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Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (§ 69 Abs. 3 FGO) - Umsatzsteuer 2015


Metadaten

Gericht FG Berlin-Brandenburg 7. Senat Entscheidungsdatum 04.04.2022
Aktenzeichen 7 V 7031/22 ECLI ECLI:DE:FGBEBB:2022:0404.7V7031.22.00
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen

Tenor

Die Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids 2015 vom 29.01.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.10.2021 wird mit Wirkung vom Fälligkeitstag bis zum Ablauf eines Monats nach Zustellung einer abschließenden Entscheidung in dem Verfahren 7 K 7160/21 ausgesetzt.

Die Kosten des Verfahrens werden dem Antragsgegner auferlegt.

Die Beschwerde wird zugelassen.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten darum, ob der Antragsgegner ihm vorliegendes Kontrollmaterial zu Recht zum Anlass genommen hat, entsprechende Umsatzsteuer gegenüber der Antragstellerin festzusetzen.

Die Antragstellerin beauftragte im Streitjahr Rechtsanwälte, die Mitglieder ihrer Prozessbevollmächtigten, mit der Wahrnehmung ihrer rechtlichen Interessen gegenüber einer B… GmbH mit Sitz in C…. Mit Anwaltsschriftsatz vom 21.04.2015 forderte die Antragstellerin die B… GmbH auf, eine rückständige Zahlung aus einer Rechnung vom 08.01.2015 (Nr. 12/2015) in Höhe von 21.704,71 € durch Zahlung auf das Fremdgeldkonto der Rechtsanwälte zu begleichen. Die Rechnung liegt in Kopie vor. Danach berechnete die Antragstellerin der B… GmbH für die Lieferung von Sonderposten von Taschen, Kleinlederwaren und Koffern 18.239,25 € zuzüglich 3.465,46 € Umsatzsteuer (zusammen 21.704,71 €). Mit weiterem Anwaltsschriftsatz vom 01.06.2015 forderte die Antragstellerin die B… GmbH auf, eine rückständige Zahlung aus einer Rechnung vom 16.04.2015 (Nr. 104/2015) in Höhe von 35.750,00 € wiederum durch Zahlung auf das Fremdgeldkonto der Rechtsanwälte zu begleichen. Insoweit liegt die genannte Rechnung nicht vor, lediglich eine Anwaltsrechnung für diesen Vorgang über 146,88 € zuzüglich 27,91 € Umsatzsteuer. Die angeforderten Zahlungen gingen auf dem Fremdgeldkonto ein und wurden – nach Verrechnung mit offenen Gebührenforderungen – dem Geschäftsführer der Antragstellerin im Streitjahr ausgezahlt.

Die Antragstellerin reichte zunächst für die Veranlagungszeiträume ab 2012 weder Umsatzsteuererklärungen, noch Jahresabschlüsse ein.

In den Jahren 2014 und 2015 beantragte der Antragsgegner zweimal erfolglos beim Amtsgericht D… – Handelsregister – die Löschung der Antragstellerin als vermögenslos. Dabei legte die Antragstellerin eine Versicherungspolice vor, nach der ihr früherer, im Jahre 2011 abberufener Geschäftsführer für die Versicherungsleistungen bezugsberechtigt war.

Am 22.08.2019 gingen dem Antragsgegner zwei Kontrollmitteilungen des Finanzamts E… mit der Steuer-Nr. der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin und dem Geschäftszeichen „…“ zu, denen die oben genannten Unterlagen über den Schriftverkehr mit der B… GmbH beigefügt waren. Die Kontrollmitteilungen enthalten den Vermerk „erhalten von Anwaltsbüro F…“.

Dies nahm der Antragsgegner zum Anlass, mit Bescheid vom 29.01.2021 ausgehend von geschätzten Besteuerungsgrundlagen eine Umsatzsteuer 2015 in Höhe von 9.173,39 € festzusetzen, wobei der Antragsgegner von steuerpflichtigen Umsätzen in Höhe von 48.281,00 € ausging und keine Vorsteuer berücksichtigte. Davon ausgehend setzte er die Umsatzsteuer auf 9.173,39 € fest.

