Gericht | OLG Brandenburg 1. Senat für Familiensachen | Entscheidungsdatum | 04.10.2021 | |
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Aktenzeichen | 9 UF 167/21 | ECLI | ECLI:DE:OLGBB:2021:1004.9UF167.21.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
1. Der Kindesmutter wird auf ihren Antrag vom 03.09.2021 ratenfreie Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt B… in C… bewilligt.
2. Der Senat kündigt die schriftliche Entscheidung mit den nachfolgenden Hinweisen an.
I.
Gegenstand des vorliegenden Hauptsacheverfahrens ist der Entzug der Personensorge für das betroffene Kind M… R…, geboren am … 2008, zulasten seiner Mutter, der Beschwerdeführerin.
Die Kindesmutter war bei Geburt des betroffenen Kindes 13 Jahre alt. Die Vormundschaft für das betroffene Kind wurde zunächst durch seine Großmutter, Frau S… R… ausgeübt, diese betreute und versorgte das betroffene Kind in der Folgezeit. Eine Feststellung der Vaterschaft zum betroffenen Kind ist – soweit bekannt – bislang nicht erfolgt.
Mit dem Eintritt der Volljährigkeit der Kindesmutter wurde eine Familienpflegschaft eingerichtet und als Familienpflegerin die vorgenannte Großmutter eingesetzt (vgl. auch Bl. 10 f.).
Mit Beschluss des Amtsgerichts Cottbus vom 29.05.2020 (Az. 53 F 99 / 20) wurde die Personensorge für das betroffene Kind der Kindesmutter im Wege einstweiliger Anordnung vorläufig entzogen und insoweit das Jugendamt des Landkreises S… als Ergänzungspfleger eingesetzt. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Kindesmutter hat der Senat mit Beschluss vom 12.08.2020 (Az. 9 UF 121 / 20, vgl. Bl. 153 ff.) zurückgewiesen. Grundlage dieser auf § 1666 Abs. 1 BGB beruhenden Entscheidungen war (neben weiteren Auffälligkeiten) insbesondere ein sexualisiertes wie auch impulsiv-aggressives Verhalten des betroffenen Jungen, welcher mehrfach andere Jungen an verschiedenen Örtlichkeiten in den Schritt gegriffen und an die Hoden gefasst hatte. Im Zuge einer stationären Diagnostik wurde eine erhebliche Störung des sozialen und sexuellen Nähe-/Distanzverhältnisses beim betroffenen Jungen diagnostiziert. Trotz der entsprechend festgestellten Störungen beim betroffenen Kind waren weder die Großmutter als Familienpflegerin noch die Kindesmutter in der Lage bzw. bereit, weitere Schäden vom Kind abzuwenden und mit den zuständigen Behörden zusammenzuarbeiten. Ebenso wurden entsprechende gerichtliche Anordnungen negiert bis hin zu dem Versuch, sich Kontakten durch Gerichte bzw. Behörden vollständig zu entziehen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgenannte Senatsentscheidung Bezug genommen (dort ab Seite 3 f. der Gründe).
Seit Juli 2020 lebt M… in einer Wohngruppe; sein sexualisiertes Verhalten zeigt sich dort nach wie vor.
Mit Beschluss vom 04.08.2021 hat das Amtsgericht Cottbus der Kindesmutter die Personensorge für das betroffene Kind entzogen und das Fortbestehen der Pflegschaft durch das Jugendamt Landkreis S… angeordnet. Grundlage dessen waren weitergehende Ermittlungen des Amtsgerichtes insbesondere im Zuge der Durchführung einer mündlichen Verhandlung und der Einholung ärztlicher Stellungnahmen sowie solcher des Jugendamtes Cottbus, des Ergänzungspflegers des Kindes sowie seines Verfahrensbeistandes. Nach den Gründen der angefochtenen Entscheidung hat das Amtsgericht von der persönlichen Anhörung des betroffenen Kindes abgesehen und dazu ausgeführt, sein ausdrücklicher Wunsch sei es, wieder nach Hause zurückzukehren; der Verfahrensbeistand habe das Kind über Gegenstand, Verlauf und möglichen Ausgang des Verfahrens informiert, eine weitere Anhörung durch das Familiengericht sei nicht erforderlich.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Kindesmutter, mit welcher sie zugleich die Gewährung von Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren begehrt.
II.
Die gemäß §§ 58 ff. FamFG statthafte und in zulässiger Weise eingelegte Beschwerde der Kindesmutter hat nach derzeitigem Stand dahingehend Erfolg, dass die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Verfahren zur erneuten Durchführung an das Amtsgericht zurückzuverweisen ist. Das Verfahren vor dem Amtsgericht leidet an einem wesentlichen Mangel, der zur Aufhebung und Zurückweisung an das Amtsgericht gemäß § 69 Abs. 1 S. 3 FamFG (die Kindesmutter hat einen entsprechenden Antrag gestellt) führt.
