Gericht | VG Cottbus 5. Kammer | Entscheidungsdatum | 14.01.2022 | |
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Aktenzeichen | 5 K 1985/16.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2022:0114.5K1985.16.A.00 | |
Dokumententyp | Gerichtsbescheid | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 20. Januar 2017 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Der somalische Kläger beantrage am 25. November 2013 in Deutschland Asyl. Den Antrag begründete er damit, von Seiten der Familie seiner somalischen Ehefrau (U...) bedroht zu sein. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 20. Januar 2017 ab. Am 10. Juli 2021 wurde in Deutschland das Kind N... geboren. Mit Zustimmung der Kindsmutter (U...) erkannte der Kläger die Vaterschaft für das Kind an und gab eine Erklärung über eine gemeinsame Sorge ab. Mit Bescheid vom 26. Oktober 2021 erkannte die Beklagte dem Kind die Flüchtlingseigenschaft zu.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 20. Januar 2017 zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte bittet um Klageabweisung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen. Sämtliche Akten waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Die Klage ist begründet.
Der Kläger hat Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz.
Die Voraussetzungen des § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG sind erfüllt. Der Kläger ist zumindest aufgrund Art. 19 Abs. 1 EGBGB i.V.m. §§ 1592 Nr. 2, 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB sorgeberechtigter Vater einer minderjährigen Tochter, der bei gleichzeitigem Fehlen von Rücknahme- oder Widerrufsgründen die Flüchtlingseigenschaft bestandskräftig zuerkannt ist. Der Kläger ist vor dieser Zuerkennung nach Deutschland eingereist. Ausschlussgründe liegen in seiner Person nicht vor.
Unschädlich ist, dass die den Schutzanspruch vermittelnde Tochter erst im Bundegebiet nachgeboren wurde. Es reicht aus, dass – wie hier - jedenfalls die (Rest-)Familie (hier in Gestalt der ehelichen Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau (=Kindsmutter)) bereits im Verfolgerstaat bestand. Insbesondere sind nach dem insoweit maßgeblichen (vgl. Art. 12 GFK, Art. 13 Abs. 1 EGBGB, BeckOK AuslR/Günther, 31. Ed. 1.10.2021, AsylG § 26 Rn. 8) somalischen Recht Imamehen – wie hier - staatlich anerkannt. Nach Art. 5 Ziffer 2 des somalischen Personalstatutgesetz kann die Ehe auch vor einer Person geschlossen werden, die vertiefte Kenntnisse des islamischen Rechts besitzt (zit. nach Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, 98. Lieferung, Somalia). Anhaltspunkte dafür, dass die Ehe nicht durch die dafür aufgrund Art. 5 Ziffer 6 Personalstatutgesetz verantwortliche Person, nämlich die Person, die die Ehe vollzogen hat, zur Registrierung gebracht wurde, fehlen. Ein Registereintrag wird durch die vom Kläger vorgelegte Eheschließungsurkunde bestätigt.
Dass auch außerhalb des Herkunftsstaates nachgeborene Kinder Familienflüchtlingsschutz vermitteln können, ist eine in Rechtsprechung und Literatur verbreitete Ansicht (VG Freiburg, Urteil vom 27. August 2020 – A 10 K 8179/17 –, Rn. 25, juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 19. Mai 2017 - A 3 K 3301/16 -, juris, Rn. 25 f.; VG Stuttgart, Urteil vom 11. März 2019 - A 17 K 9210/17 -, juris, S. 5; VG Dresden, Urteil vom 26. Juli 2019 - 11 K 3416/17.A -, juris, Rn. 22 ff.; Schröder, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 26 AsylG, Rn. 28; Günther, in: BeckOK Ausländerrecht, 26. Edition [Stand März 2020], § 26 AsylG, Rn. 23b; Broscheidt, ZAR 2019, 174 <176 ff.>; a.A. Bayerischer VGH, Urteil vom 5. September 2019 - 21 B 16. 31043 -, juris, Rn. 27; VG Würzburg, Urteil vom 29. August 2017 - W 4 K 17.31679 -, juris, Rn. 15 f.; Epple, in: GK-AsylG, § 26 AsylG [124. EL Dezember 2019], Rn. 63), der der Einzelrichter folgt.