Gegen diesen Bescheid legte die Antragstellerin am 22.02.2021 Einspruch ein, den sie mit ihren Umsatzsteuererklärungen 2012 bis 2020 in Papierform begründete (jeweils mit der Angabe „0 €“ für Umsätze und Umsatzsteuer). Ferner gab sie an, seit 2011 keinen laufenden Geschäftsbetrieb mehr zu haben und seitdem auch keine Umsätze zu generieren. Die streitbefangenen Vorgänge hätten der Rückabwicklung gedient und seien daher steuerneutral. Jedenfalls bestehe ein Beweisverwertungsverbot, da die Steuerbehörde in der Kanzlei ihrer Bevollmächtigten eine Prüfung des Fremdgeldkontos vorgenommen und dieses trotz der Verschwiegenheitspflicht der Rechtsanwälte zur Grundlage des hiesigen Verfahrens genommen habe.

Der Antragsgegner wies den Einspruch mit der am 01.11.2021 zugestellten Einspruchsentscheidung vom 22.10.2021 als unbegründet zurück. Er verwies darauf, dass nach dem Akteninhalt nichts für eine steuerneutrale Rückabwicklung spreche.

Darauf erhob die Antragstellerin am 11.11.2021 Klage, die beim erkennenden Senat unter dem Aktenzeichen 7 K 7160/21 geführt wird. Am 15.02.2022 hat die Antragstellerin einen Antrag gemäß § 69 Abs. 3 Finanzgerichtsordnung –FGO– gestellt. Sie wiederholt vertiefend den Vortrag aus dem Einspruchsverfahren und führt ergänzend aus, dass die B… GmbH der Antragstellerin habe Taschen liefern sollen und eine entsprechende Rechnung erteilt habe. Darauf habe die Antragstellerin gezahlt, jedoch habe die B… GmbH die Taschen nicht liefern können, so dass die geleistete Vorauszahlung zurückzuzahlen gewesen sei. Entsprechend den Wünschen der B… GmbH habe die Antragstellerin eine gleich hohe Gegenrechnung gelegt, die eigentlich eine Gutschrift darstelle. Aus der ihr erteilten Rechnung habe die Antragstellerin keine Vorsteuer gezogen. Im Ergebnis würden sich jedoch die Vorsteuer aus der Eingangsrechnung und die Umsatzsteuer aus der Ausgangsrechnung aufheben.

Die Antragstellerin beantragt,

die Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids 2015 vom 29.01.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.10.2021 auszusetzen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Er hält dem Antrag entgegen, dass nach wie vor Anlass zu einer Schätzung bestehe, da die Antragstellerin die Umsatzsteuererklärung nicht in der erforderlichen elektronischen Form und ihren Jahresabschluss überhaupt nicht abgegeben habe. Der vorliegenden Papiererklärung sei nicht zu folgen, da nach den vorliegenden Unterlagen Umsätze erzielt und Aufwendungen entstanden seien. Da auch für die Vorjahre keine Jahresabschlüsse und elektronischen Umsatzsteuererklärungen vorlägen, könne zu den Einzelvorgängen keine sinnvolle Stellungnahme abgegeben werden. Diese Einzelvorgänge gingen in der Schätzung auf.

Dem Gericht haben die Streitakte des Verfahrens 7 K 7160/21 sowie je ein Band Körperschaftsteuer-, Umsatzsteuer-, Vertrags- und Rechtsbehelfsakten vorgelegen, die der Antragsgegner für die Antragstellerin unter der Steuer-Nr. … führt.

II.

1. Der Antrag ist zulässig.

Die Zugangsvoraussetzung des § 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 FGO liegt vor.

Nach Aktenlage hat die Antragstellerin zwar bisher beim Antragsgegner keinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt (vgl. § 69 Abs. 4 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 FGO), jedoch hat der erkennende Senat auch ohne entsprechenden Vortrag der Antragstellerin keinen Zweifel daran, dass ca. ein Jahr nach Fälligkeit der streitbefangenen Steuer i.S. des § 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 FGO die Vollstreckung droht. Denn der Antragsgegner hat nichts Gegenteiliges vorgetragen. Anhaltspunkte für eine dauernde Einstellung der Vollstreckung oder einen im Zeitpunkt der Antragstellung eingeräumten Vollstreckungsaufschub oder eine im Zeitpunkt der Antragstellung eingeräumte Stundung sind nicht erkennbar.

