Gericht | OLG Brandenburg 2. Strafsenat | Entscheidungsdatum | 04.08.2022 | |
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Aktenzeichen | 2 Reha 2/22 | ECLI | ECLI:DE:OLGBB:2022:0804.2REHA2.22.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Auf die Beschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Cottbus – Kammer für Rehabilitierungssachen – vom 3. Juni 2022 geändert und wie folgt neu gefasst:
Das Urteil des Kreisgerichts Finsterwalde vom 26. August 1971 (Az.: 05 S 91/7 [121-83/71]) wird für rechtsstaatswidrig erklärt und aufgehoben, soweit der Betroffene wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten verurteilt und auf eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung erkannt worden ist.
Der Betroffene hat in der Zeit vom 26. August 1971 bis zum 7. August 1972 sowie vom 10. September 1973 bis zum 28. Dezember 1973 zu Unrecht Freiheitsentziehung erlitten.
Der Betroffene hat Anspruch auf Erstattung von 50 % der Kosten des Verfahrens vor dem Kreisgericht Finsterwalde (Az.: 05 S 91/7 [121-83/71]) im Verhältnis von zwei Mark der Deutschen Demokratischen Republik zu einer Deutschen Mark.
Seine weitergehende Beschwerde wird als unbegründet verworfen.
Die notwendigen Auslagen des Betroffenen fallen der Staatskasse zur Last.
I.
Das Kreisgericht Finsterwalde verurteilte den damals 17-jährigen Betroffenen am 26. August 1971 wegen fahrlässiger Herbeiführung eines schweren Verkehrsunfalls (§ 196 Abs. 1 und 2 StGB/DDR) und wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten (§ 249 Abs. 1 StGB/DDR) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Der Betroffene verbüßte in dieser Sache ab dem Tag der Urteilsverkündung zunächst Untersuchungshaft und anschließend – bis zur Aussetzung der restlichen Freiheitsstrafe zur Bewährung durch Beschluss des Kreisgerichts Finsterwalde vom 13. Juli 1972 – Strafhaft bis zum 17. August 1972. Die restliche Freiheitsstrafe wurde – nach Anordnung des erneuten Vollzugs durch Beschluss vom 15. August 1973 – im Zeitraum vom 10. September 1973 bis zum 28. Dezember 1973 vollstreckt.
Das Landgericht Cottbus hat den dieser Verurteilung zugrunde liegenden Rehabilitierungsantrag des Betroffenen durch Beschluss vom 3. Juni 2022 zurückgewiesen. Da es nicht um Straftatbestände gehe, bei denen die Absicht politischer Verfolgung bereits zu vermuten sei, und Strafakten, das betreffende Strafurteil oder andere Unterlagen, die eine Prüfung etwaiger politischer Verfolgung ermöglichen würden, nicht mehr zur Verfügung stünden, sei ein rehabilitierungsfähiger Sachverhalt nicht erwiesen. Auch ein grobes Missverhältnis der erkannten Rechtsfolgen zu den zugrunde liegenden Taten liege nicht vor. Auch für Jugendliche sei die Freiheitsstrafe als Maßnahme der strafrechtlichen Verantwortlichkeit vorgesehen gewesen (§ 69 Abs. 1 StGB/DDR). Die der Strafzumessung zugrunde liegenden konkreten Erwägungen des Kreisgerichts seien mangels vorliegender Unterlagen nicht mehr feststellbar. Es sei daher auch nicht ersichtlich, inwiefern die Folgen des Verkehrsunfalls für den Geschädigten maßgeblich in die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe und deren Dauer eingeflossen seien.
Der Betroffene hat gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, soweit das Landgericht einstimmig und auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft entschieden hat, dass die erkannten Rechtsfolgen nicht im groben Missverhältnis zu der zugrunde liegenden Tat gestanden haben, sowie die weitergehende Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die Beschwerde der Betroffenen ist gemäß § 13 Abs. 1 StrRehaG zulässig und hat in der Sache teilweise Erfolg.
Die Verurteilung durch das Kreisgericht vom 26. August 1971 erweist sich als rechtsstaatswidrig, soweit der Betroffene wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten (§ 249 Abs. 1 StGB/DDR) verurteilt und gegen ihn eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe verhängt wurde. Hinsichtlich der Verurteilung wegen fahrlässiger Herbeiführung eines schweren Verkehrsunfalls unterliegt der Schuldspruch demgegenüber nicht der Aufhebung, weil ein rehabilitierungsfähiger Sachverhalt diesbezüglich nicht vorliegt.
