Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 1. Senat | Entscheidungsdatum | 08.06.2022 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | OVG 1 B 3/22 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2022:0608.OVG1B3.22.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 81b Alt 2 StPO, § 174 StGB |
Bei einem Risiko- bzw. Neigungsdelikt (hier: sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen gem § 174 StGB) besteht nach kriminalistischer Einschätzung regelmäßig eine hohe potentielle Wiederholungsgefahr. Diese ist nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls nicht auf den häuslichen, rein privaten Bereich beschränkt.
Das Erfordernis einer erkennungsdienstlichen Behandlung entfällt nicht schon deshalb, weil dem Betroffenen ausschließlich sexuelle Handlungen mit Personen innerhalb des „familiären Umfeldes“ vorgeworfen werden, die ihn auch ohne die erhobenen Daten als Täter identifizieren könnten.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 24. November 2021 geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Beschluss ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des aufgrund des Beschlusses zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Kläger wendet sich gegen die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen nach § 81b Alt. 2 Strafprozessordnung (StPO), die der Beklagte mit Bescheid vom 20. August 2019 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 5. Februar 2020 angeordnet hatte, nachdem der Kläger in dem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren (Az. 1250 Js 33118/19) beschuldigt worden war, die 16-jährige Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin über einen längeren Zeitraum wiederholt sexuell missbraucht zu haben.
Das Verwaltungsgericht hat die Anordnung mit dem angegriffenen Urteil aufgehoben. Trotz des dem Kläger gemachten strafrechtlichen Vorwurfs (Verdacht des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen gemäß § 174 StGB) sei dessen erkennungsdienstliche Behandlung nicht notwendig, denn es bestünden keine Anhaltspunkte, dass er, dessen Identität bekannt sei, auch jenseits seines unmittelbaren persönlichen Umfeldes einschlägig straffällig werden könnte. Soweit der Beklagte meine, es könne zukünftig auch zu strafrechtlich relevanten Kontaktaufnahmen zu unbekannte Personen in der Öffentlichkeit bzw. außerhalb des familiären Umfeldes des Klägers kommen, biete die Anlasstat keinen dahingehenden Anhalt. Der Beklagte stütze sich allein darauf, dass es sich bei der Anlasstat um ein Sexualdelikt handele, ohne die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die konkrete Begehungsweise der vorgeworfenen Tat zu berücksichtigen. Das gegen den Kläger geführte Ermittlungsverfahren habe ausschließlich Taten betroffen, die er gegen eine ihm vertraute Person in vertrauter Umgebung verübt haben soll. Die abstrakte Erwägung, dass ein Sexualstraftäter, der im familiären Bereich die Schwelle zur Strafbarkeit überschritten habe, dies auch (erst recht) im außerfamiliären Bereich gegenüber ihm unbekannten Personen tue, beruhe auf einer unzutreffenden Annahme. Denn das - wenngleich in hohem Maße triebhafte, krankhafte und therapiebedürftige - Vorgehen des Klägers gegenüber der Tochter seiner ehemaligen Lebensgefährtin erscheine nicht von zufälliger Natur gewesen zu sein. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger auch jenseits seines unmittelbaren persönlichen Umfeldes entsprechend auffällig geworden sei oder dies werden könne.
Gegen dieses Urteil hat der Senat auf Antrag des Beklagten die Berufung wegen ernstlicher Richtigkeitszweifel (§ 124 Abs. 2Nr. 1 VwGO) mit Beschluss vom 16. Februar 2022 - OVG 1 N 4/22 - zugelassen.