2. Der Antrag ist begründet.

Es bestehen i.S. des § 69 Abs. 3 FGO ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids.

a) Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise aussetzen. Die Aussetzung soll u.a. erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen (§ 69 Abs. 3 Satz 1 i.V. mit Abs. 2 Satz 2 FGO). Ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen bereits dann vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheides neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher
Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung seit dem Beschluss des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 10.02.1967 – III B 9/66, Bundessteuerblatt –BStBl.– III 1967, 182; Beschluss vom 21.07.2016 – V B 37/16, BStBl. II 2017, 28). Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im Verfahren nach § 69 Abs. 3 FGO gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt (BFH, Beschluss vom 24.05.2016 – V B 123/15, BFH/NV 2016, 1253 m.w.N.). Zur Gewährung der Aussetzung der Vollziehung ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen (BFH, Beschlüsse vom 07.09.2011 – I B 157/10, BStBl. II 2012, 590; vom 24.05.2016 – V B 123/15, BFH/NV 2016, 1253). Wie im Hauptsacheverfahren gelten auch im Verfahren nach § 69 Abs. 3 FGO grundsätzlich die Regeln über die objektive Feststellungslast mit der Folge, dass die Beteiligten entscheidungserhebliche Einwendungen im Rahmen ihrer Mitwirkungspflichten darlegen und ggf. glaubhaft machen müssen (BFH, Beschlüsse vom 26.08.2004 – V B 243/03, BFH/NV 2005, 255; vom 27.11.2009 – II B 75/09, BFH/NV 2010, 692). Dabei können nur präsente Beweismittel (im Wesentlichen: Urkunden oder Kopien davon und eidesstattliche Versicherungen) berücksichtigt werden (BFH, Beschluss vom 07.10.2004 – VII B 46/04, BFH/NV 2005, 827; Gräber/Stapperfend, FGO, 9. Aufl. 2019, § 69 Rn. 196 m.w.N.).

b) Ausgehend von diesen Kriterien bestehen ernstliche Zweifel daran, dass der Antragsgegner befugt war, aufgrund der Auswertung des ihm vom FA E… übersandten Kontrollmaterials die angefochtene Umsatzsteuerfestsetzung zu erlassen. Es erscheint ernstlich zweifelhaft, dass die Übersendung der Kontrollmitteilungen an den Antragsgegner verfahrensrechtlich zulässig war und dass ohne dieses Kontrollmaterial und dessen Fernwirkungen Anlass bestand, die streitbefangene Festsetzung vorzunehmen.

aa) Das Gericht sieht es als glaubhaft an, dass das Kontrollmaterial im Rahmen einer Betriebsprüfung bei der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin durch das FA E… gewonnen wurde. Dies wird dadurch bestätigt, dass die auf der Kontrollmitteilung angegebene Steuer-Nr. mit der auf dem Briefbogen der Prozessbevollmächtigten identisch ist und das Geschäftszeichen auf die in Betriebsprüfungsstellen verwendeten Organisationsmittel „Auftragsbuch“ (AB) und „Prüfungsgeschäftsplan“ (PGPL) hinweist. Schließlich hat die Erstellerin der Kontrollmitteilungen angegeben, die beigefügten Unterlagen von der Prozessbevollmächtigten erhalten zu haben.

