Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 4. Senat | Entscheidungsdatum | 17.03.2022 | |
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Aktenzeichen | L 4 KR 230/19 | ECLI | ECLI:DE:LSGBEBB:2022:0317.L4KR230.19.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Die Entscheidungsfrist des § 13 Abs. 3a S. 1 SGB V beginnt frühestens an dem Tag zu laufen, an dem die materiell-rechtlichen Norm auf die der Antragsteller sein Leistungsbegehren stützt, in Kraft tritt.
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Die Beteiligten streiten um die Versorgung des Klägers mit Medizinal-Cannabis sowie um die Erstattung von Aufwendungen zum Erwerb von Cannabisprodukten.
Der im Jahr 1990 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Am 28. Februar 2017 stellte die Betreuerin des Klägers für diesen einen Antrag auf Kostenübernahme für „verordnete Cannabisblüten/Zustimmung Therapie“. Sie führte aus, dass der Kläger Schmerzpatient sei. Im Jahr 2015 sei bei ihm die Diagnose Fibromyalgie gestellt worden. Er sei durch die Schmerzen stark eingeschränkt und behandele diese derzeit selbst und mit Erfolg mit Cannabis. Ab März 2017 trete ein neues Gesetz in Kraft, welches ermögliche, Cannabisblüten per Rezept in der Apotheke zu beziehen. Der Schmerzarzt des Klägers sowie seine Hausärztin befürworteten diese Medikation. Damit der Schmerztherapeut ein Rezept für Cannabisblüten ausstelle, werde die Zustimmung zur kontrollierten Behandlung mit Cannabis durch die Beklagte benötigt.
Mit Schreiben vom 3. März 2017 bat die Beklagte für eine Untersuchung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) um ergänzende Unterlagen und Informationen, warum im Fall des Klägers keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Anwendung kommen könne und welches Präparat genau zum Einsatz kommen solle. Ferner informierte sie darüber, dass das Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften (Cannabis) noch nicht in Kraft getreten sei. Sie wies darauf hin, dass die Entscheidungsfrist nach dem Antrag fünf Wochen betrage. Da noch Unterlagen fehlten, sei diese Frist außer Kraft gesetzt.
Am 17. März 2017 sprach der Kläger persönlich bei der Beklagten vor und reichte ein Rezept seines behandelnden Anästhesiologen und Schmerztherapeuten Dr. G vom selben Tag über die Verordnung von Sativex® drei mal zwei Sprühstöße sowie Cannabisblüten Pedianios 14/1 (NRF 22.12) 50g 2x tgl. 100mg ein. Dem fügte er den Therapievertrag vom selben Tag bei. In diesem wurden als Dauerdiagnosen eine Fibromyalgie an mehreren Lokalisationen, eine gastroösophageale Refluxkrankheit mit Ösophagitis, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung, sonstige cannabinoidbedingte psychische und Verhaltensstörungen und eine chronische Gastritis, nicht näher bezeichnet, angegeben. Als Therapieziele wurden eine Schmerzlinderung von derzeit 9 auf 5-6 der numerischen Analogskala, ein strukturierter Tagesablauf, eine Reduktion auf 2-4 mal Cannabiseinnahme und eine Konditionierung angegeben.
Weiter beigefügt wurde ein Krankenhausentlassungsbericht des I Krankenhauses B für eine stationäre Behandlung des Klägers vom 29. September bis 07. Oktober 2015. Dort wurden die Diagnosen eines Fibromyalgiesyndroms, eines Zustandes nach Pneumonie links im Jahr 2014, einer Reflux-Ösophagitis und anamnestisch von rezidivierenden Harnwegsinfekten gestellt. Eine entzündlich-rheumatologische Grunderkrankung wurde von den behandelnden Ärzten ausgeschlossen.
Ferner wurde ein Attest der behandelnden Allgemeinmedizinerin Frau L vom 27. Februar 2017 eingereicht, welche bestätigte, dass mehrere Behandlungsversuche mit Schmerzmitteln wie Novalminsulfon, Sympal, Diclofenac und Ibuprofen bei der Schmerztherapie keinen wesentlichen Erfolg erbracht hätten. Auch Tramal und Tilidin hätten nicht lange vorgehalten. Ein Krankenhausaufenthalt in B mit physiotherapeutischer Behandlung und Ergotherapie habe die Schmerzen nicht gebessert, so dass eine Therapie mit Cannabis durchaus zu erwägen wäre.