1. Gemäß § 1 Abs. 1 StrRehaG sind die im Beitrittsgebiet ergangenen strafrechtlichen Entscheidungen deutscher Gerichte für rechtsstaatswidrig zu erklären und aufzuheben, soweit sie mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar sind. Verurteilungen nach § 249 StGB/DDR sind dabei anerkanntermaßen nicht schlechthin rechtsstaatswidrig (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 13, Februar 2000 - 2 BvR 2707/93, zit. nach Juris), unterliegen jedoch dann der Aufhebung, wenn die festgestellte Gefährdung der öffentlichen Ordnung nicht eine Intensität erreicht hat, bei der eine strafrechtliche Ahndung unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit rechtsstaatlich noch tragbar ist, weil durch die Nichtarbeit zugleich andere Strafvorschriften erfüllt sind oder Dritte in ihren Rechten in nicht unerheblichem Maße verletzt wurden (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. v. 15. August 1994 - 1 Ws Reha 52/94; Beschl. v. 9. Februar 1995 - 1 Ws Reha 112/94; Beschl. v. 14. März 2006 - 2 Ws Reha 14/05, zit. nach Juris; OLG Thüringen NStZ-RR 2005, 187).
Dies ist hier nicht der Fall.
Auch wenn mangels noch vorhandener Unterlagen die der diesbezüglichen Verurteilung zugrunde liegenden Feststellungen im Einzelnen nicht mehr aufzuklären sind, ergibt sich aus den vom Betroffenen – auch aus Sicht des Landgerichts – glaubhaft und nachvollziehbar dargelegten Ausführungen hinreichend zuverlässig, dass es einen gravierenden Eingriff in Rechte Dritter durch den Betroffenen seinerzeit nicht gegeben haben kann. Insbesondere ist nach seinem plausiblen Vorbringen nicht anzunehmen, dass er als damals 17-jähriger bereits Unterhaltspflichten verletzt haben könnte bzw. offene Mietforderungen oder ähnliche Verbindlichkeiten hatte, die er zu begleichen hatte oder nicht freiwillig geleistete Unterstützungen von Bekannten oder Familienangehörigen in Anspruch nahm. Dass er als Jugendlicher Unterstützung und Unterhalt von seiner Mutter erhalten hat, ist nicht mit einer erheblichen Beeinträchtigung von Rechtsgütern anderer oder der Allgemeinheit verbunden. Die Entgegennahme von materiellen und finanziellen Zuwendungen durch engste Familienangehörige, wie hierdurch die Mutter des Betroffenen, stellen nach rechtsstaatlichen Maßstäben kein strafwürdiges Unrecht dar, weil solche Unterstützungsleistungen dem Kernbereich familiärer Beziehungen immanent sind (vgl. Senat, Beschl. v. 14. März 2006, aaO.).
Allein der Umstand, dass er wie von ihm geschildert wegen häufiger Fehlzeiten seine Lehre für den Beruf des Baufacharbeiters nicht beendet habe und auch in der Folgezeit der ihm obliegenden Arbeit im Lagerbereich eines Bauunternehmens häufig nicht nachgekommen sei, weil ihm die jeweils abverlangte Arbeit körperlich zu schwer gewesen sei, führt nicht dazu, dass die Verurteilung nach § 249 Abs. 1 StGB/DDR nach rechtsstaatlichen Maßstäben Bestand haben kann. Sie ist vielmehr rechtsstaatswidrig und aufzuheben, wenn – wie hier – allein der Umstand der Nichtarbeit als Grundlage für eine strafrechtliche Ahndung bleibt (vgl. Senat, aaO.).