bb) Rechtsfehlerhaft erscheint noch nicht die Tatsache, dass eine eingetragene Partnerschaft, die eine Rechtsanwaltskanzlei betreibt, nach Aktenlage einer Außenprüfung unterzogen wurde (vgl. BFH, Urteil vom 08.04.2008 – VIII R 61/06, BStBl. II 2009, 579) und dabei auch die Belege zu Fremdgeldkonten gesichtet wurden. Vorlageverweigerungsrechte aus § 104 Abs. 1 Abgabenordnung –AO– bestehen zwar auch in der beim Berufsgeheimnisträger (Rechtsanwalt, Steuerberater usw.) selbst stattfindenden Außenprüfung, jedoch kann das Finanzamt grundsätzlich die Vorlage der zur Prüfung erforderlich erscheinenden Unterlagen in neutralisierter Form verlangen (BFH, Urteil vom 28.10.2009 – VIII R 78/05, BStBl. II 2010, 455). Gegen weitergehende Anforderungen einer Betriebsprüferin könnte sich der Berufsträger mit den dagegen zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen (Einspruch, Antrag auf Aussetzung der Vollziehung, ggf. Klage) wenden. Wenn der Berufsträger gleichwohl der Prüferin Unterlagen, in deren Besitz er im Rahmen der Mandatsbearbeitung gelangt ist bzw. die in diesem Rahmen entstanden sind, in nicht neutralisierter Form überlässt, ist darin kein Rechtsfehler der Prüferin zu sehen. Anhaltspunkte dafür, dass die Prüferin in anderer Weise als durch Aushändigung durch die Prozessbevollmächtigte auf ein Vorlageverlangen i.S. des § 200 Abs. 1 Satz 2 AO Zugang zu den mit den Kontrollmitteilungen in Kopie übersandten Unterlagen erlangt hat, sind nach Aktenlage nicht erkennbar.

cc) Ernstliche Zweifel bestehen jedoch daran, dass die Prüferin im Streitfall rechtmäßig handelte, als sie dem Antragsgegner Kopien von den ihr vorgelegten, die Antragstellerin betreffenden Belegen überließ.

(1) Grundsätzlich durfte der Antragsgegner zwar nach § 194 Abs. 3 AO die bei der Prozessbevollmächtigten festgestellten Verhältnisse der Antragstellerin auswerten, da dies für die Besteuerung der Antragstellerin von Bedeutung war. Ob dies jedoch auch dann gilt, wenn die Feststellungen auf Unterlagen beruhen, für die dem Grunde nach Vorlageverweigerungsrechte aus § 104 Abs. 1 AO bestehen, ist umstritten. In der Literatur überwiegen wohl die Stimmen, die die Frage verneinen (vgl. die Nachweise bei Klein/Rüsken, AO, 15. Aufl. 2020, § 194 Rn. 60; Koenig/Intemann, AO, 4. Aufl. 2021, § 194 Rn. 61; Hannig in Pfirrmann/Rosenke/Wagner, BeckOK AO, Stand: 19. Edition 01.01.2022, § 194 Rn. 118 f.; offen gelassen von BFH, Urteil vom 08.04.2008 – VIII R 61/06, BStBl. II 2009, 579).

(2) Nach Aktenlage übersandte die Prüferin dem Antragsgegner jedoch unter Verletzung des aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz –GG– abgeleiteten Rechts auf effektiven Rechtsschutz der Antragstellerin und/oder deren Prozessbevollmächtigter ankündigungslos die Kontrollmitteilungen.

(a) Der Prozessbevollmächtigten stand nicht die Möglichkeit offen, durch eine vorbeugende Unterlassungsklage nach Anordnung der Betriebsprüfung auszuschließen, dass das FA E… aus nach § 104 Abs. 1 AO geschützten Unterlagen Informationen für Kontrollmitteilungen entnahm und diese an die zuständigen Finanzämter übersandte (BFH, Urteil vom 08.04.2008 – VIII R 61/06, BStBl. II 2009, 579 unter II. 7.). In dieser Entscheidung hat der BFH das Rechtsschutzbedürfnis für eine solche vorbeugende Unterlassungsklage verneint, weil die Finanzbehörde im Einzelfall im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung über die Anfertigung von Kontrollmitteilungen entscheiden und den Steuerpflichtigen (Berufsträger) rechtzeitig von einer entsprechenden Absicht informieren müsse. Dem Steuerpflichtigen werde dadurch die Möglichkeit eröffnet, sich mit den gesetzlich eingeräumten Rechtsbehelfen im konkreten Fall gegen die Umsetzung zur Wehr zu setzen (BFH, Urteil vom 08.04.2008 – VIII R 61/06, BStBl. II 2009, 579 unter II. 3. a.E., 7.). Ungeachtet der daran in der Literatur geäußerten Kritik (Klein/Rüsken, AO, 15. Aufl. 2020, § 194 Rn. 65) durfte sich die Prozessbevollmächtigte darauf verlassen, dass die bei ihr tätige Prüferin sie von der Absicht, die im Streitfall dem Antragsgegner zugegangenen Kontrollmitteilungen übersenden zu wollen, vorab in Kenntnis setzen würde. Denn mit der Veröffentlichung des Urteils vom 08.04.2008 – VIII R 61/06 in BStBl. II 2009, 579 hat das Bundesfinanzministerium –BMF– die Länder angewiesen, dieses Urteil anzuwenden (vgl. https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Steuern/anwendung-neuer-bfh-entscheidungen.html, abgerufen am 30.03.2022). Diese Anweisung wird in Ziff. 7. zu § 194 im Anwendungserlass zur AO –AEAO– wiederholt. Das Ermessen der Betriebsprüferin war damit entsprechend eingeschränkt.