Dabei ist angesichts des auslegungsfähigen Wortlauts des § 26 Abs. 3 Nr. 2 AsylG vor Allem auf Sinn und Zweck des Familienasyls abzustellen.
Hierzu hat das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 17. November 2020 – 1 C 8/19 –, BVerwGE 170, 326-338, Rn. 24 ff.) ausgeführt:
„Das Institut des Familienasyls wurde in der Bundesrepublik Deutschland richterrechtlich begründet. Eine gesetzliche Vorschrift, die den asylrechtlichen Status des Stammberechtigten auf dessen Ehegatten und Kinder erstreckte, fand sich zunächst nicht (BVerwG, Urteil vom 29. April 1971 - 1 C 42.67 - BVerwGE 38, 87 <88>). Dass in der Praxis der Anerkennungsbehörden und Verwaltungsgerichte in gewissem Umfang auch Angehörigen des Flüchtlings, vor allem der Ehefrau und den abhängigen minderjährigen Kindern, der Status des ausländischen Flüchtlings zuerkannt wurde, gründete in dem Gedanken des Familienschutzes, der sich im nationalen und internationalen Recht durchzusetzen begann, und in der Erfahrung, dass vielfach diejenigen, die von einem Flüchtling abhängig sind, im Verfolgungsland ebenfalls Verfolgungen, zumindest aber schweren Beeinträchtigungen ausgesetzt sind, insbesondere dann, wenn in dem Land ein totalitäres System herrscht (BVerwG, Urteil vom 1. Juni 1965 - 1 C 5.62 - Buchholz 402.22 Art. 1 GK Nr. 14 S. 8). Politische Verfolgung einzelner Mitglieder einer Familie ist oftmals durch die übergreifenden mittelbaren Wirkungen der Verfolgungsmaßnahme und den häufig alle Familienmitglieder einschließenden Verfolgungsgrund gekennzeichnet. Die Verfolgungsmaßnahme wirkt kraft der gegenseitigen Abhängigkeit sehr oft in die persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen der Familienmitglieder hinein. Eine solche mittelbare Wirkung einer gegen einen anderen gerichteten Verfolgungsmaßnahme kann zur Verfolgungsmaßnahme auch gegen den Drittbetroffenen werden (BVerwG, Urteil vom 27. April 1982 - 9 C 239.80 - BVerwGE 65, 244 <249 f.>). Bei der prognostischen Einschätzung der dem Ehegatten oder den minderjährigen Kindern eines politisch Verfolgten drohenden Verfolgung wurde von einer Regelvermutung des Inhalts ausgegangen, dass immer dann, wenn Fälle festgestellt worden sind, in denen ein Staat Repressalien gegen die Ehefrau oder die (minderjährigen) Kinder im Zusammenhang mit der politischen Verfolgung des Ehemannes oder Vaters ergriffen hat, auch der Ehefrau oder den Kindern, über deren Asylanspruch im konkreten Fall zu entscheiden ist, das gleiche Schicksal mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (BVerwG, Urteil vom 2. Juli 1985 - 9 C 35.84 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 34 S. 101).