Am 06. April 2017 erstellte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg (MDK) auf Veranlassung der Beklagten ein sozialmedizinisches Gutachten zu der Frage der beantragten Kostenübernahme. Der MDK stellte fest, dass der Kläger an Fibromyalgie erkrankt sei. Ferner bestehe eine Cannabisabhängigkeit. Eine schwerwiegende Krankheit im Sinne des § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) liege bei ihm nicht vor. Vertragsärztliche Behandlungsoptionen seien noch nicht zum Einsatz gekommen. Für die Behandlung einer Fibromyalgie stünden Antidepressiva und eine kombinierte Anwendung von psychotherapeutischen und körperlich aktivierenden Verfahren im Vordergrund. Bei Vorliegen einer cannaboidbedingten psychischen Verhaltensstörung sei der Einsatz von Cannabis kontraindiziert. Wegen der Cannabisabhängigkeit des Klägers stehe eine Entzugsbehandlung im Vordergrund.
Mit Bescheid vom 10. April 2017 teilte die Beklagte der Betreuerin des Klägers den wesentlichen Inhalt des vorgenannten MDK-Gutachtens mit und teilte ferner mit, dass eine Kostenübernahme für das beantragte Arzneimittel Sativex® sowie für Cannabisblüten ausgeschlossen sei.
Mit Fax vom 13. April 2017 (VA 22) legte die Betreuerin des Klägers gegen diese Entscheidung Widerspruch ein. Diesen begründete der Kläger dahingehend, dass die im MDK-Gutachten als vorrangig dargestellten vertragsärztlichen Behandlungsmethoden nur eine mäßige Evidenz entsprechend der S3-Leitlinie aufwiesen, so dass es für die Behandlung einer Fibromyalgie derzeit keinen allgemeinen, starken Evidenzansatz gebe. Angesichts dessen sei eine gut vertragene Behandlung mit Cannabis, die jedenfalls symptomatisch wirke, durchaus eine Option, die ärztlicherseits nachvollziehbar gewählt worden sei. Betrachte man seine Situation, so sei diese durch die von der Fibromyalgie verursachten Schmerzen sowohl in der Tagesgestaltung als auch in der Lebensqualität in erheblichem Maße geprägt. Bei kälteren Witterungsbedingungen könne er vielfach längere Wegstrecken nicht zurücklegen. Er sei überhaupt nicht in der Lage, sich in solchen Verhältnissen körperlich zu betätigen. Gleichzeitig sei seine Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt. Zudem sei seine Lebenssituation durch schwere Panikattacken geprägt. Angesichts dieses seine ganze Person erfassenden Krankheitsbildes sei durchaus von einer schwerwiegenden Erkrankung, welche die Lebensqualität in erheblichem Maße beeinträchtige, auszugehen. Die Ablehnungsentscheidung berücksichtige ferner nicht, dass die Genehmigung der ersten Verordnung von Cannabis nur ausnahmsweise abgelehnt werden dürfe, da grundsätzlich die Therapiehoheit des behandelnden Arztes respektiert werden müsse. Der Widerspruchsbegründung waren weitere Atteste der behandelnden Ärztin Frau L und Dr. G beigefügt (VA 30-34).
Frau L berichtete, dass der Kläger wegen Fibromyalgie mit witterungsabhängiger Verstärkung an Muskel-, Skelett- und Nervenschmerzen mit Beteiligung des Bindegewebes leide, so dass ihm keine schmerzfreie Gehstrecke möglich sei, Schlafstörungen mit Konzentrationsmängeln und Reizbarkeit aufträten und dadurch bedingt auch psychosoziale Probleme im Umgang mit der Umwelt entstünden. Außerdem sei eine Migräne bekannt, welche einen zusätzlichen Stressfaktor darstelle. Durch diese Faktoren würden Schwierigkeiten bei der Gestaltung eines normalen Tagesablaufs, der Motivation zur Problembewältigung und beim Aufbau von normalen sozialen Strukturen bestehen. Diese Problematik bestehe schon seit Kindertagen. Der Kläger sei zurzeit bemüht, im Rahmen einer Einzelfallhilfe mit gesetzlichem Betreuer und im betreuten Wohnen Halt zu finden. Leider habe er bisher noch keinen Termin für eine Psychotherapie bekommen können.