(b) Anhaltspunkte dafür, dass die Prüferin des FA E… die Prozessbevollmächtigte entsprechend der für sie bestehenden Weisungslage über ihre Absicht, die im Streitfall dem Antragsgegner zugegangenen Kontrollmitteilungen übersenden zu wollen, vorab in Kenntnis gesetzt hatte, bestehen nicht. Den Vortrag von Antragstellerseite im Verwaltungsverfahren, dass die Festsetzung nicht nachvollzogen werden könne, dass Akteneinsicht beantragt werde, um zu ermitteln, ob die Behörde vertrauliche Daten in der Kanzlei widerrechtlich entfernt habe, um sie gegen Mandanten einzusetzen, versteht das Gericht dahingehend, dass dies nicht geschehen ist. Der Antragsgegner, der sich zur Frage des Verwertungsverbots sowohl im Verwaltungs- als auch im Gerichtsverfahren vollständig in Schweigen gehüllt hat, ist dem nicht entgegengetreten. Daher geht das Gericht insoweit von der Darstellung der Antragstellerin aus. Im Übrigen dürfte der Antragsgegner für das Gegenteil darlegungs- und feststellungsbelastet sein.

(c) Unter diesen Umständen geht das Gericht davon aus, dass die Rechtsprechung, nach der Kontrollmitteilungen ausgewertet werden dürfen, wenn zwar einerseits ihre Erstellung gegen gesetzliche Verpflichtungen verstieß, andererseits sich der eigentlich betroffene Steuerpflichtige nicht gegen diese Maßnahmen gewehrt hat (BFH, Urteil vom 04.10.2006 – VIII R 53/04, BStBl. II 2007, 227 unter II. 1. d), nicht anwendbar ist. Denn weder die Antragstellerin selbst, noch ihre Prozessbevollmächtigte hatte nach Aktenlage die faktische Möglichkeit, um Rechtsschutz gegen die Erstellung und Übersendung der Kontrollmitteilungen nachzusuchen.

dd) (1) Aus Vorstehendem folgt, dass die dem Antragsgegner zugegangenen Kontrollmitteilungen, die unter Verletzung eines Ermittlungsverbots ermittelt worden sind, nicht verwertet werden dürfen. Denn unmittelbar auf rechtswidrige Weise verschaffte Tatsachenerkenntnisse oder Beweismittel dürfen nicht verwertet werden (vgl. BFH, Urteil vom 04.10.2006 – VIII R 53/04, BStBl. II 2007, 227 unter II. 4. b dd). Dies gilt jedenfalls bei einem qualifizierten materiellen Verwertungsverbot, also wenn die Ermittlung der Tatsachen einen verfassungsrechtlich geschützten Bereich des Steuerpflichtigen verletzen (vgl. BFH, Urteil vom 04.10.2006 – VIII R 53/04, BStBl. II 2007, 227 unter II. 4. b aa). Auf die Erwägungen zur Unbeachtlichkeit rein verfahrensrechtlicher Verwertungsverbote bei erstmaligen Festsetzungen (vgl. BFH, Urteil vom 04.10.2006 – VIII R 53/04, BStBl. II 2007, 227 unter II. 4. b bb) kommt es dann nicht an.