Mit Art. 3 des Gesetzes zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl. I S. 1354) schuf der Gesetzgeber in § 7a Abs. 3 AsylVfG a.F. erstmals eine gesetzliche Grundlage für das Familienasyl. Die Regelung zielte auf die "Entlastung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und der Verwaltungsgerichtsbarkeit, da sie die Möglichkeit eröffnet[e], von einer u.U. schwierigen Prüfung eigener Verfolgungsgründe der Familienangehörigen eines Asylberechtigten abzusehen". Sie wurde zudem als "sozial gerechtfertigt", weil der "Integration der nahen Familienangehörigen der in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigte aufgenommenen politisch Verfolgten" förderlich erachtet (BT-Drs. 11/6960 S. 29 f.). An dieser auf der gesetzlichen Vermutung einer Verfolgung basierenden Konzeption des Familienasyls hielt der Gesetzgeber im Zuge der Neufassung des Asylverfahrensgesetzes durch Art. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens vom 26. Juni 1992 (BGBl. I S. 1126) und der Schaffung des § 26 AsylVfG im Grundsatz fest (BT-Drs. 12/2718 S. 60). Mit der Zuerkennung von Familienabschiebungsschutz für enge Familienangehörige von Flüchtlingen, die (nur) nach § 60 Abs. 1 AufenthG anerkannt waren, durch Art. 3 Nr. 17 Buchst. d des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) stärkte er den in Art. 6 Abs. 1 GG verankerten und dem internationalen Flüchtlingsschutz immanenten Gedanken der Familieneinheit und berücksichtigte er das Interesse an einem einheitlichen Rechtsstatus innerhalb einer Familie (BT-Drs. 15/420 S. 109; vgl. ferner BR-Drs. 22/03 S. 260 f.).
Die Neufassung des § 26 AsylG durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474) diente der Umsetzung des Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie in nationales Recht. Zusätzlich zu den im nationalen Recht bewährten Schutzformen des Familienasyls und des Familienflüchtlingsschutzes wurde ein gemeinsamer Status bei subsidiär Geschützten und ihren Familienangehörigen eingeführt. Dies sollte die Rechtsanwendung erleichtern und auch der Tatsache Rechnung tragen, dass bei Familienangehörigen häufig eine vergleichbare Bedrohungslage wie bei dem Stammberechtigten vorliege (BT-Drs. 17/13063 S. 21). § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG zielte darauf, den Familienangehörigen eines Schutzberechtigten zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Familieneinheit und der Wahrung des Minderjährigenschutzes die gleichen Rechte wie dem Stammberechtigten zu vermitteln. Zur Erreichung dieses Zieles beschritt der Gesetzgeber nicht den Weg einer rein aufenthalts- und sozialrechtlichen Umsetzung; stattdessen entschied er sich nicht zuletzt im Interesse einer Verfahrensvereinfachung für eine unionsrechtlich überschießende asylrechtliche Umsetzung der Vorgaben des Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU (BT-Drs. 17/13063 S. 21).“.
Gemessen an diesen Zielsetzungen ist es aber unerheblich, ob das den Flüchtlingsschutz vermittelnde Kind bereits im Verfolgerstaat Teil der Familie war oder erst im Ausland in diese Familie hineingeboren wurde. Den aufgezeigten Aspekten der Verwaltungsvereinfachung, der Integrationsförderung und der Wahrung der Familieneinheit, welch Letztere übrigens gerade die europarechtliche Rechtfertigung für den Familienflüchtlingsschutz bildet (EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2018 - C-652/16 -), ist gleichermaßen und ohne Abstriche Genüge getan, wenn die bestehende Familie erst außerhalb des Verfolgerstaates um das stammberechtigte Mitglieder komplettiert wird. Nichts Anderes gilt für den Gesichtspunkt einer einheitlichen familiären Bedrohungslage. Hat nämlich nach der inneren Rechtfertigung des Familienasyls wegen der Nähe zum Verfolgungsgeschehen der übrige Familienverband an der Bedrohungslage des stammberechtigten Familienmitglieds teil, kommt es angesichts der prognostischen Natur der flüchtlingsschutzrechtlichen Gefahrenprognose maßgeblich darauf an, ob der Familienverband zukünftig (und nicht retrospektiv), also im Fall einer zu unterstellenden (vgl. BVerwG, Urteil vom 04. Juli 2019 – 1 C 45/18 -) zukünftigen gemeinsamen Rückkehr/Reise in den Herkunftsstaat gefährdet sein wird. Für diese zukünftige gemeinschaftliche Gefahrenlage ist es jedoch unerheblich, ob das die Gefahrenlage auslösende stammberechtigte Kind erst im Ausland nachgeboren wurde.
Die Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 154 Abs. 1 VwGO sowie § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Einer Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch bedarf es angesichts der tenorierten Kostenfolge nicht.