Dr. G nannte seinerseits als cannaboides Medizinalprodukt nur noch Sativex®, welches drei mal täglich mit ein bis drei Sprühstößen zur Anwendung kommen solle. Damit solle vorrangig die Fibromyalgie an mehreren Lokalisationen und die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren behandelt werden. Ziel der Behandlung sei eine Verlangsamung der Krankheitsprogression, eine Reduktion beziehungsweise Vermeidung der starken Nebenwirkungen der bisherigen Medikation, eine Reduktion beziehungsweise Vermeidung von Sturzgefahr, der Erhalt beziehungsweise die Wiederherstellung der Selbstversorgung im häuslichen Milieu, ein multisymptomatischer Therapieansatz zur Reduktion von Schmerzen und Angst, Stresssenkung, Regulation von Muskeltonus sowie eine Schmerzlinderung in Ruhe und Bewegung auf einem akzeptablen Niveau zur Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, psychischen Belastbarkeit, vermehrte Aktivität trotz gleicher Schmerzen, bessere Schlafqualität, schnellere Schmerzremissionen und ein bedingtes Gesundsein in Erleben und Verhalten sowie eine berufliche und soziale Stabilisierung. Die Therapie mit Cannabinoiden solle dem Kläger ermöglichen, in eine leitliniengerechte Schmerztherapie einzusteigen und sich überhaupt wieder in regelmäßige ärztliche Behandlung zu begeben. Gegebenenfalls wäre eine multimodale stationäre Schmerztherapie dem vorzusetzen.
Bei dem Kläger bestehe ein hoher Leidensdruck. Die Behandlung mit Sativex® sei notwendig, weil zur Therapie im konkreten Fall nach seiner Erfahrung keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung stehe, beziehungsweise diese mit unzumutbaren Nebenwirkungen behaftet sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 11. September 2017 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 10. April 2017 als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde ergänzend ausgeführt, dass psychotherapeutische Maßnahmen zur Behandlung der mitgeteilten Verhaltensstörungen bislang nicht zum Einsatz gekommen seien. Die Argumentation, dass der Kläger bislang keine passenden Therapeuten gefunden beziehungsweise keinen Termin erhalten habe, könne nicht nachvollzogen werden. Auch wenn die Behandlung durch Psychotherapeuten durchaus mit einer gewissen Wartezeit verbunden sein könne, sollte inzwischen eine Terminvereinbarung möglich gewesen sein. Ferner sei auch für den Widerspruchsausschuss nicht erkennbar, inwiefern durch die Anwendung von Cannabisblüten eine positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bei dem Kläger erreicht werden solle, wenn durch den mehrjährigen Konsum von Cannabis offensichtlich keine nachweisliche Besserung der Schmerzen eingetreten beziehungsweise hierdurch sogar eine Verhaltensstörung verursacht worden sei. Durch die bestehende Cannabisabhängigkeit sei eine therapeutische Anwendung kontraindiziert. Der Widerspruchsbescheid wurde dem Verfahrensbevollmächtigten am 12. September 2017 bekannt gegeben.
Am 12. Oktober 2017 hat die Betreuerin des Klägers für diesen gegen die vorgenannte Entscheidung Klage erhoben, mit dem ursprünglichen Begehren, die Beklagte zu verpflichten, die Kostenübernahme für Sativex® sowie Cannabisblüten zu gewähren. Zur Klagebegründung hat er ergänzend ausgeführt, dass seine Fibromyalgie von seinem behandelnden Neurologen, der auch Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sei, mit dem Antidepressivum Duloxetin® behandelt worden sei. Er habe jedoch feststellen müssen, dass dieses Medikament nicht geholfen, sondern vielmehr Kopfschmerzen, Müdigkeit und Verwirrtheit zur Folge gehabt habe. Ein weiteres Experimentieren sei ihm nicht zumutbar. Daher sei die ärztlich verordnete Behandlung mit Cannabis in Kombination mit Sativex® die letzte Behandlungsoption. Soweit die Beklagte ihm einen Cannabismissbrauch vorwerfe und ausführe, dass auch dieser nicht zu einer Schmerzreduktion geführt habe, sei anzumerken, dass medizinischer Cannabis in standardisierter Form regelmäßig eingenommen sowie die Dosis unter ärztliche Aufsicht eingestellt werden müsse, um einen optimalen Erfolg zu erzielen.