(2) Um ein solches materielles Verwertungsverbot handelt es sich im Streitfall. Die Verweigerungsrechte nach den §§ 102, 104 AO stehen im Zusammenhang u.a. mit der nach § 203 Strafgesetzbuch –StGB– sanktionierten Verschwiegenheitspflicht (vgl. z.B. Kobor in
Pfirrmann/Rosenke/Wagner, BeckOK AO, Stand: 19. Edition 01.01.2022, § 102 Rn. 1), die wiederum dem Schutz des durch Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten allgemeinen Persönlichkeitsrechts in der besonderen Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung dient (Eisele in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 203 Rn. 3; Ciernak/Niehaus in Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2021, § 203 Rn. 7 f.). Bei Rechtsanwälten dürfte zudem das aus dem Grundrecht gemäß Art. 19 Abs. 4 GG (vgl. Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 12 m.w.N.) folgende Recht auf effektiven Rechtsschutz betroffen sein. Der Mandant, der effektiven Rechtsschutz nachsuchen will, unterliegt einem faktischen Offenbarungszwang gegenüber seinem Bevollmächtigten. Der Umstand, dass er dadurch zwangsläufig einen „Mitwisser“ bei Tatsachen hat, die der Mandant möglicherweise geheim halten will, soll ihn nicht davon abhalten, effektiv Rechtsschutz zu suchen, weil er davon ausgehen kann, dass der bevollmächtigte Rechtsanwalt sein Wissen nur mit dem Einverständnis des Mandanten preisgibt (vgl. Ciernak/Niehaus in Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2021, § 203 Rn. 8). Das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG steht nach Art. 19 Abs. 3 GG auch Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften, soweit deren Teilrechtsfähigkeit reicht, zu (Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 19 Rn. 60, 64, 85 m.w.N.).

Dem kann nach summarischer Prüfung nicht entgegengehalten werden, dass es Sache des Berufsträgers sei, nur neutralisierte Unterlagen zur Prüfung vorzulegen (in diesem Sinne wohl Klein/Rüsken, AO, 15. Aufl. 2020, § 194 Rn. 60). Einerseits ist eine umfassende Neutralisierung von Kanzleiunterlagen über mehrere Veranlagungszeiträume und alle Geschäftsvorfälle kaum praktikabel, schon, weil danach eine Nachverfolgbarkeit von Geschäftsvorfällen wohl nur noch eingeschränkt möglich sein dürfte. Andererseits droht den Berufsträgern bei einer Neutralisierung, dass von der Betriebsprüfung u.a. nach § 160 AO der Betriebsausgabenabzug versagt oder umsatzsteuerlich Rechnungen als nicht ordnungsgemäß i.S. des § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG angesehen werden. Die letztgenannten Konsequenzen (die wohl Klein/Rüsken, AO, 15. Aufl. 2020, § 194 Rn. 60 ziehen will), stehen nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des BFH, die einerseits auf eine effektive Sachverhaltsermittlung der Finanzbehörden zwecks Festsetzung der zutreffenden (also auch: nicht zu hohen) Steuer bei den Berufsträgern und andererseits auf die Wahrung der strafbewehrten Verschwiegenheitspflicht ausgerichtet ist (vgl. z.B. BFH, Urteile vom 26.02.2004 – IV R 50/01, BStBl. II 2004, 502; vom 08.04.2008 – VIII R 61/06, BStBl. II 2009, 579; vom 28.10.2009 – VIII R 78/05, BStBl. II 2010, 455). Eine abschließende Entscheidung des BFH zu diesem Problemkreis steht aus, so dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids begründet sind.

Das Gericht lässt sich auch von der Überlegung leiten, dass der Umstand, dass die Prüferin nach summarischer Prüfung die Prozessbevollmächtigte nicht über die beabsichtigten Kontrollmitteilungen informiert hat, kein bloßer verfahrensrechtlicher Fehler ist. Denn ausgehend von der oben dargestellten Rechtsprechung des BFH hat die Prüferin damit der Prozessbevollmächtigten die Möglichkeit genommen, sich effektiv um Rechtsschutz gegen dieses Vorgehen zu bemühen und dabei die höchstrichterlich nicht entschiedene Frage klären zu lassen, ob und ggf. unter welchen Umständen Kontrollmitteilungen über Verhältnisse, die sich aus dem Grunde nach aus § 104 Abs. 1 AO geschützten Unterlagen ergeben, versandt werden dürfen. Insoweit ist also das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG betroffen, ebenso – jedenfalls mittelbar – das durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht der Antragstellerin.

