashvili anzusehen sei. Insgesamt sei ein wachsender Einfluss der Regierung auf die Justiz und eine selektive und missbräuchliche Strafverfolgung zum Nachteil politischer Gegner zu konstatieren.

Die Organisation weist in diesem Kontext auch auf den Fall eines Parlamentsabgeordneten der (von Saakashvili gegründeten) Oppositionspartei „Vereinigte Nationale Bewegung“ hin, der am 23. Februar 2021 verhaftet und erst nach Zahlung einer Kaution durch die EU auf freien Fuß gesetzt worden sei. Amnesty International stuft diesen Fall als politisch ein.

Auch verweist Amnesty International auf das Urteil EGMR Merabishvili vs. Georgien, das zwar schon vom 14. Juni 2016 datiere, aber ebenfalls sowohl missbräuchliche Formen der Führung von Ermittlungsverfahren als auch gezielte Ermittlungen gegen Saakashvili und sein Umfeld belege.

Nach Einschätzung von Amnesty International Deutschland wäre die Auslieferung des Verfolgten völkerrechtswidrig.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Wortlaut des Schreibens Bezug genommen.

IX.

Die Auslieferung des Verfolgten erweist sich als unzulässig.

IX.1.

Der Senat ist zur Feststellung der Unzulässigkeit der Auslieferung nach § 29 Abs. 1 IRG berufen.

Für die Auslieferung an einen EU-Mitgliedstaat besteht zwischen der Generalstaatsanwaltschaft, beiden Senaten des Brandenburgischen Oberlandesgerichts und der Mehrzahl der übrigen Oberlandesgerichte dahingehend Einigkeit, dass eine gerichtliche Entscheidung auch in dem Falle erforderlich ist, dass die Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung für unzulässig hält, da nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine abschließende Sachentscheidung durch die Generalstaatsanwaltschaft wegen deren Weisungsabhängigkeit nicht statthaft ist.

Hingegen ist die Rechtslage bei Auslieferungen an Drittstaaten nicht eindeutig geklärt.

Zwar hat der das OLG München (1 AR 285/20) zutreffend ausgeführt:

„Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft gemäß §29 Abs. 1 des deutschen Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (im Folgenden: IRG) ist nach Auffassung des Senats zulässig (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 23. November 2015 - 1 Ausl 46/14, juris; entgegen OLG Dresden, Beschluss vom 17. Februar 2021 - OLGAusl 258/20, juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 11. Februar 2021 - 1 AR (Ausl.) 17/20, juris; OLG Rostock, Beschluss vom 15. Februar 2016-20 OLGAusl 21/15, juris; SLGH/Riegel, 6. Aufl. 2020, IRG § 29 Rn. 5). Das Rechtsschutzbedürfnis der Generalstaatsanwaltschaft für diesen Antrag ergibt sich daraus, dass der Verfolgte, der kein eigenes Antragsrecht hat (Ambos/König/ Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Auflage, Rn. 362), nicht als reines Objekt internationalen Rechts behandelt werden darf und einen Anspruch auf Rechtssicherheit hat, vgl. auch § 77 IRG I. V.m. § 296 Abs. 2 StPO. Diese Ansicht ist mit dem Wortlaut des § 29 Abs. 1 IRG vereinbar, da sich der Antrag darauf richten muss, „ob“ und nicht „dass“ die Auslieferung zulässig ist. “

Andererseits halten beachtliche Stimmen im Schrifttum dann, wenn bereits die Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung für unzulässig hält, eine Entscheidung durch den Senat nicht für veranlasst, da der Wortlaut des § 29 IRG dies nicht zwingend gebiete und da eine gerichtliche Entscheidung in derartigen Fällen weder prozessökonomisch noch unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Rechte des Verfolgten angezeigt sei. Vielmehr sei die Generalstaatsanwaltschaft zur eigenen Entscheidung berufen (SLGH/Riegel, 6. Aufl. 2020, IRG § 29 Rn. 5, ähnlich GPKG/Böhm, 37. EL 2014, § 29 Rn. 7 ff.).

Das Brandenburgische Oberlandesgericht hat - auf der Linie des OLG München - in der Vergangenheit mehrfach Anträgen der Generalstaatsanwaltschaft, die Auslieferung (an einen Drittstaat) für unzulässig zu erklären, entsprochen, etwa der 2. Senat in der Sache 2 AR 8/20 mit Senatsbeschluss vom 20. Mai 2020.

