Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 9. Senat | Entscheidungsdatum | 30.05.2022 | |
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Aktenzeichen | OVG 9 N 28/21 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2022:0530.OVG9N28.21.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 124 VwGO, § 124a VwGO, § 8 KAG BB |
Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 29. Oktober 2020 wird abgelehnt.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 1... EUR festgesetzt.
I.
Mit seinem am 19. November 2020 verkündeten Urteil hat das Verwaltungsgericht den gegenüber der Klägerin erlassenen Abwasseranschlussbeitragsbescheid vom 7. Oktober 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. April 2012 aufgehoben (Grundstück A...1..., Flur 1..., Flurstück 8..., 7... qm, Beitragssumme 1... Euro).
Ausweislich des Empfangsbekenntnisses seines Prozessbevollmächtigten ist das Urteil dem beklagten Verbandsvorsteher am 12. April 2021 zugegangen. Er hat am 4. Mai 2021 die Zulassung der Berufung beantragt und seinen Zulassungsantrag erstmalig am 14. Juni 2021 (Montag) begründet.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Das fristgerechten Zulassungsvorbringen (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) gibt keinen Anlass zur Zulassung der Berufung.
1. Das fristgerechte Zulassungsvorbringen weckt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
a) Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts hat die rückwirkend auf den 1. Januar 2010 erlassene Abwasserbeitragssatzung vom 11. Januar 2010 die sachliche Beitragspflicht für das Grundstück nicht zur Entstehung bringen können. Dazu sei nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG in der bis zum 1. Februar 2004 geltenden alten Fassung eine bis in die 1990er Jahre zurückwirkende Beitragssatzung erforderlich. § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG a. F. sei vorliegend weiter anwendbar. Der Klägerin stehe gegen die Anwendung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG in der seit dem 1. Februar 2004 geltenden neuen Fassung Vertrauensschutz zu (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 2015 - 1 BvR 2961/14, 1 BvR 3051/14 -, juris). Im Zeitpunkt der Gesetzesänderung (1. Februar 2004) habe eine Beitragspflicht für das Grundstück nach alter Rechtslage bereits nicht mehr zur Entstehung gebracht werden können. Nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG a. F. in der Auslegung des OVG Frankfurt (Oder) (Urteil vom 8. Juni 2000 - 2 D 29/98.NE -, juris, Rn. 43 ff.) erfordere die Begründung sachlicher Beitragspflichten im Falle eines ersten, wegen Satzungsmängeln fehlgeschlagenen Satzungsgebungsversuchs den Erlass einer - wirksamen - Satzung, die sich Rückwirkung auf das formelle Inkrafttretensdatum der ersten, unwirksamen Beitragssatzung beimesse. Eine solche Satzung habe der Zweckverband bis zum 1. Februar 2004 nicht erlassen. Würde er sie bis dahin erlassen haben, so würde noch vor dem 1. Februar 2004 Festsetzungsverjährung eingetreten sein, weil der Zweckverband seine erste, unwirksame Abwasserbeitragssatzung bereits 1993 erlassen und für das Beitragsgrundstück bereits vor dem 1. Januar 2000 die Möglichkeit zum Anschluss an die Zweckverbandsanlage bestanden habe. Eine (rechtlich gesicherte) Anschlussmöglichkeit sei gegeben gewesen, nachdem schon in den 1990er Jahren ein betriebsbereiter Hauptsammler in der A... und eine vom Hauptsammler zum Beitragsgrundstück vorgestreckte Anschlussleitung hergestellt worden sei. Zwar hätten die in den 1990er Jahren erlassenen Abwasserbeseitigungssatzungen und Abwasserbeitragssatzungen das Anschlussrecht und die Entstehung der Anschlussbeitragspflicht nur für solche Grundstücke vorgesehen, die an die betriebsbereite Abwasserentsorgungsanlage angeschlossen werden konnten, wozu auch die (ersten) Grundstücksanschlüsse gehört hätten. Die entsprechenden satzungsrechtlichen Regelungen hätten das Anschlussrecht und die Entstehung der Anschlussbeitragspflicht aber nicht daran geknüpft, dass die Anschlussleitung schon exakt bis an die Grundstücksgrenze herangereicht habe. Vielmehr habe die Möglichkeit ausgereicht, das Grundstück an die bereits fertig gestellte und zum Hauptsammler führende Anschlussleitung anzuschließen. Diese Möglichkeit habe hier bereits in den 1990er Jahren bestanden. Das Beitragsgrundstück habe im Jahr 2015 ohne erhebliche Schwierigkeiten an die öffentliche Anlage angeschlossen werden können, indem auf dem Grundstück ein Revisionsschacht angelegt und dieser über ein kurzes PVC-Verbindungsstück mit der schon in Richtung auf die straßenseitige Grundstücksgrenze vorgestreckten Anschlussleitung in Gestalt eines Steinzeugrohrs verbunden worden sei, wobei nach einer Fotografie alles dafür spreche, dass das Steinzeugrohr die Grundstücksgrenze sogar erreicht habe. Dass der betriebsbereite Hauptsammler in der Straße und die in Richtung Grundstücksgrenze vorgestreckte Anschlussleitung bereits vor dem 1. Januar 2000 hergestellt worden seien, ergebe sich aus den glaubhaften Aussagen der Zeugen S... und S.... Der in der letzten mündlichen Verhandlung gestellten Antrag des Beklagten, (weitere) Zeugen zur Frage zu vernehmen, ob das Steinzeugrohr die Grundstücksgrenze erreicht habe, sei auch deshalb unerheblich, weil eine etwa in den 1990er Jahren nicht gegebene Anschlussmöglichkeit mangels späterer Veränderung der Verhältnisse bedeuten würde, dass auch bei Erlass des Beitragsbescheides (7. Oktober 2011) und des Widerspruchsbescheides (18. April 2012) noch keine Anschlussmöglichkeit bestanden habe und keine Beitragspflicht entstanden sei, so dass der Beitragsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides in jedem Falle rechtswidrig sei. Der im Jahr 2015 erfolgte tatsächliche Anschluss ändere daran nichts.
b) Das hiergegen gerichtete Zulassungsvorbringen greift nicht.
aa) Der Zulassungsantrag macht unter Berufung auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 27. Juni 2019 - III ZR 93/18 -, juris, geltend, § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG a. F. habe entgegen der Auffassung des OVG Frankfurt (Oder) auch für den Fall eines bereits wegen Satzungsmängeln gescheiterten Satzungsgebungsversuchs gerade nicht den Erlass einer wirksamen rückwirkenden Satzung erfordert. Der erkennende Senat folgt dem Bundesgerichtshof indessen nicht (vgl. Urteil vom 12. November 2019 - OVG 9 B 11.19 -, juris, Rn. 19) und ist an dessen Rechtsprechung auch nicht gebunden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 2020 - 1 BvR 908/20 -, juris, Rn. 4).
bb) Der Zulassungsantrag macht geltend, für das Beitragsgrundstück habe in den 1990er Jahren keine satzungsmäßige Anschlussmöglichkeit bestanden, so dass auch im Falle des Erlasses einer wirksamen, bis in das Jahr 1993 zurückwirkenden Satzung vor dem 1. Februar 2004 keine Festsetzungsverjährung eingetreten sein würde. Der Revisionsschacht sei unstrittig erst 2015 errichtet worden. Darüber hinaus habe es in den 1990er Jahren auch keine anschlussfähige Anschlussleitung vom Hauptsammler in der A... bis zur Grenze des Beitragsgrundstücks gegeben. Für eine satzungsmäßige Anschlussmöglichkeit seien indessen eine durchgehende Verbindung vom Hauptsammler bis zur Grundstücksgrenze und das Vorhandensein eines Revisionsschachts erforderlich gewesen. Demgegenüber habe es entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht ausgereicht, wenn "irgendwo" in der Nähe des Beitragsgrundstücks oder auch in der Straße vor dem Beitragsgrundstück ein betriebsbereiter Hauptsammler und ein Stück Anschlusskanal vorhanden gewesen seien, an das das Grundstück technisch ohne Schwierigkeiten habe angeschlossen werden können.