Dementsprechend ist auch das erkennende Gericht gehindert, die vom FA E… übersandten Unterlagen für die Sachprüfung zugrunde zu legen.

ee) Aus dem übrigen Akteninhalt ergibt sich nichts, was in verwertbarer Weise geeignet wäre, die vom Antragsgegner vorgenommene Festsetzung zu rechtfertigen. Dies gilt auch für den Vortrag, den die Antragstellerin zu den Geschäftsvorfällen, die sich aus den vom FA E… übersandten Unterlagen ablesen lassen, in das Verfahren eingeführt hat.

(1) Denn bei durch qualifizierte Grundrechtsverstöße oder anderweitig schwerwiegende Verfahrensverstöße erlangten Erkenntnismitteln wird eine Fernwirkung auch bezüglich bloß mittelbar – isoliert betrachtet rechtmäßig – erlangter Beweismittel bejaht, weil anderenfalls die zur Wahrung verfassungsrechtlich geschützter Positionen notwendigen Verwertungsverbote ausgehöhlt werden könnten (vgl. BFH, Urteile vom 04.10.2006 – VIII R 53/04, BStBl. II 2007, 227, unter II. 4. b dd; vom 04.12.2012 – VIII R 5/10, BStBl. II 2014, 220; vom 29.08.2017 – VIII R 17/13, BStBl. II 2018, 408, Rn. 48).

(2) Bei der gebotenen summarischen Prüfung ist auch die durch die rechtswidrig erlangten Feststellungen provozierte Einlassung der Antragstellerin von der Fernwirkung des Beweisverwertungsverbots erfasst. Es ist zwar zu erwägen, ob die Einlassungen der anwaltlich vertretenen Antragstellerin für die Sachprüfung verwendbar sind, weil sich die Antragstellerin auf die Rüge der Unverwertbarkeit der Kontrollmitteilungen hätte beschränken können. Angesichts der – wie dargestellt – höchstrichterlich ungeklärten Rechtslage war ihr dies jedoch im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes nicht zuzumuten. Jedenfalls ist höchstrichterlich nicht geklärt, was die Fernwirkungen rechtswidrig übersandter Kontrollmitteilungen sind.

(3) Der übrige Akteninhalt gibt keinen Anlass, eine Schätzung von positiver Umsatzsteuer vorzunehmen.

Der Antragsgegner hat nach Aktenlage abgesehen von der hier streitigen Festsetzung keine weitere (auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen beruhende) Festsetzung von Steuern vorgenommen, vielmehr im Streitjahr ein Löschungsverfahren beim Handelsregister betrieben, was ebenfalls darauf hindeutet, dass er in der Antragstellerin eine wirtschaftlich inaktive Gesellschaft gesehen hat. Der daraufhin erfolgte Vortrag seitens der Antragstellerin im registerrechtlichen Verfahren („Verwaltung“ einer aus der früheren aktiven Geschäftstätigkeit herrührenden Versicherung) deutet ebenfalls nicht auf eine aktive Geschäftstätigkeit hin. Der Umstand, dass die Antragstellerin sich vor dem Amtsgericht durch einen Rechtsanwalt vertreten ließ, lässt es zwar als möglich erscheinen, dass ihr Vorsteuer in Rechnung gestellt wurde, jedoch wäre diese nicht abzugsfähig, wenn die Antragstellerin keiner unternehmerischen Tätigkeit nachgegangen wäre. Anhaltspunkte für eine solche unternehmerische Tätigkeit lassen sich den vorliegenden Akten, wenn man die Kontrollmitteilungen und den darauf in der Sache erfolgten Vortrag der Antragstellerin wegdenkt, nicht entnehmen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

4. Das Gericht hat die Beschwerde gemäß § 128 Abs. 3 FGO i.V. mit § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen, da es die Maßstäbe für die Sachentscheidung auch für eine Entscheidung mit summarischem Charakter nicht als höchstrichterlich geklärt ansieht.