Demgegenüber hat der 1. Strafsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts mindestens einmal, nämlich mit Beschluss vom 31. März 2021 in der Sache 1 AR 4/21 die gegenteilige Auffassung vertreten und unter Berufung auf Entscheidungen mehrerer Oberlandesgerichte festgestellt, eine Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung sei nicht veranlasst, da bereits die Generalstaatsanwaltschaft diese für unzulässig erachte. Zwar möge es aus außenpolitischen Gründen wünschenswert sein, wenn die Bundesregierung sich zur Ablehnung der Auslieferung auf eine Entscheidung eines Gerichts berufen könne. Eine gerichtliche Entscheidung des Gerichts sei jedoch nach der dem IRG zugrundeliegenden Logik nur dann veranlasst, wenn die Generalstaatsanwaltschaft das Verfahren überhaupt weiterbetreiben wolle.

Tatsächlich lässt sich aus dem Wortlaut des § 29 Abs. 1 IRG nichts für die - soweit bekannt auch isoliert gebliebene - Entscheidung des ersten Senats herleiten. Wie das OLG München überzeugend ausführt, spricht der Wortlaut der Norm dafür, dass das OLG auch zur Feststellung der Unzulässigkeit der Auslieferung auf Antrag der GStA berufen ist.

Auch die in der Literatur vertretene Auffassung, eine Entscheidung des Gerichts sei weder verfahrensökonomisch, noch zum Schutz der Rechte des Verfolgten indiziert, überzeugt nicht. Denn die Generalstaatsanwaltschaft ist nach der gesetzlichen Systematik nicht befugt, über die Zulässigkeit zu befinden. Eine entsprechende „Entschließung“ des Generalstaatsanwalts ist im Gesetz gerade nicht vorgesehen. Der Generalstaatsanwalt könnte allenfalls die Akten der obersten Landesjustizbehörde mit der Anregung übermitteln, diese der Bundesregierung zur Entscheidung über die Nichtbewilligung vorzulegen. Die Bundesregierung wäre dann ihrerseits genötigt, ohne irgendeine Art von bindender Zulässigkeitsentscheidung inzident über die Zulässigkeit zu entscheiden, ohne selbst Justizbehörde zu sein. Wenn diese zur Sachbehandlung eine andere Ansicht als die Generalstaatsanwaltschaft vertritt, könnte sie die Akten an diese mit der Bitte zurücksenden, unter Berücksichtigung der Auffassung der Bundesregierung einen Antrag nach § 29 Abs. 1 IRG zu stellen. Damit wäre indes der Verfahrensökonomie gerade nicht gedient.

Auch im Interesse des Verfolgten liegt es, wenn die Unzulässigkeit der Auslieferung durch eine gerichtliche Entscheidung festgestellt ist. Auch wenn eine derartige Senatsentscheidung nicht in formale Rechtskraft erwächst, eignet ihr eine gewisser das Verfahren verbindlich abschließender Charakter. Sie ist - anders als eine Nichtbewilligungsentscheidung der Bundesregierung - regelmäßig mit Gründen zu versehen und wird dem Verfolgten zugefertigt, was in dessen Interesse sowohl für das Auslieferungsverfahren selbst - etwa die Sicherung der Löschung der Personenfahndung - als auch in anderen Verfahren (etwa in einem parallel anhängigen inländischen Ermittlungsverfahren oder einem Asylverfahren) liegen kann.

Insgesamt entspricht es damit sowohl der formalen Struktur des im IRG kodifizierten deutschen Auslieferungsverfahrens als auch der Interessenlage aller Beteiligten, des Verfolgten, aber auch der Generalstaatsanwaltschaft, dass regelmäßig in einem zweistufigen Verfahren zunächst eine gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit und sodann eine (auch) politische Entscheidung über die Bewilligung ergeht.

IX.2.

Die Zulässigkeit der Auslieferung ist vorliegend am Maßstab des Europäischen Auslieferungsübereinkommens von 1957 (EuAuslÜbk), ergänzend nach dem IRG zu beurteilen.