Der Beklagte hat seine Berufung im Wesentlichen damit begründet, dass die erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers geboten sei. Zwar sei die Identität des Klägers im zugrunde liegenden Anlassverfahren bekannt, jedoch sei nach kriminalistischer Erfahrung bei dieser Art von Sexualdelikten regelmäßig von einer besonderen Veranlagung oder Neigung des Täters auszugehen, weshalb eine höhere Rückfallgefahr gegeben sei. Gegen die Einmaligkeit der Anlasstat sprächen insbesondere die vorgeworfenen, mehrfachen Misshandlungen der Geschädigten von Januar bis August 2018. Außerdem solle der Kläger ähnliche Misshandlungen an der Schwester der Geschädigten versucht haben. Bei einem Sexualtäter, der bereits im familiären Bereich die Schwelle zur Strafbarkeit überschritten habe, sei dies auch bzw. erst recht im außerfamiliären Bereich zu erwarten. In diesem Fall sei die Identität des Täters regelmäßig nicht bekannt, weshalb eine erkennungsdienstliche Behandlung notwendig und verhältnismäßig sei. Nach kriminalistischer Erfahrung erscheine bei dem zugrunde liegenden Neigungsdelikt das Vorgehen gegenüber Familienangehörigen zufälliger Natur zu sein. Wenn sich keine Schutzbefohlenen im familiären Umfeld aufhielten, werde der Täter aufgrund seiner Neigung auch in der Öffentlichkeit nach Opfern suchen.
Er beantragt sinngemäß,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 24. November 2021 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt und sich nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang des Beklagten (1 Hefter) verwiesen.
Der Senat kann über die Berufung nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130a Satz 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheiden, weil er das Rechtsmittel einstimmig für begründet hält.
Die zulässig Berufung des Beklagten ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz ist die kriminalistische Einschätzung des Beklagten nicht zu beanstanden, dass der Kläger auch außerhalb des häuslichen Bereichs, in dem seine Identität regelmäßig bekannt sein dürfte, als potentieller Täter eines Sexualdelikts in Betracht kommen kann. Deshalb können die zu erhebenden erkennungsdienstlichen Unterlagen zu seiner Überführung oder Entlastung beitragen.
Das Verwaltungsgericht (S. 8) stützt sich zu Unrecht auf die in Bezug genommene Kommentarstelle (Goers, in: BeckOK StPO, [nunmehr] 42. Edition, Stand: 01.01.2022, Rn. 10). Dort heißt es: „Anhand der Art derartiger Taten (im familiären Kreis) - etwa des gewaltsamen Schüttelns eines Säuglings - lässt sich anders als bspw. im Bereich von Sexualstraftaten, im Bereich von Betäubungsmitteldelikten oder bei typischen Aggressionsdelikten nicht schon alleine und für sich genommen eine besondere Neigung herleiten, welche die Annahme eines damit möglicherweise einhergehenden Kontrollverlustes in der Öffentlichkeit rechtfertigen könnte (OVG Koblenz Urt. v. 24.9.2018 - 7 A 10084/18, BeckRS 2018, 27128 Rn. 35)“ (Unterstreichung d. d. Senat).
Um eine solche, regelmäßig nur im privaten Bereich erwartbare Tat - wie bei dem strafrechtlich relevanten Schütteln eines Säuglings im Fall des Oberverwaltungsgerichts Koblenz (a.a.O.) - handelt es sich hier nicht. Vielmehr ist der Beklagte zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger beschuldigt wurde, ein sog. Risiko- bzw. Neigungsdelikt begangen zu haben, dessen hohe potentielle Wiederholungsgefahr sich nach kriminalistischer Einschätzung sowie angesichts der Zeugenaussagen (VV Bl. 12 ff.) nicht auf den häuslichen, rein privaten Bereich beschränke (ebenso OVG Bautzen, Beschluss vom 27. September 2021 - 6 a 425/20 - juris Rn. 6 m.w.N.; OVG Koblenz, Urteil vom 24. September 2018 - 7 A 10256/18 - juris Rn. 57 und VG Cottbus, Urteil vom 6. Juli 2020 - 3 K 1542/19 - BeckRS 2020, 15765, Rn. 21 ff.). Bei der zugrunde liegenden Anlasstat handelte es sich weder um einen einmaligen, erwartbar nicht wiederholbaren Tatvorwurf noch lag etwa eine Liebesbeziehung mit der angeblich geschädigten Zeugin vor, was die Entscheidung des Verwaltungsgerichts ggf. hätte stützen können.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG).
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.