Der Kläger hat der Klage einen Krankenhausentlassungsbericht der Charité B für seinen dortigen stationären Aufenthalt vom 28. September 2017 bis 1. Oktober 2017 beigefügt. Er ist dort wegen eines chronischen Schmerzsyndroms, mit der Differenzialdiagnose Fibromyalgie, behandelt worden. Die Medikation bei Aufnahme hat in 2 Gramm Marihuana mindestens am Tag bestanden. Der Kläger hat berichtet, dass er etwa 70 g Cannabis monatlich konsumiere und gerade versuche, welche Arten und welche Portionierung für ihn am geeignetsten seien. Durch den Konsum von Cannabis seien seine Beschwerden deutlich gebessert. Die behandelnden Ärzte der Charité haben in Zusammenschau der Befunde festgestellt, dass bei dem Kläger ein chronifiziertes Schmerzsyndrom bei zudem bestehender behandlungsbedürftiger psychiatrischer Grunderkrankung besteht. Die von dem Kläger als sehr wirksam eingeschätzte Therapie mit Marihuana sei kritisch zu evaluieren. Grundsätzlich bestehe eine Indikation zu einer multimodalen Schmerztherapie. Hierfür sei jedoch zunächst eine Cannabisabstinenz erforderlich. Es solle eine psychiatrische Vorstellung zur etwaigen Therapie einer gegebenenfalls bestehenden Suchtsymptomatik sowie der psychiatrischen Vorerkrankung erfolgen. Entsprechend werde eine ambulante oder stationäre psychiatrische Anbindung empfohlen.
Im Zeitraum vom 3. April 2018 bis 19. April 2018 hat sich der Kläger in stationärer schmerztherapeutischer Behandlung der Klinik Havelhöhe in Berlin befunden. Als Schmerzdiagnose ist eine chronische Schmerzstörung, als somatische Diagnose ein Fibromyalgie-Syndrom festgestellt worden. Als psychische Diagnosen haben die behandelnden Ärzte ein Abhängigkeitssyndrom für Cannabinoide, gegenwärtiger täglichen Gebrauch von Cannabisblüten bei Verschreibung auf Privatrezept 2017, in der Vorgeschichte: Psychische und Verhaltensstörung durch Cannaboide (Josefinum - Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Augsburg, 2004), in der Vorgeschichte: Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (Josefinum - Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Augsburg, 2004), verstärkte Aufmerksamkeit auf körperinterne Veränderungen und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, festgestellt. Ziel der multimodalen Therapien sei das Erlernen selbstwirksamer Strategien zur Schmerzminderung sowie eine Optimierung der medikamentösen Cannabistherapie gewesen. Mehrfach sei mit der Betreuerin und dem Kläger der Zusammenhang von seelischen Belastungsfaktoren sowohl aktuell als auch im geschichtlichen, Schmerzempfinden und Substanzabhängigkeit zur Förderung des Verständnisses für den Nutzen der Reduzierung von Cannabis zugunsten eines psychotherapeutischen Arbeitens an der psychischen Stabilisierung, Autonomie und Bewältigung von lebenspraktischen Aufgaben besprochen worden. Dieses habe schrittweise umgesetzt werden können, die Fortführung von ambulanten psychotherapeutischen Sitzungen werde jedoch dringend empfohlen.
Die damalige Prozessbevollmächtigte des Klägers reichte ergänzend einen Befundbericht des behandelnden Orthopäden Dr. J vom 20. Juni 2018 zur Untersuchung von Beschwerden des Klägers in der Hals- und Lendenwirbelsäule sowie im Bereich der Knie und Sprunggelenke, sowie einen Befundbericht des Radiologen Herrn K für ein 2-Phasenknochenszintigramm der Hände, Füße, Knie und des Ganzkörpers der Lendenwirbelsäule zur Gerichtsakte. Ferner wurde berichtet, dass der Kläger am 2. Oktober 2018 erstmalig eine Probesitzung bei der Psychotherapeutin Dr. S absolviert habe. Am 16. April 2019 erstellte der behandelnde Schmerztherapeut Dr. G ein weiteres Attest für den Kläger. Er bestätigte, dass der Kläger sich seit dem 5. August 2016 in seiner ambulanten Schmerzsprechstunde befinde. Die angesetzten Termine seien regelmäßig wahrgenommen worden, es bestehe eine gute Compliance. Als weitere Dauerdiagnosen führt Herr Dr. G zusätzlich auch Spannungskopfschmerzen und eine posttraumatische Belastungsstörung auf. Als Dauermedikamente seien 80 bis 100 Gramm medizinaler Cannabis als stabile Dosis seit Therapiebeginn verordnet worden. Wichtig sei, dass der Kläger seit zwei Jahren nicht mehr krank gewesen sei und seine Beschwerden durch den Medizinal-Cannabis zum Teil vergessen habe.