Die Auslieferungsunterlagen sind vollständig und schlüssig. Die dem Verfolgten vorgeworfenen Taten sind auch nach deutschem Recht unzweifelhaft strafbar. Die Verfolgungsverjährung in Georgien ist nach dem Ersuchen nicht eingetreten.

Nach Art. 10 EuAuslÜbk ist allerdings auch Voraussetzung der Auslieferung, dass auch nach deutschem Recht noch keine Verjährung eingetreten ist. Dabei sind verjährungsunterbrechende Handlungen im ersuchenden Staat sinngemäß übertragen bei der Berechnung der deutschen Verjährung in Anschlag zu bringen (BGHSt 33, 26). Vorliegend war die letzte bekannte georgische Verfahrenshandlung, die, auf deutsches Verjährungsrecht übertragen, die Verjährung unterbrochen hätte, der Erlass des Haftbefehls am 13. Dezember 2015 (Bd. III BI. 661 d. A.).

Ausgehend hiervon wäre jedenfalls die Straftat der gefährlichen Körperverletzung im Amt mit ihrer zehnjährigen Verjährungsfrist unverjährt, sodass es auf die Frage, ob auch ein Verdacht der Aussageerpressung und der Aussetzung gegeben wäre, nicht ankommt.

Näherer Prüfung bedarf indes die Frage, ob das Auslieferungshindernis der politischen Verfolgung im Sinne von § 6 IRG, Art. 3 EuAuslÜbk besteht und ob begründete Zweifel am erhobenen Tatvorwurf bestehen.

Namentlich wird die Auslieferung nach Art. 3 Abs. 1 und 2 EuAuslÜbk nicht bewilligt, wenn der ersuchte Staat ernstliche Gründe hat anzunehmen, dass die dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegende Tat als „politische Tat“ oder als „mit einer solchen zusammenhängende Tat“ anzusehen ist (Abs. 1 Fallgruppe 1 und 2), oder dass es sich zwar um eine „nach gemeinem Recht strafbare Handlung“ handelt, das Ersuchen aber gestellt wurde, um den Verfolgten aus rassischen, religiösen, nationalen oder auf politischen Anschauungen beruhenden Erwägungen zu verfolgen (Abs. 2 Fallgruppe 1) oder schließlich, dass der Verfolgte zwar nicht aus diesen, sondern aus anderen Gründen verfolgt wird, seine Lage jedoch aus diesen Gründen erschwert wäre (Abs. 2 Fallgruppe 2, „politischer Malus“). Dem Regelungsgehalt von Art. 3 Abs. 1 und 2 EuAuslÜbk entspricht dabei § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 IRG.

Nach Art. 13 EuAuslÜbk kann der ersuchte Staat, wenn ihm die (üblichen) Auslieferungsunterlagen nicht ausreichen, weitere Unterlagen anfordern.

Nach § 10 Abs. 2 IRG ist die Auslieferung bei begründeten Zweifeln am Tatverdacht unzulässig, wenn besondere Gründe zur Prüfung dieses Tatverdachts ausnahmsweise Anlass geben. Zwar tritt die letztgenannte Vorschrift wegen § 1 Abs. 3 IRG grundsätzlich hinter das EuAuslÜbk zurück. Ungeachtet dessen, dass auch Art. 13 EuAuslÜbk die Option einer Schuldverdachtsprüfung jedenfalls andeutet, erweist sich die Vorschrift letztlich als verfassungsrechtlich geboten und damit völkervertragsrechtlich unverfügbar (vgl. SLGH/Hackner, 6. Aufl. 2020, IRG § 10 Rn. 30 m.w.N.). Entsprechendes gilt für den ordre- public-Vorbehalt nach § 73 Satz 1 IRG.

IX.3.

Hieran gemessen erweist sich die Auslieferung als unzulässig.

IX.3.a.

Begründete Zweifel am Tatverdacht könnten sich etwa daraus ergeben, dass es nach allgemeiner Lebenserfahrung unwahrscheinlich ist, dass Folterungen von Terrorverdächtigen durch den stellvertretenden Chef des Generalstabs und Kommandeur des Heeres, also den zweithöchsten Offizier des Staates, in eigener Person vorgenommen werden. Üblicherweise dürften derartige Straftaten durch Untergebene ausgeführt werden.