Das greift nicht. Die Satzungsgeber machen die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht tatbestandlich üblicherweise (und zulässig) davon abhängig, dass das Grundstück auf Grund Bau- oder Fachplanungsrechts baulich oder gewerblich nutzbar ist oder ein bereits erfolgter tatsächlicher Anschluss die Vorteilhaftigkeit der Anschlussmöglichkeit indiziert (vgl. Unkel, in: Driehaus, KAG, § 8 Rn. 545, Stand März 2021). Daneben ist für die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG alter und neuer Fassung grundsätzlich nur noch die Anschlussmöglichkeit und das Vorhandensein einer wirksamen Beitragssatzung erforderlich, wobei (wie oben ausgeführt) nach § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG a. F. unter Umständen eine wirksame rückwirkende Beitragssatzung notwendig sein kann. Die Beitragssatzung kann überdies zwar einen späteren Zeitpunkt für die Entstehung der sachlichen Beitragspflicht vorsehen (§ 8 Abs. 7 Satz 2 Halbsatz 2 KAG). Damit ist jedoch nur eine einmalige Verschiebung der Entstehung der sachlichen Beitragspflichten für die bei Inkrafttreten bereits anschließbaren Grundstücke gemeint, mit der die Vorbereitung eines geordneten Erhebungsverfahrens ermöglicht werden soll; weitere Spielräume für Regelungen zur Entstehung der sachlichen Beitragspflicht werden durch die Bestimmung nicht eröffnet (vgl. Unkel, in: Driehaus, KAG, § 8, Rn. 572, Stand März 2020). Im Übrigen kann der Satzungsgeber den Zeitpunkt der Entstehung der sachlichen Beitragspflicht nur noch mittelbar verschieben, und zwar dadurch, dass er schon das Bestehen eines Anschlussrechts in der Abwasserbeseitigungssatzung an bestimmte Voraussetzungen knüpft, insbesondere an das Vorhandensein nicht nur eines betriebsbereiten Hauptsammlers vor dem Grundstück, sondern auch an das Vorhandensein eines Grundstücksanschlusses im Sinne einer Verbindung zwischen Hauptsammler und Grundstücksgrenze einschließlich Revisionsschachts (vgl. OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 28. Juni 2017 - OVG 9 S 14.16 -, juris, Rn. 22; Kluge, in: Becker u. a., KAG Bbg, § 10, Rn. 28, Stand Oktober 2021).
Ob solche Regelungen hier in den 1990er Jahren bestanden haben und ob gleichwohl eine Anschlussmöglichkeit bestand, weil sich aus übergeordnetem Recht ein Anspruch darauf ergab, im Bedarfsfalle den in Teilen bereits erstellten Grundstücksanschluss auf Zuruf ganz fertigzustellen, kann indessen offen bleiben. Wenn in den 1990er Jahren in Ansehung der Regelungen der Abwasserbeseitigungssatzung und der tatsächlichen Verhältnisse kein Anschlussrecht und damit auch keine dauerhaft gesicherte Anschlussmöglichkeit bestanden haben sollte, würde zwar kein Vertrauensschutz gegenüber der Anwendung des § 8 Abs. 7 Satz 2 KAG n. F. bestehen. Schon das Verwaltungsgericht hat indessen mit Recht darauf hingewiesen, dass der angegriffene Beitragsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides gleichwohl auch in diesem Falle rechtswidrig wäre. Der Zulassungsantrag gibt selbst an, dass sich jedenfalls bis zur Einreichung der Begründung des Zulassungsantrags inhaltlich nichts an den Regelungen des Zweckverbandes zum Anschlussrecht geändert habe und dass sich bis zum Anschluss des Grundstücks im Jahr 2015 auch nichts an den schon seit den 1990er Jahren gegebenen tatsächlichen Verhältnissen in Bezug auf den Hauptsammler und den "angefangenen" Grundstücksanschluss geändert habe. Sollte danach in den 1990er Jahren kein Anschlussrecht bestanden haben, so kann ein solches Recht auch bei Erlass des Beitragsbescheides (7. Oktober 2011) und des Widerspruchsbescheides (18. April 2012) nicht bestanden haben, mit der Folge, dass der Beitragsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides mangels bereits entstandener sachlicher Beitragspflicht rechtswidrig wäre. Soweit der Zulassungsantrag dem entgegenhält, es greife in diesem Fall eine "Ergebnisrechtsprechung" dahin, dass ein Anspruch der Klägerin auf Bescheidaufhebung deshalb nicht bestehe, weil immerhin seit der Fertigstellung des Grundstücksanschlusses im Jahr 2015 die sachliche Beitragspflicht bestehe, ist dem nicht zu folgen. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach ein Beitragsbescheid im Erschließungsbeitragsrecht nicht der gerichtlichen Aufhebung unterliegt, wenn er im Zeitpunkt der abschließenden mündlichen Verhandlung der letzten Tatsacheninstanz rechtmäßig ist (BVerwG, Urteil vom 25. November 1981 - 8 C 14.81 -, BVerwGE 64, 218 ff.; juris, Leitsatz 1), ist auf das Kommunalabgabenrecht des Landes Brandenburg nicht übertragbar. Der erkennende Senat hat bereits entschieden, dass ein auf der Grundlage des Kommunalabgabengesetzes Brandenburg erlassener Abwasserbeitragsbescheid nicht durch eine wirksame Satzung "geheilt" werden kann, die nicht auf den Bescheiderlass, d. h. wenigstens auf den Erlass des Widerspruchsbescheides zurückwirkt (vgl. Urteil vom 9. September 2009 - OVG 9 B 60.80 -, juris, Rn. 12 ff.). Ebenso wenig kann er durch nachträgliche tatsächliche Veränderungen "geheilt" werden. Abwasserbeitragsbescheide haben die Funktion, bereits entstandene Abgabenpflichten zu konkretisieren (§ 12 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b KAG in Verbindung mit § 155 AO). Überdies kann zwischenzeitlich ein Eigentümerwechsel erfolgt sein.
2. Angesichts des zu 1) Ausgeführten ergibt sich aus dem fristgerechten Zulassungsvorbringen nicht, dass die Rechtssache eine besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeit aufweisen würde (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
3. Aus dem fristgerechten Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, dass die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen wäre (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Die sinngemäß vom Zulassungsantrag angesprochene Frage, ob ein Abwasserbeitragsbescheid durch nachträgliche tatsächliche Veränderungen "geheilt" werden könne, ist, wie unter 1) geschehen, auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens ohne weiteres zu verneinen.
4. Aus dem fristgerechten Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, dass die Berufung wegen Divergenz zuzulassen wäre (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Die vom Zulassungsantrag angesprochene Divergenzentscheidung (BVerwG, Urteil vom 25. November 1981 - 8 C 14.81 -, juris, Rn. 17 ff.) ist zum Erschließungsbeitragsrecht ergangen, also zu anderen Rechtsvorschriften als denen, auf die sich das Verwaltungsgericht gestützt hat.
5. Aus dem fristgerechten Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, dass die Berufung wegen eines Verfahrensfehlers zuzulassen wäre (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO). Der Zulassungsantrag rügt eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht, und zwar in Bezug auf das vom Zulassungsantrag in Abrede gestellten Vorhandenseins eines "satzungsmäßigen" Grundstücksanschlusses einschließlich Revisionsschachts vor dem Jahr 2015. Dabei zeigt der Zulassungsantrag indessen nicht auf, dass die entsprechende Aufklärung auch vom rechtlichen Ansatz des Verwaltungsgerichts her geboten gewesen wäre; insoweit ist daran zu erinnern, dass das Verwaltungsgericht gerade nicht der Ansicht gewesen ist, dass Anschlussbeitragsbescheide durch nachträglich entstandene Tatsachen "geheilt" werden können.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).