Am 30. April 2019 hat das Sozialgericht Berlin eine mündliche Verhandlung mit den Beteiligten durchgeführt. Der Kläger hat erklärt, dass er die Psychotherapie bei Frau Dr. S kurzfristig habe abbrechen müssen. Der Weg nach Potsdam sei zu weit gewesen. Er sei durch seine Gehbehinderung eingeschränkt. Seine als Beistand erschienene Sozialarbeiterin hat ergänzt, dass der Kläger für den Weg eineinhalb Stunden brauche.
Mit Urteil vom 30. April 2019 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass nach seiner Auffassung allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistungen zur Verfügung stünden. Der Kläger sei nicht im ausreichenden Umfang erfolglos psychotherapeutisch und mit Antidepressiva behandelt worden. Ferner fehle es an einer ärztlichen Therapieentscheidung. Der Kläger habe in der Folge nichts vorgebracht, was zu einer abweichenden rechtlichen Beurteilung führen könne. Dieses Urteil wurde dem damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers am 24. Mai 2019 zugestellt.
Am 20. Juni 2019 hat der Kläger gegen die vorgenannte Entscheidung Berufung eingelegt. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat die Berufung damit begründet, dass durch Ablauf der Genehmigungsfiktion zum 4. April 2017 eine Genehmigung der Cannabisverordnung bestehe. Der Einwand des angegriffenen Urteils, es liege keine Therapieentscheidung des verordnenden Arztes vor, gehe fehl. Eine Therapiehoheit des behandelnden Arztes gebe es nicht. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass bei ärztlich verordnetem und kontrolliertem Cannabiskonsum nie von einer Cannabisabhängigkeit gesprochen werden könne.
Auf den Hinweis des damaligen Berichterstatters vom 1. Juli 2020 zu der geänderten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bezüglich der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers Nachweise für die Selbstbeschaffung von Cannabisblüten über holländische Apotheken sowie eingelöste Privatrezepte über Berliner Apotheken eingereicht. Der Wert der eingereichten Rezepte und Rechnungen beläuft sich insgesamt auf 15.303,54 Euro für den Zeitraum vom 17. März 2017 bis 26. Juni 2020. Mit Schriftsatz vom 31. August 2020 reichte der Prozessbevollmächtigte des Klägers ein weiteres Privatrezept vom 10. August 2020 sowie eine dazugehörige Rechnung einer holländischen Apotheke für Cannabisblüten im Wert von 600,00 Euro ein.
Der Kläger hat in dem am 17. März 2022 durchgeführten Verhandlungstermin vor dem Senat nicht mehr an seinem Begehren festgehalten, mit dem Medikament Sativex® versorgt zu werden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. April 2019 und den Bescheid der Beklagten vom 10. April 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. September 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger mit Medizinal-Cannabisblüten mit einer Tagesdosis von mindestens 2,5 g zu versorgen sowie die entstandenen Kosten aus der Selbstversorgung mit Medizinal-Cannabisblüten in Höhe von 15.903,54 Euro zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält die Entscheidung des Sozialgerichts Berlin für zutreffend. Eine Genehmigungsfiktion könne in Ermangelung eines fiktionsfähigen Antrages nicht eingetreten sei. Insbesondere fehle es in dem Antrag der Betreuerin des Kläger an der Benennung der Cannabissorte und der Dosierung.
I.
Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig. Er verfolgt in zulässiger Weise eine Anfechtungs- und Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 und 4 SGG. Insbesondere steht es dem Kläger frei, im Berufungsverfahren die Erstattung von Kosten des von ihm selbst beschafften Medizinal-Cannabis anstatt der Sachleistung für bereits erworbene Arzneimittel zu begehren. Gemäß § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG ist es nicht als eine Änderung der Klage anzusehen, wenn ohne Änderung des Klagegrundes statt der ursprünglich geforderten Leistung wegen einer später eingetretenen Veränderung eine andere Leistung verlangt wird. So liegt es – wie hier – bei der Umstellung eines Sachleistungsbegehrens auf einen Kostenerstattungsanspruch (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 26. Februar 2019, Aktenzeichen B 1 KR 24/18 R, Randnummer 8, zitiert nach JURIS).
II. |
1. |
bb. |
Ein Kostenerstattungsanspruch ergibt sich auch nicht aus § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V. Gemäß dieser Norm hat die Krankenkasse die Kosten für selbstbeschaffte Leistungen in der Höhe zu erstatten, die dadurch entstanden sind, dass sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte, soweit die Leistung notwendig war. |
2. |
Die Kostengrundentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Hauptsacheverfahrens. |
3. |
Die Revision wird gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen. |