Weitere Zweifel könnten auch daraus resultieren, dass gegen den Verfolgten bereits einmal ähnliche Vorwürfe erhoben worden sind, von denen der Verfolgte indes in Georgien durch drei Instanzen (im Wesentlichen) freigesprochen worden ist.

Auch könnte es Anlass geben, am Tatverdacht gegen den Verfolgten zu zweifeln, dass dieser schlüssig und unter Vorlage von Beweismitteln vorgetragen hat, dass ein Belastungszeuge gegen ihn (wenngleich unklar bleibt in welchem Verfahren) mit Nachdruck behauptet, von den georgischen Strafverfolgungsbehörden misshandelt worden zu sein, um eine Aussage gegen den Verfolgten zu erzwingen. Diese Behauptung erhält zusätzliches Gewicht dadurch, dass dieser Zeuge in Österreich politisches Asyl erhalten hat, wobei die österreichischen Behörden ausdrücklich anerkannt haben, dass er berechtigte Furcht vor politischer Verfolgung in Georgien habe.

Die Beantwortung dieser Frage kann jedoch letztlich dahinstehen.

IX.3.b.

Es bestehen vorliegend Indizien dafür, dass es sich bei der dem Verfolgten vorgeworfenen Tat um eine „politische Tat“ handelt bzw. dass er aus politischen Gründen verfolgt wird (Art. 3 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 2 Fallgruppe 1 EuAuslAbk).

Dafür spricht etwa, dass die dem Verfolgten vorgeworfene Tat von diesem als sehr hoher militärischer Amtsträger und Vertrauter des damaligen Staatspräsidenten gegen einen Terrorverdächtigen begangen wurde.

Bemerkenswert erscheint auch, dass das georgische Ersuchen durch das Interpol-Generalsekretariat als „politisch motiviert“ eingestuft worden ist und das Bundesamt für Justiz trotz mindestens vierfacher Aufforderung durch die Generalstaatsanwaltschaft nicht dargelegt hat, welche Überlegungen die Bundesregierung bewogen haben, von dieser Einschätzung abzuweichen - wobei nicht verkannt wird, dass der Begriff der „politischen Tat“ nach dem Interpol-Statut und nach dem EuAuslÜbk nicht identisch definiert sein muss - und den Verfolgten nur für Deutschland isoliert zur Festnahme auszuschreiben.

Auch die Beantwortung dieser Frage kann letztlich dahinstehen.

IX.3.c.

Soweit der Verfolgte die Befürchtung äußert, die georgische Regierung betreibe seine Auslieferung gleichsam in verdeckter Amtshilfe für Russland, um ihn nach der Auslieferung den russischen Behörden zu überstellen, drängt sich die Begründetheit einer solchen Besorgnis eher weniger auf und erscheint in gewissem Maße als eher spekulativ.

Immerhin ist indes zu bemerken, dass der Verfolgte auch von der russischen Regierung gesucht wird. Ausweislich der Akten hatte auch diese versucht, den Verfolgten auf die Interpol-Fahndungsliste zu setzen (vgl. Bd. I, BI. 36 d. A.), was jedoch letztlich ebenfalls nicht zu einer Realisierung einer red-notice-Fahndung geführt hatte, da auch dieses Ersuchen vom Interpol-Generalsekretariat als „politischer Fall“ (Artikel-3-Fall) eingestuft wurde (vgl. Bd. II BI. 520 d. A.).

Angesichts der exponierten Vergangenheit des Verfolgten als georgischer General im Kampf gegen die russischen Truppen während des russisch-georgischen Krieges 2008 muss davon ausgegangen werden, dass jedenfalls jene Ausschreibung politisch motiviert war und dass dem Verfolgten dann, wenn die russischen Behörden seiner habhaft werden würden, Lebensgefahr droht. Dies umso mehr, als die russische Staatsführung nach den rechtskräftigen Feststellungen des Kammergerichts Berlin die Ermordung des georgischen Staatsangehörigen S… C… im Berliner Tiergarten in Auftrag gegeben hat und gegenwärtig einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt.

Da die gegenwärtige georgische Regierung, wie allgemein zugänglichen Quellen leicht entnommen werden kann, zwar nicht rundheraus als „pro-russisch“ einzustufen sein mag, jedoch durchaus eine gewisse Nähe zum

russischen Machthaber Putin aufweist.