2. Der Schuldspruch wegen fahrlässiger Herbeiführung eines schweren Verkehrsunfalls hat demgegenüber Bestand. Die hierfür maßgeblichen tatbestandlichen Voraussetzungen nach dem Recht der ehemaligen DDR liegen vor, weil der Betroffene unter Zugrundelegung seiner eigenen Angaben eine erhebliche Schädigung der Gesundheit eines anderen Menschen verursacht (§ 196 Abs. 1 StGB/DDR) und hierbei fahrlässig gehandelt hat (§ 196 Abs. 2 StGB/DDR). Er hat hierzu ausgeführt, dass er als Radfahrer einem Motorradfahrer die Vorfahrt genommen habe, als er beim Abbiegen vergessen habe, seine Hand „herauszuhalten“. Der Motorradfahrer sei gestürzt und habe ins Krankenhaus gemusst. Dass eine Verurteilung wegen dieses Tatgeschehens generell rechtsstaatswidrig sein könnte, ist nicht ersichtlich, zumal der zugrunde liegende Sachverhalt auch nach bundesdeutschem Recht als fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) strafbar wäre.
3. Der Aufhebung unterliegt das Urteil ferner insoweit, als das Kreisgericht gegen den Betroffenen eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe verhängt hat, weil diese mit einer unbedingten Freiheitsentziehung verbundene Rechtsfolge angesichts des noch verbleibenden Schuldspruches in einem groben Missverhältnis zu der zu Grunde liegenden Tat steht (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 StrRehaG).
a) Die Beschwerde gegen die einstimmig und auf begründeten Antrag der Staatsanwaltschaft ergangene Entscheidung des Landgerichts ist auch hinsichtlich der zu rehabilitierenden Rechtsfolgenentscheidung zulässig, weil der Senat angesichts des aufgehobenen Schuldspruchs gemäß § 249 Abs. 1 StGB/DDR eine neue Bewertung der Frage eines groben Missverhältnisses der erkannten Rechtsfolge zu treffen hat und ein Fall des § 13 Abs. 2 Nr. 2b StrRehaG insoweit nicht vorliegt.
b) Nach dem Recht der ehemaligen DDR war zwar bei einer fahrlässigen Herbeiführung eines schweren Verkehrsunfalls auch die Verhängung einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren vorgesehen (§ 196 Abs. 2 Satz 1 StGB/DDR) und als "Maßnahme“ auch bei strafrechtlich verantwortlichen Jugendlichen grundsätzlich möglich (§ 69 StGB/DDR). Die Freiheitsstrafe war jedoch die schärfste in Betracht kommende Sanktion gegenüber den sonstigen geregelten Strafen gemäß § 196 Abs. 2 Satz 1 StGB/DDR (Verurteilung auf Bewährung, Geldstrafe, öffentlicher Tadel, ein „zur Verantwortung Ziehen“ durch ein gesellschaftliches Organ der Rechtspflege). Entsprechendes galt auch bei Jugendlichen in dem gemäß § 69 Abs. 1 StGB/DDR abgestuften Sanktionssytem (Beratung und Entscheidung durch ein gesellschaftliches Organ der Rechtspflege, Auferlegung besonderer Pflichten durch das Gericht, Strafen ohne Freiheitsentziehung, Jugendhaft, Einweisung in ein Jugendhaus). Da nach den noch vorhandenen Unterlagen (Strafnachricht, Auszüge aus der Haftkartei u.a.) und den glaubhaften Angaben des Betroffenen nichts dafür spricht, dass er als damals Jugendlicher bereits (erheblich) vorbestraft war und im Übrigen auch der Hergang und die Folgen des Verkehrsunfalls sowie sein zugrundeliegendes Verschulden keinerlei Anhaltspunkte dafür liefern, inwieweit hier die Verhängung der schwerwiegendsten in Betracht kommenden Sanktionsart veranlasst gewesen sein könnte, ist bei der insoweit anzustellenden Abwägung zwischen dem Tatunrecht, das unter Berücksichtigung aller für die Schuldschwere relevanten Umstände zu gewichten ist, und der Schärfe der verhängten Sanktionen die ausgeurteilte Rechtsfolge nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht hinzunehmen. Vielmehr wäre angesichts des als eher gering zu bewertenden Handlungsunrechts der fahrlässig begangenen Tat im Straßenverkehr trotz der schuldhaft verursachten Unfallfolgen auch aus Sicht der Strafjustiz der ehemaligen DDR (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 14. November 2006, - 2 Ws (Reha) 19/06, BeckRS 2007, 602) ersichtlich lediglich auf eine Strafe ohne den Vollzug einer Freiheitsentziehung erkannt worden, wenn der Betroffene nicht zugleich auch wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten verurteilt worden wäre.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den § 6 Abs. 1, § 14 StrRehaG.