In erster Instanz ist verfahrensfehlerhaft die Anhörung des Kindes und das sich Verschaffen eines persönlichen Eindrucks von dem Kind unterblieben. Dies gilt erst recht angesichts der vor kurzem in Kraft getretenen, teilweisen Reform der Verfahrens(Anhörungs)rechte im FamFG, welche ohne Übergangsfrist seit dem 01.07.2021 in allen laufenden Verfahren gelten (vgl. zu letzterem Witt FamRZ 2021, 1510, 1518).
Ob darüber hinausgehend auch verfahrensfehlerhaft die Einholung eines Sachverständigengutachtens unterblieben ist, wie dies seitens der Kindesmutter ebenfalls gerügt wird, kann dahinstehen.
1.
Dabei ist zunächst festzustellen, dass eine persönliche Anhörung des betroffenen Kindes – soweit dies nach Aktenlage zurückverfolgt werden kann – bislang seitens des Gerichtes weder im vorangegangenen Eil- noch im hiesigen Hauptsacheverfahren erfolgt ist.
2.
Gemäß § 159 Abs. 1 FamFG in der ab 01.07.2021 geltenden neuen Fassung (Gesetz zur Bekämpfung sexueller Gewalt gegen Kinder, BGBl. I S. 1810) hat das Gericht das Kind persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von dem Kind zu verschaffen. In Verfahren nach den §§ 1666 und 1666a BGB, die die Person des Kindes betreffen, kann von der persönlichen Anhörung und der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks nur abgesehen werden, wenn ein schwerwiegender Grund dafür vorliegt oder das Kind offensichtlich nicht in der Lage ist, seine Neigungen und seinen Willen kundzutun, wie aus dem Zusammenspiel der §§ 159 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, 2 und S. 2 FamFG n.F. folgt. Im Falle der § 1666 und 1666a BGB ist das Kind daher selbst dann persönlich anzuhören, wenn an sich seine Neigungen, Bindungen oder sein Wille für die Entscheidung nicht von Bedeutung sind oder wenn eine persönliche Anhörung aus sonstigen Gründen nicht angezeigt wäre. Sieht das Gericht davon ab, das Kind persönlich anzuhören oder sich einen persönlichen Eindruck von dem Kind zu verschaffen, ist dies in der Endentscheidung zu begründen, § 159 Abs. 3 S. 1 FamFG n.F.
Vorliegend hat das Amtsgericht die Anhörung des Kindes unterlassen, ohne Gründe nach § 159 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 oder 2 FamFG n.F. im angefochtenen Beschluss darzulegen. Bereits dies stellt sich angesichts der dargestellten Reform als schwerwiegender Verfahrensfehler dar. Zudem sind solche – lediglich sehr ausnahmsweise gegebenen – Gründe für ein Absehen von der Anhörung nicht einmal im Ansatz ersichtlich. Ein schwerwiegender Grund (§ 159 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 FamFG n.F.) setzt kindeswohlschädliche Umstände voraus, die deutlich über die mit jeder richterlichen Anhörung für das Kind verbundene Beeinträchtigung hinausgehen (vgl. bereits zum inhaltsgleichen § 159 Abs. 3 FamFG a.F.: BGH FamRZ 2019, 115). Es ist nichts dafür erkennbar, dass das betroffene Kind im Falle seiner persönlichen Anhörung einer solchen besonderen Schädigung ausgesetzt wäre. Der vom Verfahrensbeistand mitgeteilte Inhalt der durch ihn erfolgten Anhörung des Kindes spricht schon für sich betrachtet dafür, dass der Junge in der Lage ist, seine Neigungen und seinen Willen kundzutun. Alleine der durch den Verfahrensbeistand mitgeteilte Willen des betroffenen Kindes genügt aber ersichtlich nicht, da es auf die persönliche Anhörung des betroffenen Kindes durch das Gericht ankommt.
3.
Vorsorglich sei noch darauf hingewiesen, dass die zuvor benannte Teilreform des FamFG nicht dazu führt, dass der Senat statt einer schriftlichen Entscheidung eine mündliche Verhandlung anzuberaumen hätte.
Zwar gilt (ebenfalls seit dem 01.07.2021) die in § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG ermöglichte schriftliche Entscheidung dann nicht, wenn die Beschwerde ein Hauptsacheverfahren betrifft, in dem eine der Entscheidungen über die teilweise oder vollständige Entziehung der Personensorge nach den §§ 1666 und 1666a des BGB in Betracht kommt, § 68 Abs. 5 Nr. 1 FamFG n.F.. Dafür bedarf es aber – wie der Wortlaut zeigt – einer Entscheidung des Beschwerdegerichts in der Sache. Wird eine Zurückverweisung der angefochtenen Entscheidung an das Familiengericht beabsichtigt, gilt § 68 Abs. 5 FamFG daher nicht, weil es dann nicht zu einer Sachentscheidung kommt (vgl. auch BT-Drucks. 19/23707 S. 52 sowie Witt, FamRZ 2021, 1510, 1511).