Vor diesem Hintergrund mag die Furcht des Verfolgten vor einer Überantwortung an Russland jedenfalls nicht als völlig substanzlos gelten.

Die Frage, ob dieser Besorgnis ein derartiges Gewicht zukommt, dass eine Auslieferung nach § 73 S. 1 IRG als unzulässig anzusehen wäre, kann ebenfalls dahinstehen.

IX.3d.

Denn die Auslieferung ist jedenfalls deshalb unzulässig, weil mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass der Status, den der Verfolgte in dem gegen ihn gerichteten Verfahren in Georgien hätte, aus politischen Gründen signifikant schlechter wäre als der eines vergleichbaren hypothetischen Alternativbeschuldigten ohne politischen Hintergrund („politischer Malus“, Art. 3 Abs. 2 Fallgruppe 2 EuAuslÜbk, § 6 Abs. 2 Fallgruppe 2 IRG).

Der Verfolgte ist ein herausragender politischer Repräsentant der „Ära Saakashvili“. Er ist zwar persönlich nach Aktenlage parteilos, jedoch ganz offensichtlich dem ehemaligen Präsidenten Saakashvili, dessen „Georgischer Nationaler Bewegung“ und deren politischer Ziele (u.a. scharf anti-russische Ausrichtung) überaus nahestehend. Dies ergibt sich u.a. daraus, dass Staatspräsident Saakashvili den Verfolgten nach dem Wahlsieg der damaligen Opposition und heutigen Regierung unverzüglich zum Generalstabschef ernannte, um den Posten „politisch abzusichern“, dass Saakashvili den Verfolgten nach dessen Entlassung auf Kaution in einem früher gegen den Verfolgten gerichteten Verfahren unverzüglich empfing und dass der ehemalige Staatspräsident sogar aus der georgischen Haft heraus für den Verfolgten im Zuge des vorliegenden Auslieferungsverfahrens medial eingesetzt hat. Ferner ist von Belang, dass der Verfolgte sich freiwillig in die Ukraine begeben hat, ohne dort besondere familiäre Verbindungen zu haben; offenbar gezielt deshalb, um den militärischen Kampf gegen Russland von dort fortzuführen.

Da jedoch das gesamte politische Leben Georgiens von einer extremen, scharfen Spaltung zwischen den Parteigängern der „Vereinigten Nationalen Bewegung“ und denen der eher vorsichtig pro-russisch orientierten Partei „Georgischer Traum“ dominiert wird, und da auch die Justiz, die nicht als umfassend unabhängig einzustufen ist, in diese Spaltung umfänglich einbezogen ist, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass der Verfolgte in Georgien als Angeklagter zum „Spielball“ der einschlägigen politischen Interessen werden und nicht im gleichen Maße fair wie ein politisch nicht exponierter Angeklagter behandelt würde. Dies gilt umso mehr, als gegen Staatspräsident Saakashvili selbst derzeit ebenfalls ein Strafverfahren in Georgien anhängig ist, das nach Ansicht

vieler in- und ausländischer Beobachter jedenfalls auch politisch motiviert und dessen Ablauf nicht umfassend von der Einhaltung des Grundsatzes des fairen Verfahrens geprägt ist.

Durchgreifenden Anlass zur Besorgnis gibt zudem, dass die zwei georgischen staatlichen Institutionen, die Kritik am Ablauf des Saakashvili-Verfahrens geäußert haben, nämlich die Ombudsfrau N… L… und die „Staatliche Beobachtungsstelle“ unter ihrer Vorsitzenden L… T… - und zwar ganz offenkundig wegen dieser Kritik - heftigen Angriffen des Regierungslagers ausgesetzt waren; im Falle der „Staatlichen Beobachtungsstelle“ bis hin zu einer Zerschlagung der gesamten Behörde durch ein rasch verabschiedetes Sondergesetz, welches sogar die im Regierungslager stehende georgische Staatspräsidentin bei Gelegenheit der Unterzeichnung als rechtsstaatlich hochgradig bedenklich gewürdigt hat.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die obigen Abschnitte VII. und VIII. Bezug genommen.“

II.

Der Senat entscheidet nach eigener eingehender Prüfung der Sach- und Rechtslage antragsgemäß. Die ausgewogene und gegen die Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten sprechende Bewertung der Generalstaatsanwaltschaft ist zutreffend. Nach der Gesamtbetrachtung aller von ihr dargelegten Umstände sind bereits die dem Verfolgten gemachten Tatvorwürfe mit großen Zweifeln behaftet und deuten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine politische Verfolgung im Sinne von § 6 Abs. 2 IRG hin. Der Senat sieht jedenfalls ernstliche Gründe für die Annahme, dass den Verfolgten im Falle seiner Auslieferung ein politisches und kein rechtsstaatliches, faires Verfahren erwarten würde.

Ergänzend bemerkt der Senat:

Nach seiner Auffassung hat das Oberlandesgericht eine Entscheidung über die Auslieferung gemäß § 29 IRG auch dann zu treffen, wenn die Generalstaatsanwaltschaft die Auslieferung des Verfolgten für nicht bewilligungsfähig hält (h. h. im Falle der von ihr beabsichtigten Nichtbewilligung der Auslieferung) und eine gerichtliche Entscheidung über die (Un-) Zulässigkeit der Auslieferung beantragt (ebenso OLG München, Beschluss vom 9. April 2021, Az.: 1 AR 285/20, zitiert nach juris; Senat, zuletzt Beschluss vom 3. März 2022, Az.: 2 AR 2/22). Der Gesetzeswortlaut des § 29 IRG steht der Zulässigkeit eines solchen Antrags nicht entgegen, weil er auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts, „ob“ und nicht „dass“ die Auslieferung zulässig ist, gerichtet ist. Dem Oberlandesgericht ist eine solche Entscheidung auch nicht mit Blick auf § 79 IRG verwehrt, weil sich diese Regelung auf die gerichtliche Überprüfung von Vorabentscheidungen über fakultative Bewilligungshindernisse nach § 83b IRG bezieht und auch (andere) weitere Gründe, die einer Auslieferung entgegenstehen, vorliegen können (vgl. OLG Celle, Vorlagebeschluss vom 7. Mai 2021, Az.: 2 AR (Ausl) 26/21, zitiert nach juris, Rn. 28). Auch der Wortlaut des § 79 Abs. 2 IRG verbietet eine Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Unzulässigkeit der Auslieferung bei Vorliegen (auch) fakultativer Bewilligungshindernisse nicht (vgl. OLG Celle, a. a. O., Rn. 29).

Das Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Entscheidung des Oberlandesgerichts nach § 29 IRG auch in Fällen von ihr beabsichtigter Nichtbewilligung der Auslieferung beruht auf dem Anspruch des Verfolgten, der kein eigenes Antragsrecht hat und nicht als reines Objekt internationalen Rechts behandelt werden darf, auf Rechtssicherheit ( vgl. OLG München, a. a. O.; Senat, a. a. O.). Dieser Anspruch folgt (indirekt) aus der Rechtsschutzfunktion des § 29 IRG, denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist Zweck der gerichtlichen Zulässigkeitsprüfung im förmlichen Auslieferungsverfahren der präventive Rechtsschutz des Verfolgten (vgl. BerfGE 113, 273, 312; Riegel in Schomburg/Lagodny, 6. Aufl., § 29 IRG Rn. 2). Dieser soll sich im Rahmen des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens vor staatlichen Eingriffen in seine grundrechtlich geschützten Interessen zur Wehr setzen können (vgl. BVerfG, a. a. O.; OLG Celle, a. a. O. Rn. 37).

Da der Verfolgte mangels eines eigenen Antragsrechts Rechtssicherheit mit verfahrensabschließender Außenwirkung gegenüber dem ersuchenden Staat selbst nicht herbeiführen kann, ist er insoweit auf einen Antrag  der Generalstaatsanwaltschaft als staatlichem Organ der Rechtspflege angewiesen (vgl. § 77 IRG i. V. m. § 296 Abs. 2 StPO). Eine solche Verfahrensweise trägt insoweit auch dem Gesichtspunkt der „(außen)-politischen Rückendeckung“ für die Bewilligungsbehörde (vgl. dazu Schierholt in Schomburg/Lagodny, a. a. O., § 29 IRG Rn. 3) Rechnung, indem sich der ersuchte Staat bei einer Ablehnung der Auslieferung gegebenenfalls auf eine die Exekutive bindende Entscheidung der Judikative berufen kann.